STREIT 3/2023
S. 132-134
Alternativbericht CEDAW
bezugnehmend auf den 9. Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der VN zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau (CEDAW),
April 2023 (Auszug)
5. GEWALT GEGEN MÄDCHEN UND FRAUEN
Hilfestrukturen für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen
Bundesweit gibt es kein flächendeckendes Netz an spezialisierten Fachberatungsstellen, um zeitnah Hilfe und Unterstützung erhalten zu können. Daneben existiert kein barrierefreies und mehrsprachiges Netz an Hilfeangeboten auch über die Fachberatungsstellen hinaus (Gesundheitsangebote für Frauen, Spurensicherung, Traumahilfe, ausreichend Therapieplätze, Täterberatung etc.). Zusätzlich fehlen intersektionale, inklusive, regelfinanzierte Maßnahmen im Kontext Gewaltschutz, so dass nicht allen Frauen und deren Kindern Schutz und Unterstützung auf gleichem, qualitativen Niveau ermöglicht wird. Dies betrifft Frauen mit Behinderungen, Frauen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte, wohnungslose Frauen, Frauen mit Suchtgefährdung und Menschen mit diversen geschlechtlichen Identitäten und Körpern, queere Frauen und Mädchen.
In Deutschland sind Länder und Kommunen für den Gewaltschutz und die Einrichtung von Hilfestrukturen zuständig. Es fehlt eine bundesweite Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Die besorgniserregende Zahl an Femiziden wird weitgehend ignoriert.
Die CEDAW-Allianz Deutschland fordert:
eine bundesweit wirksame, intersektional ausgerichtete und ressortübergreifende Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen,
die Einrichtung einer staatlichen Koordinierungsstelle nach Artikel 10 der Istanbul-Konvention,
ein bundesweites, flächendeckendes und ausreichend finanziertes Netz an spezialisierten und barrierefreien Fachberatungsstellen zur zeitnahen Beratung und Unterstützung von gewaltbetroffenen Frauen*, zur Intervention nach einem Polizeieinsatz und bei oder nach sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend,
bundesweite barrierefreie, mehrsprachige, diversitätsorientierte, niedrigschwellige weitere Hilfsangebote, wie z. B. Gesundheitsangebote für Mädchen und Frauen, (anonyme) Spurensicherung und Therapieplätze,
den Begriff „Femizide” anzuerkennen und darauf hinzuwirken, dass Tötungsdelikte an Frauen und Mädchen grundsätzlich schärfer bestraft werden als bisher,
Täterarbeit bundesweit auf- und auszubauen und als ergänzende Maßnahme zum Opferschutz einzubinden.
Fehlende Plätze und fehlender Zugang zu Frauenhäusern
Um allen gewaltbetroffenen Frauen und ihren Kindern effektiven Zugang zu Schutz und Unterstützung zuzusichern, fehlen in Deutschland laut Istanbul-Konvention rund 15.000 Frauenhausplätze. Zu dem katastrophalen Mangel an verfügbaren Plätzen kommen in den meisten Frauenhäusern Hürden durch sozialleistungsabhängige Einzelfallfinanzierung. Sie schließt die Aufnahme von Frauen mit prekärem Aufenthaltsstatus sowie Studentinnen/Auszubildende aus. Frauen mit eigenem Einkommen oder Vermögen müssen für ihren Schutz selbst zahlen. Nur wenige Frauenhäuser sind barrierearm. Frauen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf, mit Assistenz oder Pflegebedarf, Suchtproblemen, Psychiatrieerfahrung, älteren Söhnen und/oder mehreren Kindern, Betroffene von Menschenhandel und Trans-Frauen werden nur selten aufgenommen, weil fast überall bedarfsgerechte Raum- und Personalkapazitäten fehlen.
Die CEDAW-Allianz Deutschland fordert:
eine bundeseinheitliche Finanzierung der Frauenhäuser auf gesetzlicher Grundlage. Zu prüfen sind zwei Modelle: Zum einen eine einzelfallunabhängige Finanzierung als Einrichtung und zum anderen eine Finanzierung von Schutz im Frauenhaus über Leistungsgesetze.
Frauenhäuser müssen bundesweit flächendeckend und bedarfsgerecht bereitgestellt werden. Die Vorgaben der Istanbul-Konvention sind zu berücksichtigen.
Aufenthalts- und asylrechtliche Zugangshürden zu Frauenhäusern unverzüglich zu beseitigen,
die barrierefreie Ausstattung aller Frauenhäuser intensiv zu fördern,
die Verpflichtung von Bund, Ländern und Kommunen sich gemeinsam in den Ausbau und die Sicherung der Finanzierung der Frauenhäuser einzubringen.
Sorge- und Umgangsregelungen bei Gewalt
Die Synchronisierung von Gewaltschutz und Kindschaftsrecht ist weder im Recht noch in der Praxis gelungen. Gewalttaten gegen Frauen* und Kinder und Missbrauchsfälle gegen Kinder werden bei Entscheidungen in Kindschaftsverfahren gegenüber den Rechten der gewalttätigen Person nicht in den Vordergrund gerückt. Beschlüsse nach dem Gewaltschutzgesetz (z. B. Kontakt- und Näherungsverbote) werden durch gleichzeitige Umgangsregelungen konterkariert.
Die CEDAW-Allianz Deutschland fordert:
den Bestrebungen, das gemeinsame Sorgerecht zu stärken, in Fällen häuslicher und sexualisierter Gewalt entgegenzutreten, da eine gemeinsame Sorgerechtsausübung aufgrund des Macht- und Kontrollverhältnisses nicht möglich ist.
in Sorge- und Umgangsverfahren müssen die Regelungsmöglichkeiten der §§ 1626a, 1671 und 1684 BGB genutzt werden, um die gewaltbetroffene Person zu schützen.
bei Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz das Umgangsrecht für die Dauer der Anordnung auszuschließen sowie die Umgänge nach Beendigung des Gewaltschutzes so lange zu begrenzen, bis die gewaltbetroffene Frau die Traumata verarbeitet hat und stabil ist.
alle am Familienverfahren beteiligten Fachkräfte und Richter*innen zu verpflichten sich fortzubilden.
Menschenhandel
Auf Bundesebene sind unterschiedliche Ministerien für unterschiedliche Aspekte des Menschenhandels zuständig. Eine politische Gesamtkoordination, die verschiedene Maßnahmen und Beteiligte miteinander verknüpft, gibt es in Deutschland nicht; ebenso wenig wie einen Aktionsplan, der sich auf alle Formen und Betroffenengruppen des Menschenhandels bezieht. Viele Regelungen, bspw. die Verknüpfung des Aufenthaltsrechts mit der Aussage der Betroffenen von Menschenhandel, zielen hauptsächlich darauf ab, stabile Zeug*innen und verwertbare Aussagen in Strafverfahren zu erhalten, statt Schutz und Zugang zu Rechten zu gewährleisten.
Die CEDAW-Allianz Deutschland fordert:
die Erarbeitung und Umsetzung eines Nationalen Aktionsplans zur Bekämpfung aller Formen des Menschenhandels und zum Schutz aller Betroffenengruppen,
eine politische Koordinierungsstelle auf Bundesebene,
eine ausreichende und langfristige Finanzierung bestehender Beratungsstellen sowie Ausbau des Hilfesystems für Betroffene von Menschenhandel und Ausbeutung,
eine einheitliche Regelung, die von Menschenhandel Betroffenen Zugang zu angemessenen Leistungen ermöglicht,
Ansätze zu entwickeln, um Betroffene (v. a. in schwer zugänglichen Bereichen wie der häuslichen Pflege) besser zu identifizieren und ihnen Zugang zu Schutz und Unterstützung zu ermöglichen,
Fortbildungen zu Menschenhandel in Justiz und Strafverfolgung,
Ausbeutung präventiv entgegenzuwirken durch leichteren Zugang zu regulierten Arbeitsverhältnissen für Migrant*innen.
Digitale Gewalt
Seit Jahren ist ein massiver Anstieg geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt festzustellen. Mädchen und besonders junge Frauen erleben aufgrund ihres Geschlechts verstärkt digitale Gewalt. Eine Erfassung in der Polizeilichen Kriminalstatistik findet bislang bei Delikten über das Kriterium „Tatmittel Internet“ nicht statt.
Die CEDAW-Allianz Deutschland fordert:
eine langfristige und effektive Strategie gegen digitale Gewalt durch Expertise und Zusammenwirken staatlicher und nichtstaatlicher Akteur*innen zu entwickeln,
Polizei und Justiz personell so auszustatten, dass Ermittlung und Strafverfolgung im Bereich digitaler Gewalt gewährleistet sind,
Mitarbeitende in Behörden regelmäßig fortzubilden,
eine angemessene Finanzierung und personelle Ausstattung der Fachberatungsstellen, um Frauen und Mädchen, die von digitaler Gewalt betroffenen sind, zu beraten.
Weibliche Genitalverstümmelung (FGM_C)
In Deutschland ist die Zahl der von weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) bedrohten Mädchen und Frauen stark angestiegen.
Die CEDAW-Allianz Deutschland fordert:
einen Nationalen Aktionsplan gegen FGM,
die systematische Einbeziehung von Weiterbildungsangeboten zu geschlechtsspezifischer Gewalt, einschließlich FGM, in die Aus- und Weiterbildung relevanter Berufsgruppen,
die Kennzeichnung von FGM vor allem Infibulation (Typ III) im Mutterpass, nur mit ausdrücklichem Einverständnis der Frau, für eine bessere Versorgung betroffener Frauen rund um die Geburt,
mehrsprachige und leicht zugängliche Informationen über Hilfsangebote an allen geeigneten Stellen (z. B. Behörden, Arztpraxen, Beratungsstellen, Schulen),
notwendige finanzielle Mittel bereitzustellen, um Projekte gegen FGM zu fördern, sowie Angebote bzw. Anlaufstellen bundesweit zu verbreiten und verbessern,
die Durchführung einer nationalen Sensibilisierungskampagne.
Psychische/emotionale Gewalt
Es gibt im deutschen Strafrecht keinen speziellen Straftatbestand psychische Gewalt.
Die CEDAW-Allianz Deutschland fordert:
gemäß den Anforderungen des Artikels 33 Istanbul-Konvention einen strafrechtlichen Tatbestand durch das Hervorrufen ernsthafter psychischer Beeinträchtigungen einzuführen. Darunter fallen z. B. nicht-körperliche Formen von häuslicher und sexualisierter Gewalt oder die Bedrohung von Opfern des Menschenhandels oder ihrer Angehörigen.
Geflüchtete Frauen
Frauen sind in Gemeinschaftsunterkünften einem erhöhten Gewaltrisiko ausgesetzt. Die Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung bei gewaltbetroffenen geflüchteten Frauen als Asylgrund findet nach Einschätzung der Praxis immer weniger statt. Dies betrifft auch lesbische, inter- und transgeschlechtliche Frauen*. Häufig werden sie als nicht glaubwürdig eingestuft oder es wird auf vermeintliche inländische Fluchtalternativen verwiesen.
Die CEDAW-Allianz Deutschland fordert:
dauerhafte dezentrale Unterbringung, für geflüchtete, besonders vulnerable Personengruppen,
bessere Gewaltschutzkonzepte in den Unterkünften für Gruppen mit erhöhtem wiederholtem Gewaltrisiko, bspw. Frauen* oder Betroffene von Menschenhandel,
Gewaltschutzkoordinator*innen und ein effektives Beschwerdemanagement vor Ort,
besonders vulnerable Gruppen frühzeitig zu identifizieren und vorrangig und schnell in geschützten Räumen unterzubringen,
Frauen* als „soziale Gruppe“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention einzustufen, damit sie im Fall von geschlechtsspezifischer Verfolgung und Gewalt (bspw. Menschenhandel, FGM, Zwangsverheiratung) Schutz finden,
§ 87 Aufenthaltsgesetz zur Übermittlungspflicht abzuschaffen,
ein Diversity Management samt Diversity-Beauftragten in den Institutionen einzurichten bzw. vorhandene Strukturen auszubauen.
Download des ganzen Textes unter:
www.wecf.org/de/publikationen