STREIT 2/2021

S. 67-69

An das BMFSFJ und das HMSI zum Internationalen Tag gegen Genitalverstümmelung

Sehr geehrte Frau Giffey, sehr geehrter Herr Klose, sehr geehrte Damen und Herren,

seit mehr als zwei Jahrzehnten vertreten wir von Genitalverstümmelung betroffene Frauen asyl- und aufenthaltsrechtlich. Mit großem Interesse haben wir deshalb Ihre Presseerklärungen zum Tag gegen Genitalverstümmelung vom 05.02.2021 zur Kenntnis genommen.
Es ist wichtig und gut, dass das Thema FGM zunehmend eine breitere Öffentlichkeit erhält, aus unserer Sicht ist die Berichterstattung jedoch sehr eindimensional. Wir möchten deshalb den Versuch unternehmen, Ihnen die Perspektive der von FGM betroffenen Frauen und auch unsere Perspektive zu dem Thema etwas näher zu bringen. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit von FGM betroffenen Frauen im Asylverfahren, die unzureichende ärztliche Infrastruktur sowie den Umgang mit von FGM bedrohten Mädchen in Familiennachzugsverfahren. Genital verstümmelt oder davon bedroht zu sein, bedeutet nämlich keineswegs, im Rahmen eines Asylverfahrens in Deutschland Schutz zu erhalten.

Die betroffenen Frauen scheitern in ihren Asylverfahren bereits häufig schon daran, dass ihnen ohne fachkundige Beratung überhaupt nicht bewusst ist, dass erlittene oder drohende FGM ein Asylgrund sein kann, und sie diese deshalb bei ihrer Anhörung zu ihren Fluchtgründen gar nicht erwähnen. Dies gilt nicht nur für bereits verstümmelte Frauen, sondern auch für noch unversehrte aber damit bedrohte Frauen bzw. die mit ihnen eingereisten oder hier geborenen noch unversehrten Töchter.
Selbst bei einem Herkunftsland wie Somalia, das weiterhin eine Prävalenz der Gentialverstümmelung von 98 % aufweist, gelingt es dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oftmals nicht, das Thema FGM konsequent offensiv anzusprechen, um den Mädchen und Frauen so den erforderlichen Schutz zu eröffnen. Wird die FGM von betroffenen Frauen aus Unwissenheit, Scham, Verunsicherung oder Aufregung nicht vorgetragen, findet sie keinen Eingang ins Asylverfahren. Die betroffenen Mädchen und Frauen bleiben dann schutzlos.
Dies widerspricht dem seitens der Bundes- und Landesregierung ausgerufenen Kampf gegen FGM, die betroffene Frauen und Mädchen mit dieser Verwaltungspraxis einfach im Stich lässt. Voraussetzung für eine Anerkennung einer bereits erlittenen FGM durch das BAMF ist zudem, dass diese noch oder erneut droht. Ist eine Frau bereits verstümmelt, soll sie in den meisten Fällen nach Auffassung des BAMF auch keinen Schutzstatus erhalten, weil die FGM, also die asylrelevante Verfolgung, ja bereits erfolgt ist und nach Auffassung des BAMF nun nicht mehr droht. Folgeerkrankungen, Traumatisierungen und die Tatsache, dass diese Frauen offensichtlich aus patriarchal geprägten Herkunftsländern stammen und eine andauernde oder sich wiederholende frauenspezifische Verfolgung (die eigentlich Anknüpfungsmerkmal für eine Flüchtlingsanerkennung ist) nicht ausgeschlossen werden kann, spielen dann allenfalls noch im Rahmen der Prüfung von Abschiebeverboten (dem schwächsten Schutz im Asylverfahren) eine Rolle. Nachvollziehbar oder gar effektiv beim Schutz von Frauen mit und vor FGM ist diese Praxis definitiv nicht.
Gemäß Einschätzungen des UNHCR in seiner „Guidance Note on Refugee Claims relating to Female Genital Mutilation” (vgl. UN High Commissioner for Refugees [UNHCR], Guidance Note on Refugee Claims relating to female Genital Mutilation, Mai 2009, www.refworld.org/docid/4a0c28492.html

„(...) stellt weibliche Genitalverstümmelung eine Form geschlechtsspezifischer Gewalt dar, die sowohl psychisches wie physisches Leiden zur Folge hat und einer asylrelevanten Verfolgung gleichkommt (UNHCR Guidance Note, ebenda, Ziff. A 7, S. 5).
Dies betrifft nach Einschätzung des UNHCR nicht nur diejenigen Frauen und Mädchen, die vor einer noch bevorstehenden Genitalverstümmelung flüchten, sondern auch Frauen, an denen die Verstümmelung bereits vorgenommen wurde (UNHCR Guidance Note, ebenda, Ziff I. 1, S. 4). Diese Einschätzung begründet das ­UNHCR mit dem Umstand, dass eine Genitalverstümmelung oft lebenslange schädigende Konsequenzen für die Betroffenen habe; darüber hinaus liefen die betroffenen Frauen häufig Gefahr, im Laufe ihres Lebens weiteren Formen der Beschneidung unterworfen zu werden, etwa vor einem Eheschluss oder nach einer Geburt (vgl. UNHCR Guidance Note, ebenda, Ziff. II 6, S. 5). In diesem Zusammenhang verweist das UNHCR auf die Praxis der sogenannten Reinfibulierung, ein Verfahren, bei dem der Zustand der Infibulierung (Verschluss der Vagina, bis auf ein kleines Loch, nach Beschneidung der äußeren und inneren Schamlippen) nach einer Geburt wiederhergestellt wird, nachdem die Naht für die Geburt geöffnet werden musste.“

Frauen und Mädchen, die bereits FGM erlitten haben, haben bei der aktuellen Entscheidungspraxis des BAMF überhaupt nur dann eine Chance, wenn sie nachweisen können, dass es sich um eine Typ-III-WHO Beschneidung handelt und ihnen deshalb eine De- oder Reinfibulation droht. Auch hiernach wird jedoch regelhaft nicht offensiv gefragt.
Das BAMF nimmt sich einen aktiven Umgang mit FGM in seiner Dienstanweisung aus dem Jahr 2019 zwar vor, Nachfragen zu FGM und auch zum Grad bzw. zu einer erneut drohenden FGM sind aber immer noch die Ausnahme und nicht die Regel. Wird dennoch danach gefragt, wird nach einer drohenden erneuten Verstümmelung und nicht nach einer erneuten Öffnung- und Verschließung des Scheiden­eingangs gefragt, was wieder zu Missverständnissen führen kann. Frauen verneinen nämlich eine drohende erneute Beschneidung, da bei der De- und Reinfibulation nur selten weiteres Gewebe weggeschnitten wird. Der somalische Begriff des Beschneidens und des sog. Einnähens unterscheiden sich voneinander.

Kann die erlittene bzw. drohende FGM trotz der beschriebenen Hürden thematisiert werden, muss sie durch ein ärztliches Attest i.d.R. innerhalb einer vorgegebenen Frist meist von wenigen Wochen nachgewiesen werden. Hier kommen wir zu dem nächsten Problem. Die betroffenen Frauen haben in diesem Stadium des Verfahrens in der Erstaufnahmeeinrichtung keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz, um eine/n Facharzt*in außerhalb der Unterbringungseinrichtung aufsuchen zu können, ganz abgesehen von den Wartezeiten. Im schlimmsten Fall lehnt das Bundesamt, wenn das Attest nicht innerhalb der Frist eingereicht wurde, den Schutzantrag ab.
Hinzukommt, dass es – zumindest in Hessen – offenbar kaum Ärztinnen gibt, die in der Lage sind, die unterschiedlichen Beschneidungstypen zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. FGM ist nicht Teil der ärztlichen oder gynäkologischen Ausbildung. Nur Ärztinnen und Ärzte, die sich entsprechend fortgebildet haben und die hinreichende Erfahrungen sammeln konnten, sind überhaupt in der Lage, aussagekräftige Atteste auszustellen. Ein großer Teil der uns vorliegenden Atteste von willkürlich aufgesuchten Gynäkologinnen ist falsch oder ungenau. Häufig wird erst nach einer erneuten Untersuchung durch eine/n fachkundige/n Arztin klar, dass die betroffenen Frauen Typ-III beschnitten wurden. Legen sie beim BAMF dann ein „korrigierendes“ Attest vor, wird ihnen im schlimmsten Fall nicht mehr geglaubt.
Wir schicken betroffene Frauen aktuell aus der Metropole Frankfurt nach Kassel, Aachen oder Herdecke, um aussagekräftige und qualifizierte Atteste zu erhalten. Oder wir versuchen eine Frauenrechtsorganisation zu finden, die mit einer ehrenamtlich tätigen Ärztin – die hinreichend fortgebildet ist – Untersuchungen anbietet. Bei qualifizierten Ärzt*innen findet zudem eine Aufklärung über die Möglichkeiten einer Öffnung und Rekonstruktion statt, die bei vielen Frauen dringend medizinisch indiziert ist.
Immer noch muss die unverzichtbare Begleitung und Unterstützung der Betroffenen Frauen durch NGOs, Verbände bzw. Ehrenamtliche und mit Hilfe von Dolmetscher*innen, die für ihre Hilfe keinen Lohn und keine Entschädigung erhalten, stattfinden. Ohne Unterstützung haben die Frauen keine Chance auf adäquate Behandlung und sachkundige Attestierung des Grads der Beschneidung und damit ein vom BAMF als wesentlich erachtetes Kriterium zuverlässig. Im schlimmsten Fall wird der Asylantrag auf Grundlage eines schlichtweg falsch diagnostizierten Attestes abgelehnt.

Die Notwendigkeit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der drohenden De- bzw. Reinfibulation hat das BAMF im Grunde erkannt, setzt diese aber selbst beim Nachweis einer Typ-III Beschneidung nur selten um, bleibt es doch oft letztlich Glückssache, wer den jeweiligen Fall beim BAMF entscheidet.
Auch in Familiennachzugsverfahren, in denen wir immer wieder dringlichst um die Beschleunigung der Verfahren von Mädchen bitten, die bei einer Verzögerung von FGM bedroht sind, wird die akute Bedrohung dieser Mädchen völlig unbeachtet gelassen. Es wäre ein Leichtes, für diese Mädchen, die einen gesetzlichen Anspruch auf Einreise haben, ein beschleunigtes Verfahren zu gewährleisten und sie so vor der Verstümmelung zu bewahren. In mehreren uns bekannten Fällen kam der Familiennachzug, der aktuell 2–4 Jahre dauern kann, für die Mädchen zu spät. Die hier wartenden Eltern waren gegenüber den Handlungen ihrer Verwandten, in deren Obhut sich die Mädchen befanden, hilflos. Die betroffenen Mädchen kommen dann Monate später schwer traumatisiert und geschädigt hier an – oder sie verschwinden vorher und werden einer Zwangsverheiratung unterworfen.

Es ist sicher richtig und notwendig, den Schutz der Frauen und Mädchen vor der Praxis der FGM weltweit einzufordern. Glaubwürdig wird das aber erst, wenn die Schutzmaßnahmen, die in der unmittelbaren Verantwortung deutscher Behörden liegen und die sehr einfach und wirkungsvoll umgesetzt werden könnten, auch realisiert werden, namentlich:

  • eine konsequente Anerkennung der erlittenen und drohenden FGM und deren auch psychischen und sozialen Folgen als geschlechtsspezifische Verfolgung durch das BAMF,

  • die Sicherstellung von Angeboten spezifischer qualifizierter Rechtsberatung und fachmedizinischer Betreuung schon vor einer persönlichen Anhörung der betroffenen Frauen und Mädchen,

  • ein beschleunigtes Verfahren beim Familiennachzug durch die zuständigen deutschen Botschaften und Ausländerbehörden immer dann, wenn Mädchen und Frauen während des Wartens auf ihr Visum von FGM-Übergriffen bedroht sind,

  • ausreichende Beratungs- und Therapieangebote für betroffene Frauen und Mädchen zur Behandlung der physischen und psychischen Folgen der erlittenen FGM einschließlich einer Aufklärung über die medizinischen Optionen für eine Rekonstruktion und gegebenenfalls auch die konkrete Unterstützung dieser Behandlung.

RAin Lena Ronte und KollegInnen,
Frankfurt a. M., 08.02.2021