STREIT 4/2018
S. 176-177
VG Sigmaringen, § 80 Abs. 5 VwGO, § 60 Abs. 5 u. 7 AufenthG, §§ 29 Abs. 1, 34a Abs. 1 AsylG, Art 12 Abs. 4 Dublin-III VO
Auch im Dublin-Verfahren keine Abschiebung nach Polen
Der Abschiebung in einen nach der Dublin-III VO für das Asylverfahren zuständigen Staat steht § 60 Abs.7 S.1 AufenthG entgegen, wenn der Antragstellerin bei einer Verweigerung des Aufenthaltes in Deutschland eine Extremgefahr droht.
Dies gilt auch dann, wenn systemische Mängel des Asylverfahrens im Übernahmestaat (hier Polen) nicht festgestellt werden können.
(Leitsätze der Redaktion)
Beschluss des VG Sigmaringen vom 16.10.2018 – A 6 K 4205/18
Aus den Gründen
I.
Die Antragstellerin, eine türkische Staatsangehörige, begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen ihre Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Polen.
Sie reiste am 04.03.2018 aus Polen kommend in die Bundesrepublik ein. Am 23.05.2018 stellte sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag. Laut Behördenakte ergab sich ein EURODAC-Treffer, wonach die Antragstellerin ein Visum in Polen hat. Am 19.06.2018 wandte sich das Bundesamt mit einem Aufnahmegesuch an Polen. Mit Schreiben vom 21.06.2018 übermittelten die polnischen Behörden ihre Zustimmung zur Aufnahme der Antragstellerin.
Mit Bescheid vom 22.06.2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und ordnete die Abschiebung der Antragstellerin nach Polen an. […]
Die Antragstellerin hat am 05.07.2018 (sachdienlich formuliert) beantragt, die aufschiebende Wirkung der mit gleichem Datum eingereichten Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Polen anzuordnen. Zur Begründung führt sie an, sie sei als angehende Ärztin in Kobane tätig gewesen. 2014 sei sie bei einem Angriff des IS schwer verletzt worden. Bei einer Abschiebung drohe insbesondere infolge der noch vorhandenen Splitter im Schädel Lebensgefahr. Eine entsprechende zügige medizinische Versorgung sei in Polen nicht gewährleistet. Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.06.2018 ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet. […]
Denn die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, den Asylantrag der Antragstellerin gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG für unzulässig zu erklären und gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ihre Abschiebung nach Polen anzuordnen, ist voraussichtlich nicht rechtmäßig.
Ein Asylantrag ist nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach zutreffender Auffassung der Antragsgegnerin ist im vorliegenden Fall Polen für die Behandlung des Asylgesuchs der Antragstellerin zuständig. Dies ergibt sich aus Art. 12 Abs. 4 Dublin-III VO aufgrund des durch die polnischen Behörden der Antragstellerin ausgestellten Visums. Die polnischen Behörden haben das rechtzeitig gestellte Wiederaufnahmegesuch ausdrücklich akzeptiert.
In einen nach der Dublin-III-Verordnung zuständigen Staat ist die Abschiebung nur dann unzulässig, wenn der Ausländer systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Staat geltend machen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – juris). […] Davon kann im Falle von Polen als Übernahmestaat nicht ausgegangen werden. […]
Zugunsten der Antragstellerin könnte jedoch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemessen an den gesetzlichen Maßstäben muss hiernach eine Extremgefahr für die Antragstellerin zu befürchten sein.
Nach dem ärztlichen Bericht vom 06.08.2018 ist es wahrscheinlich, dass es im Falle einer Verweigerung des Aufenthalts in Deutschland zu einer weiteren Verschlechterung der posttraumatischen Belastungsstörung und der mittelgradigen depressiven Episode kommt. Ein Abbruch der aktuell bestehenden psychiatrischen Behandlung könnte weitreichende Folgen für die Gesundheit der Antragstellerin haben. Nach dem ärztlichen Bericht vom 13.09.2018 steht für den 08.11.2018 eine Augenoperation an, in deren Zusammenhang die Antragstellerin eine weitere Augenprothese erhalten soll. Ferner steht nach dem ärztlichen Bericht vom 14.09.2018 ein Aufenthalt in der neurochirurgischen Uniklinik Tübingen Anfang Dezember bevor, bei dem herausgefunden werden soll, ob durch einen neurochirurgischen Eingriff und die Entfernung von Metallsplittern im Gehirn die Epilepsie der Antragstellerin geheilt werden kann.
Für die Einzelrichterin ist hiernach aufgrund der gesamten physischen und psychischen Gesundheitssituation der Antragstellerin eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gegeben, dass sich der Gesundheitszustand der Antragstellerin im Falle einer Abschiebung nach Polen erheblich, bis hin zu einer Extremgefahr für die Antragstellerin verschlechtern kann. Eine weitere Abklärung der gesundheitlichen Situation der Antragstellerin und möglicher Folgen einer Abschiebung nach Polen sowie der Frage der dortigen Behandlungsmöglichkeiten bleibt hiernach dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die Interessenabwägung fällt somit zugunsten der Antragstellerin aus.