STREIT 4/2017

S. 170-172

OLG Hamm, § 1666 BGB

Bewertung eines familienpsychologischen Sachverständigengutachtens und konstanter Wille des Kindes

1. Das Ergebnis eines Sachverständigengutachtens ist hinsichtlich der einzelnen Schlussfolgerungen zu bewerten, ob konkrete (unstreitige) Belegtatsachen vorliegen.
2. Ein konstanter Wille des Kindes ist beachtlich, wenn die Überwindung des Willens seinerseits eine Kindeswohlgefährdung darstellen würde. Sollten das Elternrecht und das Recht des Kindes auf „Schutz vor den Eltern“ im konkreten Fall unversöhnlich aufeinander treffen, setzt sich der Schutz des Kindes vor seinen Eltern in der verfassungsgerichtlichen Prüfung durch.

Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 06.06.2016 – 4 UF 186/15

Aus dem Sachverhalt:
Aus der Ehe der beteiligten Kindeseltern ist die betroffene Jugendliche D, geboren am …, hervorgegangen, die im Haushalt ihrer Eltern lebte. Am 17.6.2014 wandte sich die Jugendliche zunächst an eine Lehrerin um Hilfe und wurde sodann beim Jugendamt in Obhut genommen (§ 42 Abs. 1 Ziff. 1 SGB VIII). Seither lebt sie im Haushalt ihrer Halbschwester T2 X, geboren am …, und deren Ehemann K B X.
Die Halbschwester T2 stammt aus der ersten Ehe der Kindesmutter. Sie zog im Alter von 18 Jahren aus und ist seit 2004 verheiratet. Der Kontakt der Kindeseltern zu T2 war zwischenzeitlich abgebrochen (ab ca. 2004), besteht aber seit 2011 wieder in unregelmäßigen Abständen.
D hat erklärt, sie wolle nicht mehr in den elterlichen Haushalt zurückkehren. Dort habe es immer Chaos gegeben. Ihr Vater habe sie wegen Kleinigkeiten geschlagen, getreten oder ignoriert. Ihre Mutter habe ihr nicht geholfen. Da sie Angst vor ihrem Vater habe, wolle sie diesen nicht treffen. Auch ihre Mutter wolle sie derzeit nicht sehen – bei dem letzten Umgangskontakt hätten sie nicht gewusst, was sie sich sagen sollten.
Das zuständige Jugendamt hat beantragt, den Kindeseltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Vertretung gegenüber Behörden, insbesondere das Antragsrecht für Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 SGB VIII sowie die Gesundheitsfürsorge zu entziehen und einem Ergänzungspfleger zu übertragen.
Die Kindeseltern haben erstinstanzlich Antragszurückweisung, die Anordnung der Kindesherausgabe an sie und hilfsweise ein Umgangsrecht wöchentlich von freitags 14.00 Uhr bis sonntags 17.00 Uhr beantragt. Sie haben erklärt, dass sie die Vorwürfe Ds nicht nachvollziehen könnten, und behauptet, der Aufenthalt im Haushalt der Halbschwester T2 widerspreche dem Kindeswohl.
Das Familiengericht hat zunächst in der Hauptsache mit Beschluss vom 30.7.2014 den Kindeseltern das Sorgerecht entzogen, Vormundschaft angeordnet und das Jugendamt T3 zum Vormund bestellt. Auf die Beschwerde der Kindeseltern hat der Senat mit Beschluss vom 2.10.2014 diese Entscheidung wegen unzureichender Sachverhaltsermittlung aufgehoben und das Verfahren an das Amtsgericht zurückverwiesen. Sodann hat das Familiengericht in der Hauptsache ein Sachverständigengutachten der Dipl.-Psych. F eingeholt und den Kindeseltern mit Beschluss vom 6.1.2015 im Wege der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie das Recht zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung entzogen und Ergänzungspflegschaft angeordnet.
Auf die Beschwerde der Kindeseltern gegen die einstweilige Anordnung hat der Senat mit Beschluss vom 22.6.2015 den erstinstanzlichen Beschluss abgeändert und das Sorgerecht bei den Kindeseltern belassen. Sodann hat das Jugendamt D am 13.8.2015 erneut in Obhut genommen.
Das Familiengericht hat mit dem nun – im Hauptsacheverfahren ergangenen – angefochtenen Beschluss den Kindeseltern das Sorgerecht für D entzogen, Vormundschaft durch das Jugendamt der Stadt T3 angeordnet, das Umgangsrecht der Kindeseltern bis zum 1.3.2016 ausgeschlossen und den Herausgabeantrag der Kindeseltern abgewiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:
Die zulässige Beschwerde der Kindeseltern hat in der Sache keinen Erfolg. […]
2.a) Den Kindeseltern ist das Sorgerecht gemäß § 1666 BGB zu entziehen, da ansonsten das Wohl der Jugendlichen D gefährdet wäre. Das Kindeswohl ist umfassend zu schützen, damit der in der Entwicklung befindliche junge Mensch zu einer selbständigen und verantwortungsbewussten Person herangezogen werden kann, die zum Zusammenleben in der Gemeinschaft fähig ist. Dabei gewinnt auch der Kindeswille mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Die Gefährdung muss gegenwärtig und in solchem Maße vorhanden sein, dass eine erhebliche Schädigung des Kindeswohls bei Fortsetzung der bisherigen Lebensweise zu besorgen oder bei der weiteren Entwicklung der Dinge mit ziemlicher Sicherheit vorauszusehen ist. Die zu besorgende Schädigung muss nachhaltig und schwerwiegend sein, da nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit zu einem Eingriff in die von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützte elterliche Sorge rechtfertigt. […].
aa) Das körperliche Wohl der Jugendlichen D ist nicht gefährdet. […] Zwar schildert D körperliche Züchtigungen durch den Kindesvater, vor dem die Kindesmutter sie nicht geschützt, sondern eher ihr die Verantwortung zugeschrieben habe. […] Eine Ohrfeige räumt der Kindesvater ein und im Übrigen schildern die Kindeseltern die jeweiligen Ergebnisse detailliert abweichend.
Weitergehende körperliche Züchtigungen können nicht angenommen werden, auch wenn die Sachverständige in ihren Gutachten feststellt, dass D im elterlichen Haushalt in einem Maße geängstigt wurde, das über eine erfolgte Ohrfeige hinausgeht. […]
bb) Aufgrund der eingeschränkten Erziehungsfähigkeit der Kindeseltern ist das psychische Kindeswohl der Jugendlichen gefährdet, wenn diese aus dem Haushalt ihrer Halbschwester herausgenommen würde und in den Haushalt der Kindeseltern wechseln müsste. Da die Kindeseltern sich bislang mit dem Verbleib von D an ihrem jetzigen Aufenthaltsort nicht einverstanden erklären können, ist ihnen das Sorgerecht zu entziehen. Wegen der gestörten Beziehung zwischen D und den Kindeseltern können diese auch keine Teilbereiche des Sorgerechts weiterhin ausüben. […] Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens weist D charakteristische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung auf, die phasenweise in selbst verletzendes Verhalten und wahrscheinlich in einen ernsthaften Suizidversuch mündeten. Dies sei auf eine kumulative Traumatisierung in ihrem Elternhaus zurückzuführen. […]
(1.) Die Sachverständige ermittelte ihr Beweisergebnis, indem sie anhand der gerichtlichen Fragestellung eine psychologische Untersuchungshypothese mit Alternativhypothesen bildete. Methodisch setzte die Sachverständige verschiedene psychologische Testverfahren ein. Mit D und der Kindesmutter führte sie eine Interaktionsbesprechung durch.
Aus den Testergebnissen bei D ermittelte die Sachverständige, dass elterliche Unterstützung von beiden Elternteilen fehlte. Die Kindeseltern wendeten inkonsistentes Erziehungsverhalten an sowie schränkten D übermäßig ein.
Während der Interaktion beobachtete die Sachverständige, dass die Kindesmutter kaum auf die Erlebnisschilderung von D einging. Sie reagierte standardisiert und ohne thematischen Zusammenhang […]. Die emotionale Belastung von D erkannte die Kindesmutter nicht.
Als Beweisergebnis ermittelte die Sachverständige, dass die Erziehungsfähigkeit des Kindesvaters aufgrund mangelnder Empathie in die Beziehungs- und Konfliktsituation aus Sicht von D sowie in die pubertätsbedingte Individuations- und Autonomieentwicklung erheblich beeinträchtigt ist; der Kindesvater projiziere stark eigene Bedürfnisse auf D. Körperliche Bestrafungen durch den Kindesvater (jedenfalls mehr als eine Ohrfeige) hätten D geängstigt. Die psychische Notlage und die zunehmende psychische Dekompensation der pubertierenden Jugendlichen hätten die Eltern aufgrund ihrer eigenen Bedürfnislage nicht wahrgenommen. Die eingeschränkte Konflikt- und Problemlösefähigkeit belegten erhebliche Einschränkungen der Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit des Kindesvaters und der Kindesmutter. Aufgrund eines mangelnden Einfühlungsvermögens in ihre Tochter und der vorliegenden Beziehungsstörung sei die Erziehungsfähigkeit der Kindesmutter erheblich eingeschränkt. […]

(2.) Dieses Ergebnis der Sachverständigen ist letztlich überzeugend, soweit die Sachverständige feststellt, dass das psychische Kindeswohl gefährdet ist, sollten die Kindeseltern weiterhin das Sorgerecht für D ausüben.
Das Sachverständigengutachten erfüllt weitestgehend die äußerlichen Qualitätsanforderungen. Der formale Rahmen und die Grundlagen der Begutachtung werden dargestellt. Die Sachverständige bildet psychologische Hypothesen, untersuchte die Beteiligten und belegte ihr Beweisergebnis in der Regel anhand verschiedener Untersuchungen. […]
Das Gutachten ist schlüssig und nachvollziehbar, soweit die Sachverständige eine Gefährdung des psychischen Kindeswohls durch die Kindeseltern feststellte. Die kumulative Schädigung der Jugendlichen in ihrem Elternhaus mit einer jahrelangen tiefgreifenden Beziehungsstörung zwischen ihr und beiden Kindeseltern begründet die Sachverständige nachvollziehbar und nach wissenschaftlichen Standards.
Die Sachverständige beobachtete und diagnostizierte verschiedenes Verhalten der Kindeseltern und dessen psychische Auswirkungen auf D. Insbesondere das fordernde Verhalten des Kindesvaters und dessen fehlende Auseinandersetzung mit eigenen körperlichen Strafen in der Kindheit sind schlüssig. […]
Auch die Auswirkungen der Hilflosigkeit der Kindesmutter auf D sind nachvollziehbar. So schilderte die Sachverständige anschaulich, dass die Kindesmutter während der Interaktionsbeobachtung nicht auf die Vorwürfe von D einging, was diese zunehmend wütender und verzweifelter machte.
Die Beziehungsstörung der Jugendlichen zu den Kindeseltern wird auch dadurch verdeutlicht, dass D nach der abrupten Trennung von den Kindeseltern keine Trennungs- und Verlustreaktionen aufwies, obwohl diese bei Beziehungsabbrüchen/-unterbrechungen gegenüber bedeutsamen Bezugspersonen zu erwarten gewesen wären. […]
Dagegen ist das Ergebnis des Gutachtens nicht überzeugend, soweit die Sachverständige Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung bei D diagnostizierte und von Anzeichen eines ernsthaften Suizidversuchs ausging. Denn insoweit ist unklar, aufgrund welcher Befunde die Sachverständige zu ihrer Diagnose bzw. ihrer Verdachtsdiagnose kam. […] Ob die Sachverständige als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin oder als Fachpsychologin für Rechtspsychologie BDP, DGP‘s, Supervisor in BDP die Qualifikation besitzt, eine posttraumatische Belastungsstörung oder deren Anzeichen zu diagnostizieren, ist darüber hinaus nicht bekannt.
(3.) Die weiteren Einwendungen der Kindeseltern gegen das Gutachten überzeugen nicht.
Der Sachverständigen oblag es nicht, zu ermitteln, ob die einzelnen Vorwürfe von D gegenüber den Kindeseltern den Tatsachen entsprechen. Denn die Kindeswohlgefährdung resultiert bei D nicht aus den körperlichen Züchtigungen, sondern aus deren psychischen Auswirkungen auf D. […]
Eine (psychiatrische oder psychologische) Untersuchung der Halbschwester durch die Sachverständige war nicht angezeigt. Denn nach dem Beweisbeschluss war die Beweisfrage zu beantworten, welche Sorgerechtsregelung dem Wohl des betroffenen Kindes am besten entspricht. Mit der Überprüfung der Geeignetheit der derzeitigen Pflegefamilie war die Sachverständige nicht beauftragt. […]
cc) Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Jugendliche sich seit inzwischen fast 2 Jahren konstant weigert, in den elterlichen Haushalt zurückzukehren oder die Kindeseltern auch nur zu treffen.
Im Rahmen von §§ 1666, 1666a BGB ist der Kindeswille zu berücksichtigen. Denn auch die Überwindung eines stark ausgeprägten konstanten Kindeswillens stellt eine Kindeswohlgefährdung dar (OLG Hamm, Beschluss vom 11.06.2012 – II-8 UF 270/10 Rn. 69).
Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens erlebt D die Kindeseltern bislang als dominant und sich über ihre Wünsche und Bedürfnisse hinwegsetzend. Es ist inzwischen von einem selbständig entwickelten und konstanten Willen von D auszugehen. […]
Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens besitzt D pubertätsbedingt ein starkes Bedürfnis nach Eigenständigkeit. Daher ist nun ihr Wille zu respektieren und eine Missachtung des geäußerten Willens seinerseits eine Kindeswohlgefährdung. […]
dd) Das Sorgerecht ist den Kindeseltern insgesamt zu entziehen. Sie waren in der Vergangenheit nicht bereit, mit der Ergänzungspflegerin und der Vormundin zusammenzuarbeiten. […]

3) Der Umgang der Kindeseltern mit D ist gemäß § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB zeitweise auszuschließen.
Nach § 1684 Abs. 4 S. 1 BGB kann das Umgangsrecht grundsätzlich eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, soweit es das Kindeswohl erfordert. […] Erforderlich ist die konkrete gegenwärtige Gefährdung der körperlichen und seelischen Entwicklung des Kindes. Dafür bedarf es einer hohen Wahrscheinlichkeit, so dass die bloße Befürchtung künftiger Gefahren nicht genügt. […]
Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens ist die Beziehung der Kindeseltern und der Jugendlichen erheblich gestört. D lehnt einen Kontakt mit den Kindeseltern ab. Die Nichtbeachtung des Kindeswillens hinsichtlich des Umgangs ist auf der Grundlage der jahrelang gestörten Beziehung zu den Kindeseltern mit dem Wohl des Kindes nicht zu vereinbaren. […]

Hinweis der Redaktion
Siehe zur Problematik der Psychologischen Sachverständigengutachten die Buchbesprechung von Jutta Bahr-­Jendges zu Helen A. Castellanos / Christiane Hertkorn: Psychologische Sachverständigengutachten im Familienrecht, Nomos Vlg., Baden Baden 2014, in: STREIT 1/2015, S. 39-43, sowie die Untersuchung von Christel Salewski und Stefan Stürmer (Institut für Psychologie an der FernUniversität Hagen) zu „Qualitätsstandards in der Familienrechtspsychologischen Begutachtung“, wo wegen erheblicher Mängel der Mehrheit der analysierten Gutachten gefordert wird, dass die Qualifikation zum Fachpsychologen Rechtspsychologie wünschenswert wäre (unter: www.fernuni-hagen.de).