STREIT 4/2021

S. 168-171

HessLAG, § 75 BetrVG, § 3 AGG

Mittelbare Diskriminierung von Frauen im Sozialplan

Eine Regelung in einem Sozialplan, die für einen pauschalen Zuschlag auf die Abfindung für unterhaltsberechtigte Kinder an die „Eintragung des Kindes auf der Lohnsteuerkarte“ anknüpft, d.h. an einen Kinderfreibetrag als Lohnsteuerabzugsmerkmal, benachteiligt mittelbar Frauen. Dies beruht darauf, dass bei der Lohnsteuerklasse V Kinderfreibeträge als Lohnsteuerabzugsmerkmal nicht vorgesehen sind und noch deutlich mehr Frauen als Männer die Lohnsteuerklasse V wählen.
Die alleinige Anknüpfung in dem Sozialplan an den Kinderfreibetrag war nicht durch das begrenzte Volumen des Sozialplans oder Praktikabilitätserwägungen gerechtfertigt (insoweit gegen BAG 12.03.1997 – 10 AZR 648/96).

Urteil des HessLAG vom 28.10.2020 – 18 Sa 22/20 (rechtskräftig)

Aus dem Sachverhalt:
Die Parteien streiten um die Erhöhung einer Sozialplanabfindung. Die Klägerin macht geltend, sie werde als Frau mittelbar diskriminiert. […]
Die […] verheiratete Klägerin hat zwei Kinder […] und hatte die Lohnsteuerklasse V gewählt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete durch Aufhebungsvertrag […] im Rahmen des Programms B. […] Bereits am […] schloss die Beklagte mit ihrem Gesamtbetriebsrat für alle Betriebe in Deutschland den Sozialplan B (folgend: SP) […]. Auszugsweise wiederzugeben sind diese Regelungen des SP:
„[…] II. Abfindung
[…] 4. Die Abfindung aus der vorstehenden Ziffer 1 erhöht sich bei den Arbeitnehmern
[…] d) um EUR 5.000 pro Kind, das am Stichtag (Abschluss dieses Sozialplans) auf der Lohnsteuerkarte eingetragen ist; dieser Betrag wird auch gezahlt, wenn das Kind nur zu 0,5 auf der Lohnsteuerkarte eingetragen ist. […]“ […]
Die Klägerin erhielt von der Beklagten anlässlich ihres Ausscheidens […] eine Abfindung […] ohne Berücksichtigung der beiden Kinder […]. Eingehend am […] erhob die Klägerin Klage […] auf weitere Abfindungszahlung i.H.v. 10.000,00 € brutto nebst Zinsen. […] Das Arbeitsgericht […] hat die Klage […] abgewiesen […].

Aus den Gründen:
Die Berufung ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin einen weiteren Betrag von 10.000,00 € brutto nebst Zinsen auf ihren Anspruch auf Sozialplanabfindung zu zahlen.
1. Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Abfindung, welcher in Höhe von 24.081,50 € brutto schon erfüllt ist, ergibt sich aus dem SP, nicht dem Aufhebungsvertrag […]. Nach Ziff. 2.) des Aufhebungsvertrags steht der Mitarbeiterin für den Verlust des Arbeitsplatzes eine Abfindung nach dem geltenden Sozialplan zu. Es handelt sich um eine Rechtsfolgenverweisung. Die Höhe der wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu zahlenden Abfindung wird ausschließlich nach den Regeln des SP berechnet. Hierüber besteht kein Streit […].
2. Der Klägerin steht der geforderte weitere Abfindungsanspruch nach dem SP i.V.m. dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß § 75 Abs. 1 BetrVG zu. Die Regelung in Ziff. II. 4. d) SP, nach der die Klägerin für ihre beiden Kinder […] keine Abfindungserhöhung erhält, ist unwirksam.
a) Ziff. II. 4. d) SP ist auslegungsbedürftig.
aa)[…] Die Regelung in Ziff. II. 4. d) SP ist […] so auszulegen, dass die Betriebsparteien die Erhöhung um einen Zuschlag pro Kind auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschränken wollten, bei denen für ein oder mehrere Kinder ein Freibetrag von 1,0 oder 0,5 je Kind als zum Abruf bereitgestelltes Lohnsteuerabzugsmerkmal vorliegt. Der Zuschlag sollte daher nur denjenigen Beschäftigten zustehen, die zum Stichtag unterhaltspflichtig für ein (oder mehrere) Kind/er waren und bei denen durch das Lohnsteuerabzugsmerkmal „Kinderfreibetrag“ diese Unterhaltspflicht unmittelbar nachgewiesen wurde.
Damit wurden […] solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgeschlossen, welche die Lohnsteuerklasse V gewählt hatten. Denn gemäß §§ 38b Abs. 2, 39 Abs. 4 Nr. 2 EStG werden Kinderfreibeträge nur bei den Steuerklassen I bis IV berücksichtigt.
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass ein Kinderfreibetrag gemäß § 32 EStG nach § 38b Abs. 2 Eingangssatz EStG nur für minderjährige Kinder automatisch, d.h. ohne Zutun des/der Unterhaltsverpflichteten, als Lohnsteuermerkmal zum Abruf bereitgestellt wird. Ein Kinderfreibetrag für ein volljähriges Kind, für welches – vereinfacht dargestellt – ein Kindergeldanspruch besteht (§ 32 Abs. 4 EStG), wird nur auf Antrag gemäß § 38b Abs. 2 Satz 2 bis Satz 6 EStG als Lohnsteuerabzugsmerkmal registriert und mitgeteilt. Schließlich war keine Erhöhung der Abfindung für solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorgesehen, die auf Antrag auf die Eintragung eines Kinderfreibetrags verzichtet hatten (§ 38b Abs. 3 Satz 1 EStG).
bb) Für die Klägerin bedeutet dies, dass ihr nach der so ausgelegten Regelung Ziff. II. 4. d) SP keine Erhöhung ihrer im Übrigen unstreitigen Abfindung für ihre beiden […] Kinder zusteht. Von dieser Auslegung sind die Parteien und das Arbeitsgericht übereinstimmend ausgegangen.

b) Sozialpläne unterliegen, wie andere Betriebsvereinbarungen, der gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle. Sie sind daraufhin zu überprüfen, ob sie mit höherrangigem Recht, wie insbesondere dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Abs. 1 BetrVG, vereinbar sind. Arbeitgeber und Betriebsrat haben nach § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus den in der Vorschrift genannten Gründen unterbleibt. § 75 Abs. 1 BetrVG enthält nicht nur ein Überwachungsgebot, sondern verbietet zugleich Vereinbarungen, durch die Arbeitnehmer aufgrund der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt werden. Der Gesetzgeber hat die in § 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbote in § 75 Abs. 1 BetrVG übernommen. Die unterschiedliche Behandlung der Betriebsangehörigen aus einem in § 1 AGG genannten Grund ist daher nur unter den im AGG normierten Voraussetzungen zulässig (BAG Urteil vom 28. Juli 2020 – 1 AZR 590/18 – juris, Rz. 15 f.; BAG Urteil vom 9. Dezember 2014 – 1 AZR 102/13 – NZA 2015, 365, Rz. 19).

c) Ziff. II. 4. d) SP, wonach die Abfindung für Beschäftigte mit Unterhaltspflicht für ein oder mehrere Kind/er nur erhöht wird, wenn die Unterhaltspflicht aus einem Kinderfreibetrag als Lohnsteuerabzugsmerkmal ersichtlich ist, enthält eine mittelbar auf dem Geschlecht beruhende Ungleichbehandlung (vgl. LAG Nürnberg Urteil vom 3. November 2015 – 7 Sa 655/14 – juris, Rz. 30 ff.).
aa) Eine in einem Sozialplan enthaltene Bestimmung, durch welche die Erhöhung der Abfindung wegen der besonderen Belastung durch unterhaltsberechtigte Kinder an das Merkmal des steuerlichen Kinderfreibetrags anknüpft, schließt mittelbar mehr Frauen als Männer von dieser Leistung aus. Denn die Lohnsteuerklasse V, bei der kein Kinderfreibetrag gewährt wird, wird überwiegend von Frauen gewählt.
(1) Wie in der Verhandlung […] erörtert, liegt der Prozentsatz von Frauen, welche die Lohnsteuerklasse V gewählt haben, noch deutlich über dem Prozentsatz der Männer, deren Lohnsteuer nach dieser Steuerklasse berechnet wird. Dies beruht darauf, dass sich Ehepaare häufig noch für die Lohnsteuerklassenkombination III/V entscheiden, wenn erhebliche Unterschiede in der Höhe des Bruttoerwerbseinkommens bestehen und meist Frauen, auch wegen Teilzeitarbeit, gegenüber einem Ehemann das geringere Einkommen erzielen. Die Möglichkeit, die Steuerklassen IV/IV mit Faktor zu wählen, ist nicht sehr bekannt.
Die nach Auffassung der Kammer offenkundige Tatsache (§ 291 ZPO), dass auch 2018 überwiegend Frauen die Lohnsteuerklasse V hatten, lässt sich auch statistisch belegen (vgl. dazu: BAG Urteil vom 9. Dezember 2015 – 4 AZR 684/12 – NZA 2016, 897, Rz. 27; BAG Urteil vom 16. Oktober 2014 – 6 AZR 661/12 – AP Nr. 4 zu § 8 TVÜ, Rz. 44). Hierzu kann die Pressemitteilung des Deutschen Juristinnenbund e.V. vom 26. August 2020 zu den Nachteilen, die sich für Frauen aus der Berechnung des Kurzarbeitergeldes bei Steuerklasse V ergeben, herangezogen werden […]. Die Pressemitteilung bezieht sich auf Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung, denen ihrerseits Daten des Statistischen Bundesamts, Stand November 2019, zur Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2015 zu Grunde liegen. Danach betrug in diesem Jahr bei der Steuerklasse V der Anteil der verheirateten Frauen 89 %, der verheirateten Männer 11 % (vgl. Spangenberg/Färber/Späth (2020), Mittelbare Diskriminierung im Lohnsteuerverfahren, Working Paper der Hans-Böckler-Stiftung, https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_190_2020.pdf; dort Seite 13, 38 f.)
Dieses Übergewicht von Frauen bei Personen mit der Steuerklasse V hat sich seit 2015 bis 2018 nicht in dem Umfang geändert, dass von einem etwa gleichen Verhältnis von Frauen und Männern ausgegangen werden kann, auch wenn der Beklagten zuzustimmen ist, dass der Anteil der Frauen mit Steuerklasse V seit 2015 etwas gesunken sein dürfte. Das wird durch die aktuelle Diskussion über die Nachteile für Frauen während der Corona-Pandemie wegen der Lohnsteuerklasse V beim Kurzarbeitergeld deutlich.
(2) Eine mittelbare Benachteiligung i.S.v. § 3 Abs. 2 AGG liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften geeignet sind, Personen wegen des Geschlechts gegenüber anderen Personen in besonderer Weise zu benachteiligen. Dies setzt voraus, dass die benachteiligten und begünstigten Personen vergleichbar sind. Um vergleichbar zu sein, müssen sachlogisch die beiden Größen Gemeinsamkeiten aufweisen, um die Unterschiede zueinander in Beziehung zu setzen (vgl. BAG Urteil vom 9. Dezember 2015 – 4 AZR 684/12 – NZA 2016, 897, Rz. 27).
Die Regelung in Ziff. II. 4. d) SP bezweckt aufgrund des zukunftsgerichteten Entschädigungscharakters von Abfindungen einen pauschalierten Ausgleich für die besonderen Belastungen, die Beschäftigte mit unterhaltsberechtigten Kindern bei einem Verlust des Arbeitsplatzes haben. Hierüber besteht zwischen den Parteien kein Streit. Die Beklagte hat dieses Ziel bestätigt und […] klargestellt, dass der Ausgleich jedoch nur für diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umgesetzt werden sollte, bei denen die Unterhaltspflicht wegen des Kinderfreibetrags feststehe […].
(3) Ziff. II. 4. d) SP betrifft danach eine einheitliche Gruppe von Beschäftigten, nämlich diejenigen mit Unterhaltspflichten gegenüber Kindern. Durch die Anknüpfung an den Steuerfreibetrag als Kriterium werden sie in zwei Teilgruppen unterschieden: Beschäftigte, bei denen ein oder mehrere Kinderfreibeträge automatisch wegen der Lohnsteuerklassen I bis IV vorgesehen und abrufbar sind oder die einen Kinderfreibetrag als Abzugsmerkmal beantragt haben, und Beschäftigte, bei denen wegen der Wahl der Steuerklasse V ein Kinderfreibetrag als Lohnsteuerabzugsmerkmale nicht vorgesehen ist oder die – bei abweichender Lohnsteuerklasse – auf den Kinderfreibetrag verzichteten.
Das unterscheidende Kriterium, das Lohnsteuerabzugsmerkmal „Kinderfreibetrag“, wirkt als mittelbar diskriminierendes Merkmal i.S.v. § 1 AGG. Denn die danach voneinander als begünstigt und benachteiligt zu unterscheidenden Gruppen trennt nicht nur das Kriterium, sondern diese Trennung geht wegen des bei der Lohnsteuerklasse V erst gar nicht berücksichtigungsfähigen Kriteriums mit einem signifikanten Unterschied hinsichtlich des Auftretens eines des in § 1 AGG genannten Merkmals, des Geschlechts, einher.
Ob durch Ziff. II. 4. d) SP andere Beschäftigte, wie ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit volljährigen unterhaltsberechtigten Kindern oder jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit erst nach dem Stichtag geborenen Kindern benachteiligt werden, ist für die Frage der Benachteiligung der Klägerin ohne Bedeutung. Eine mögliche – hier ausdrücklich nicht zu prüfende – Benachteiligung weiterer Beschäftigtengruppen lässt die mittelbare Benachteiligung einer bestimmten Beschäftigtengruppe nicht entfallen (BAG Urteil vom 28. Juli 2020 – 1 AZR 590/18 – juris, Rz. 20).

bb) Die durch Ziff. II. 4. d) SP bedingte Benachteiligung von Frauen ist nach Maßgabe des § 3 Abs. 2 AGG zwar durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt. Das gewählte Mittel ist aber zur Erreichung des Ziels nicht angemessen und erforderlich.
(1) […] Es gehört zu den rechtmäßigen Zielen eines Sozialplans, dass Abfindungen und andere Leistungen nach ihrer Berechnung oder in sonstiger Weise beschränkt werden, um das Sozialplanvolumen nicht zu überschreiten. Dieses Ziel ist neben anderen Zielen zu berücksichtigen (BAG Urteil vom 28. Juli 2020 – 1 AZR 590/18 – juris, Rz. 23).
Danach hält die Kammer die Regelungsabsicht der Betriebsparteien, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit unterhaltsberechtigten Kindern eine pauschalierte und für alle gleiche Erhöhung der Abfindung zu gewähren, die jedoch auf eine zweifelsfreie Unterhaltspflicht zu einem Stichtag beschränkt ist, für sachlich gerechtfertigt.
(2) Das Mittel zur Erreichung des Ziels ist aber nicht angemessen und erforderlich. Das Abstellen auf das Lohnsteuerabzugsmerkmal „Kinderfreibetrag“ als neutralem Kriterium geht über das Erforderliche hinaus. Denn es war nicht geboten oder erforderlich, es als ausschließliches Kriterium zu verwenden.
Die Beklagte hat sich […] darauf berufen, dass bei Abschluss des Sozialplans kalkulierbar sein musste, welches „finanzielle Paket geschnürt“ wurde. Darüber hinaus spiegele das Anknüpfen an den Kinderfreibetrag wieder, dass die Beklagte eine wertkonservative Unternehmenstradition habe […]. Daher sei, wie in früheren Sozialplänen, beabsichtigt gewesen, einen Zuschlag auf solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschränken, welche tatsächlich ihre Unterhaltspflichten gegenüber Kindern erfüllten. Dies könne vermutet werden, wenn ein Kinderfreibetrag bei den Steuermerkmalen hinterlegt sei.
In Bezug auf das Argument der Kalkulierbarkeit des Sozialplanvolumens ist zu berücksichtigen, dass im März 2018 zwar Vorgaben bestanden, wie viele Arbeitsplätze abgebaut werden sollten. Welche konkreten Beschäftigten dies betreffen würde, stand jedoch nicht fest, da tariflich bis Ende 2020 Beendigungskündigungen ausgeschlossen waren und der Personalabbau bisher nur über Aufhebungsverträge erfolgte. Anders als in dem der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zu Grunde liegenden Fall einer vollständigen Betriebsschließung, bei dem ein Abfindungszuschlag für unterhaltsberechtigte Kinder davon abhängig gemacht werden durfte, dass diese auf der Lohnsteuerkarte eingetragen waren (vgl. BAG Urteil vom 12. März 1997 – 10 AZR 648/96, NZA 1997, 1058, Rz. 21 ff.), konnte die finanzielle Belastung der Arbeitgeberin durch den Sozialplan daher nicht vorab endgültig berechnet werden (vgl. auch für Kündigungen bei Interessenausgleich mit Namensliste: BAG Urteil vom 28. Juni 2012 – 6 AZR 682/10 – NZA 2012, 1090, Rz. 48-51).
Es erscheint außerdem zweifelhaft, ob bei einer Kalkulation der voraussichtlichen Sozialplankosten wegen des Anteils für die Zuschläge nach Ziff. II. 4. d) SP nicht eine Schätzung möglich gewesen wäre, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit der Lohnsteuerklasse V unterhaltsberechtigte Kinder haben. Daneben ist anzuführen, dass ein Kinderfreibetrag von 1,0 auch bedeuten kann, dass Unterhaltspflichten für zwei Kinder bestehen, für die jeweils ein halber Kinderfreibetrag eingetragen ist. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das von der Beklagten vorgetragene Argument der tatsächlich wahrgenommenen Unterhaltspflichten des bzw. der Beschäftigten ausblendet, dass durch die getroffene Regelung zweifelsfrei bestehende Unterhaltspflichten von vorneherein nicht vollständig erfasst werden.
Damit rückt das nach Auffassung der Kammer erheblichere Argument der Praktikabilität in den Vordergrund. Der Nachweis, dass eine Unterhaltspflicht gegenüber einem oder mehreren Kindern besteht, kann auch auf andere Weise geführt werden als ausschließlich über das Lohnsteuerabzugsmerkmal „Kinderfreibetrag“. Wenn das Lohnsteuerabzugsmerkmal nicht vorliegt, dürfte im Regelfall der Nachweis über den Anspruch auf Kindergeld eines der beiden miteinander verheirateten Elternteile genügen.
Darüber hinaus musste die Beklagte bei dem bisher ausschließlich freiwilligen Personalabbau im Wege von Aufhebungsverträgen ohnehin für jede Arbeitnehmerin bzw. jeden Arbeitnehmer einzeln prüfen, ob sie das Arbeitsverhältnis beenden wollte und welche persönlichen Voraussetzungen bei dem/der ausscheidenden Beschäftigten bestanden. Insofern ist nicht überzeugend, dass zur vereinfachten Abwicklung ausschließlich auf den Kinderfreibetrag abgestellt werden musste. Hinzu kommt, dass durch den festgelegten Stichtag, der zum Zeitpunkt des Ausscheidens einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers in der Vergangenheit liegt, ausgeschlossen wurde, dass Väter oder Mütter erst kurzfristig ihre Unterhaltspflicht gegenüber einem Kind akzeptieren. Die Beklagte hatte also nicht zu befürchten, dass sich die Zahl der zuschlagsberechtigten Personen nach Abschluss des SP erhöhen würde. […]
Demgegenüber ist nochmals hervorzuheben, dass das von der Beklagten hervorgehobene Ziel, nur solche Beschäftigten zusätzlich zu entschädigen, deren Unterhaltspflichten tatsächlich feststellbar sind, nicht für die Personen erreicht wurde, welche die Lohnsteuerklasse V gewählt hatten. Es ist von vorneherein eine Gruppe von Beschäftigten ausgeschlossen worden, die am Stichtag unterhaltspflichtig waren, bei denen dies aber wegen der lohnsteuerrechtlichen Behandlung nicht ersichtlich ist. Die Betriebsparteien hätten jedoch das einfache Kriterium des Lohnsteuerabzugsmerkmals „Kinderfreibetrag“ ergänzen können durch andere Möglichkeiten, die Unterhaltpflicht gegenüber einem Kind bzw. Kindern zum Stichtag nachzuweisen. Damit ist das Argument der Praktikabilität der Regelung ungeeignet.
Ziff. II. 4. d) SP ist daher zur Zielerreichung nicht angemessen und erforderlich. Es liegt ein Verstoß gegen § 75 Abs. 1 BetrVG vor.
d) Der Verstoß der Sozialplanbestimmung gegen § 75 Abs. 1 BetrVG bewirkt, dass der benachteiligten Klägerin für die Vergangenheit ein Anspruch auf die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen ist, durch eine so genannte „Anpassung nach oben“. Den Angehörigen der mittelbar benachteiligten Gruppe sind dieselben Vorteile zu gewähren wie den nicht benachteiligten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Kann die Arbeitgeberin – wie hier – den Begünstigten für die Vergangenheit die gewährte Leistung nicht mehr entziehen, ist eine zur Beseitigung der Diskriminierung erforderliche „Anpassung nach oben“ selbst dann gerechtfertigt, wenn sie zu erheblichen finanziellen Belastungen führt (vgl. BAG Urteil vom 28. Juli 2020 – 1 AZR 590/18 – juris, Rz. 32). Die Regelung in Ziff. II. 4. d) SP ist also anzuwenden, als habe die Klägerin den Nachweis der Unterhaltspflicht für ihre beiden Kinder geführt. […]

Hinweis der Redaktion
Sozialplanabfindungen dürfen an Unterhaltsverpflichtungen anknüpfen. Es ist sachlich gerechtfertigt, eine pauschalierte und für alle gleiche Erhöhung der Abfindung zu gewähren, die auf eine zweifelsfreie Unterhaltspflicht zu einem Stichtag beschränkt ist. Der Nachweis der Unterhaltspflicht darf aber nicht auf das Lohnsteuerabzugsmerkmal „Kinderfreibetrag“ beschränkt werden, denn damit schließt sie mehr Frauen als Männer von der Erhöhung aus.
Die Entscheidung lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass die Bezugnahme auf ein vermeintlich neutrales steuerliches Kriterium, das Lohnsteuerabzugsmerkmal „Kinderfreibetrag“, mittelbar diskriminierend wirkt, denn nicht in allen Lohnsteuerklassen sind Kinderfreibeträge berücksichtigungsfähig: in Lohnsteuerklasse V gibt es dieses Abzugsmerkmal nicht. Ehepaare entscheiden sich bei erheblichen Einkommensunterschieden häufig für die Lohnsteuerklassenkombination III/V und in der Regel sind es noch immer die Frauen, die gegenüber dem Ehemann das geringere Einkommen erzielen und Lohnsteuerklasse V wählen. Zur Kritik am Ehegattensplitting aus gleichstellungspolitischer Sicht siehe schon STREIT 4/2008, 161 ff.: Spangenberg, Ulrike: „50 Jahre Ehegattensplitting! Gute Gründe für eine Reform der Besteuerung der Ehe“ sowie STREIT 4/2019, 147 ff.: Spangenberg, Ulrike: „Steuern und Geschlechtergerechtigkeit: (An)Forderungen aus Europa“.