STREIT 1/2024

S. 31-32

Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung und die Grenzen der Wohlverhaltenspflicht im Umgangsstreit. Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 17.11.2023 – 1 BvR 1076/23

Die 2. Kammer des Ersten Senats hatte in dem vorliegend mit der Verfassungsbeschwerde präsentierten Fall Gelegenheit, sich mit den sorgerechtlichen Folgen der gerichtlichen Praxis zu § 1684 Abs. 2 BGB zu befassen. Wenn Eltern sich nach der Trennung nicht darüber einigen können, ob, wann und wie oft die gemeinsamen Kinder den abwesenden Elternteil besuchen, wird die Wohlverhaltensklausel bemüht, um den Aufenthaltselternteil, hier: die Mutter dazu zu bewegen, den Umgang der Kinder mit dem Vater zu ermöglichen und zu unterstützen. Bei Verstößen gegen die Wohlverhaltenspflicht wird damit gedroht, das Sorgerecht einzuschränken – etwa durch Bestellung eines Umgangspflegers oder auch die Sanktionierung von Umgangsregelungen nach § 89 FamFG. Führt auch das nicht zu einer Wiederherstellung des Umgangs, droht der „Entzug der Sorge“, zutreffend: die Übertragung der Sorge, insbesondere des Aufenthaltsbestimmungsrechts, auf den abwesenden Elternteil, verbunden mit der (wie vorliegend: gewaltsamen) Herausnahme der Kinder aus ihrem bisherigen Umfeld, oft mit der Begründung, der Aufenthaltselternteil „entfremde“ die Kinder vom abwesenden Elternteil.
Bei derartigem gerichtlichem Agieren geht es oft weniger um das Näheempfinden von Kindern, als vielmehr um das Erfüllen von Normalitätserwartungen, nämlich Kontakt zu beiden Elternteilen zu halten. Die Frage „nach den Gründen1 von emotionaler Distanz, Kontaktwiderstand und Kontaktabbruch bzw. nicht entstandener Beziehung (bleibt) ausgeklammert“.2 „Zudem wird das Problem ‚Entfremdung‘ ganz unabhängig von möglicherweisen rechtfertigenden Umständen definiert“,3 abgesehen davon, dass die aus dem Naturrecht stammende gesetzliche Vermutung der Kindeswohldienlichkeit des Kontakts zu beiden Elternteilen (§ 1629 Abs. 3 BGB)4 durch empirische Forschung bislang nicht belegt ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat nun klargestellt, dass Sorgeentscheidungen zwischen streitenden Eltern nach dem hierfür grundsätzlich geltenden minder strengen Prüfungsmaßstab vorrangig am Kindeswohl zu orientieren sind und nicht dazu dienen, „Fehlverhalten“ eines Elternteils zu sanktionieren.
Zugleich hat das Gericht unter Bezug auf Zimmermann et.al., ZKJ 2023, S. 43 ff. und 83 ff., darauf hingewiesen, dass das – gerade in letzter Zeit wieder verstärkt – bemühte Konzept der sog. Eltern-Kind-Entfremdung (PAS) als fachwissenschaftlich überholt zu gelten habe und zur Begründung von Entscheidungen zum Sorgerecht nicht herangezogen werden könne.
Die Entscheidung enthält damit wichtige Klarstellungen, die bei der Auslegung der Wohlverhaltensklausel nach § 1684 Abs. 2 BGB den Weg weisen können.

Das Bundesverfassungsgericht ist bei der Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde darauf beschränkt zu prüfen, ob im Ausgangsverfahren vor den Fachgerichten das gerügte gerichtliche Vorgehen eine Grundrechtsbeeinträchtigung für den Beschwerdeführer darstellt. Was sonst noch an dem gerichtlichen Vorgehen in den Instanzen zu kritisieren sein könnte, ist nicht Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kon­trolle, wenn es nicht gerügt wird und auch erkennbar den Verfassungsverstoß nicht begründet.
Demzufolge erkennt das Bundesverfassungsgericht vorliegend die fehlerhafte Anwendung der überholten Entfremdungstheorie allein bei der Begründung einer Entscheidung als Verstoß gegen das Elterngrundrecht, die Auswirkungen auf das fachgerichtliche Verfahren als solches, insbesondere auf die von Amts wegen vorzunehmende Ermittlung des Sachverhaltes, werden nicht geprüft.

Zunächst erscheinen die Teile der Begründung, in denen auch das Bundesverfassungsgericht selbst das Drohszenario gegen die Beschwerdeführerin, die Mutter der Kinder, aufrecht erhält (wiederholte Verstöße gegen die Umgangsregelung können bei der Prüfung der Kindeswohlorientierung herangezogen werden; psychologische Begutachtung kann zwar nicht erzwungen, aber durchaus herbeigeführt werden) als irritierend. An diesen Stellen wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht ebenso wie zumindest das OLG die innere Logik der Entfremdungstheorie bei der Gestaltung des fachgerichtlichen Verfahrens nicht gesehen hat bzw. mangels Rüge nicht sehen konnte. Die Anwendung der Entfremdungstheorie verführt dazu, sich allein auf den „verweigernden“ Elternteil zu fokussieren und zu den Ursachen von dessen Verhalten sowie zu anderen, dem geäußerten Kindeswillen zugrundeliegenden Gründen und Motiven keine Ermittlungen anzustellen. Das ist besonders gefährlich und daher unzureichend in Fällen häuslicher Gewalt.5
Das Verheerende bei der Anwendung der auf rigoroser Schwarz-Weiß-Malerei basierenden Entfremdungstheorie ist nicht nur der damit erzeugte, einer Nötigung gleichkommende Druck auf den Aufenthaltselternteil, sondern vor allem die Verkürzung der notwendigen gerichtlichen Sachaufklärung. Wer sich bei Umgangsproblemen allein darauf konzentriert, dass ein Verhalten des verpflichteten Elternteils das Problem sei, wird alle anderen Gründe, die die Kontaktprobleme der Kinder erklären könnten, weder erfragen noch deren Hintergründe ermitteln.
Vorliegend, so scheint es, wurden im gesamten fachgerichtlichen Verfahren keine Ermittlungen zu dem Vorwurf der Mutter, der Vater habe ein Drogenproblem und er sei in der Vergangenheit gewalttätig gewesen, durchgeführt.

Die Anwendung der Entfremdungstheorie erspart weitere Ermittlungen, denn die Gründe für den scheiternden Umgang liegen nach dieser Sichtweise ja auf der Hand. Wird der Umstand, dass Umgang nicht stattfindet, allein auf ein Verhalten des Aufenthaltselternteils zurückgeführt, mit welchem dieser die Kinder gegen den anderen Elternteil aufhetzen, den anderen Elternteil verächtlich machen, den Kindern signalisieren soll, dass ihr Kontakt zum anderen Elternteil nicht erwünscht ist, dass sie mit Liebesentzug rechnen müssen usw. usf., ist es nicht mehr notwendig zu ermitteln, aus welchen, auch in der Person des Kindes und seiner bisherigen Beziehung zu dem abwesenden Elternteil liegenden Gründen das Kind den Umgang verweigert. Eigenes belastendes, verletzendes oder gefährdendes Verhalten des klagenden Elternteils bleibt unbeachtet und unhinterfragt.6
Die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen beiden Eltern sowie jeweils die zu ihren Kindern in der Vergangenheit des Zusammenlebens gestaltet haben, wird nicht gestellt. Ebenso wenig wird beachtet, dass nach dem gesetzlichen Wortlaut keineswegs der Aufenthaltselternteil allein sich aller belastenden Einflussnahme auf die Kinder enthalten soll. Adressaten der Norm sind beide Eltern, es handelt sich um einen Ausfluss der Pflichtgebundenheit des Elterngrundrechts, wonach beide dafür zu sorgen haben, dass das Kind ungehinderten Zugang zu dem jeweils anderen Elternteil hat (soweit und solange dadurch sein Wohl nicht gefährdet wird, § 1684 Abs. 4 BGB). Das Wohlverhalten des abwesenden, umgangsbegehrenden Elternteils ist so gut wie nie Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung.

„Insgesamt begegnen den Fachkräften und Gerichten in Fällen mit ausgeprägtem mütterlichen Gatekeeping sowohl gut verborgene, aber reale Gefahren durch Umgang als auch stark verzerrte Wahrnehmungen. Daher ist es unabdingbar, beide Möglichkeiten präsent zu halten, den Sachverhalt so gut wie möglich aufzuklären und die resultierenden Hinweise abzuwägen.“7

  1. Hervorhebung durch die Autorin.
  2. Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux, Kindler, Verdorbener Wein in alten Schläuchen – Teil 1. Warum wir allzu vereinfachte Vorstellungen von „Eltern-Kind-Entfremdung“ hinter uns lassen müssen., ZKJ 2023, 43 ff., 44.
  3. Zimmermann et.al., a.a.O. S. 44.
  4. Zimmermann et.al., a.a.O., S. 43.
  5. Vgl. hierzu EuGHMR Urt. v. 10.11.2022 – Beschwerde Nr. 25426-20 – ELLCE:ECHR:2022:1110JUD002542620, FamRZ 2023, S. 1 ff. m. Anm. Meysen.
  6. Meysen, Thomas / SOCLES (Hg.): Kindschaftssachen und häusliche Gewalt – Umgang, elterliche Sorge, Kindeswohlgefährdung, Familienverfahrensrecht, Berlin April 2023, download unter www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/.
  7. Zimmermann et.al., a.a.O. S. 46.