STREIT 3/2023
S. 99-104
40 Jahre STREIT – eine Säule der feministischen Rechtsbewegung – eine Festrede
Laudatio beim Festakt zum 40-jährigen Bestehen der Feministischen Rechtszeitschrift STREIT auf dem Feministischen Juristinnentag am 12. Mai 2023, Frankfurt a.M.
Sehr geehrte Damen, liebe feministischen Jurist:innen, liebe Mit- und Vorstreiterinnen,
liebe Geburtstagsdamen der STREIT, liebe Alle!
Wie spreche ich über eine Zeitschrift und die Macherinnen einer Zeitschrift, die mich meinen gesamten bisherigen Weg als feministische Juristin begleitet haben?
Als ihr mich angefragt habt, eine Festrede zu 40 Jahren STREIT zu halten, fühlte ich mich erstens sehr geehrt (Stichwort: „Säule der feministischen Rechtsbewegung“), dann habe ich mich zweitens sehr gefreut, und dann hat es mich drittens persönlich-biographisch sehr bewegt.
Denn beim kurzen Zurückrechnen hatte sich mein Gefühl bestätigt: Die STREIT hat mich in allen Phasen meines Juristinnenlebens begleitet, empowert, inspiriert, an- und aufgeregt – und zwar 40 Jahre lang, von Anfang an bis heute:
in meiner Entscheidung, Jura studieren zu wollen – und es dann auch zu tun,
als Referendarin auf der Suche nach meinem Berufs- und Berufungsprofil,
als NGO-Mitarbeiterin und
als Ministerialbeamtin in meiner Wanderung in und durch die Institution eines Bundesministeriums.
Als Jahrgang 1964 gehöre ich zur sog. Babyboomer-Generation, das heißt: Viele Studierende und überfüllte Hörsäle – die „Juristenschwemme“, aber nicht viel mit Feminismus. Zu meiner Studienzeit in Bonn und in Berlin waren feministische Juristinnen eine Splittergruppe, aber es gab sie immerhin. Und weil es so schön übersichtlich war, konnten wir uns auch schnell finden. Ihr habt mir mit dieser metallisch lila-blau leuchtenden Zeitschrift und den silberfarbenen Schriftzügen auf der Titelseite im Außen und mit der feministischen Kunst und dem feministischen Inhalt im Inneren in aller Kampfeslust und gleichzeitig in aller Schönheit gezeigt, dass ich, dass wir nicht allein sind, dass wir viele oder jedenfalls genug sind, um die Welt und die Rechtswelt für Frauen besser machen zu können. Die STREIT-Ausgabe unter dem Arm war damals ein Erkennungszeichen – eine Art Speed-Dating for feminist friendship – und auch ein Erkennungszeichen für erklärte Gegnerschaften.
Und daher – das Private ist politisch und umgekehrt – möchte ich über euch sprechen, indem ich das nebeneinander lege: Die STREIT, die rechtspolitische Gleichstellungspolitik, mein individuell feministisches Juristinnenleben als eine Art geistiges „3-Spalten-Dokument“, wie wir es für völkerrechtliche Verträge, zuletzt für die Istanbul-Konvention, erstellen im Ministerium.
Wie das so ist mit dem Älterwerden: Es gibt Phasen – das meine ich jetzt nicht im Sinne dieser „Es ist doch nur eine Phase-Phase“, sondern im Sinne von: Es gibt Entwicklungsabschnitte, die aufeinander aufbauen und sich bedingen und die uns immer wieder zu neuen Antworten und damit auch wieder zu neuen Fragen bringen.
Deshalb möchte ich jetzt ein komprimiertes Blättern durch die Etappen der STREIT unternehmen, eure rechtspolitischen Fragestellungen und Themen und gespiegelt damit durch die großen Linien der Bundespolitik im Bereich Gleichstellung und am Ende einen kurzen Blick auf die To-Do‘s und To-think-about‘s der Gegenwart und Zukunft werfen.
Die 1980er Jahre – 1983. Die erste Ausgabe der STREIT erscheint mit dem Untertitel, der das inhaltliche und politische Programm ist: „Feministische Rechtszeitschrift“. Das Wort „feministisch“ war damals so richtig provozierend.
Heute – 40 Jahre später – sprechen wir in Deutschland von einer von den beiden zuständigen Bundesministerinnen proklamierten feministischen Außen- und Entwicklungspolitik. Es gibt mittlerweile sogar so etwas wie ein Wetteifern um die Benennung Feminist/Feministin als Ehrentitel – so die Bundeskanzlerin a.D. am Ende ihrer Kanzlerinnenschaft oder der amtierende Kanzler mit seinem stolzen Outing als Feminist zur deutschen G7-Präsidentschaft 2022.
Wenn man sich allerdings gleichzeitig die Äußerungen zum „Gender-Gaga“, die Verunglimpfungen der Gender Studies, die Angriffe auf feministische Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen etc. anschaut, dann scheint es ja auch heute noch sehr provokativ zu sein. Wahrscheinlich auch, weil feministische Frauen und Männer und Menschen heute mehr Meinungsmacht und Gewicht haben als in der Vergangenheit. 1983 jedenfalls war „feministisch“ in der Kombination mit „Rechtszeitschrift“ völlig ungewohnt. Man(n) las als Jurist die NJW und Ähnliches und war objektiv und staatstragend.
Meine Wahrnehmung als Studentin zu dieser Zeit: Die STREIT war damals von ihrem Selbstverständnis her eher skeptisch bis widerständig dem Staat gegenüber eingestellt. Rechtswissenschaft(en) lernen und praktizieren und denken: ja! Einmischen in das System: Ja! Aber eher in Richtung aufmischen. Es gab eine äußerst kritische Distanz zu Normen und Recht als Teil eines patriarchalischen Systems. So fand ich auch eure Themensetzung dieser Jahre folgerichtig und konsequent mit dem Fokus auf eklatante Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Missbrauch, Gewalt. Spannend und spannungsreich war auch, dass ihr bei diesen Themen die Auseinandersetzung mit der Rolle und den Rollenkonflikten feministisch denkender und handelnder Juristinnen, insbesondere auch in der Nebenklagevertretung, angegangen seid – wie nah am Staat, ist dem System zu trauen? Wie viel an innerer und äußerer Veränderung des Systems ist möglich?
Ihr hattet von Anfang an eine breite Themenpalette. Bis heute spannen sich eure Beiträge über alle Rechtsfragen, die das Frauenleben besonders prägen und beeinflussen:
Die Gewalt gegen Frauen, der Gewaltschutz und die Intervention in all ihren rechtlichen Facetten und Feldern,
die sexuell-reproduktiven Rechte von Frauen und der sie begleitenden Berufsgruppen wie vor allem ÄrztInnen und Hebammen: §§ 218 ff. StGB; Fragen der Leihmutterschaft, der künstlichen Befruchtung,
familienrechtliche Fragen von Trennung, Scheidung, Unterhalt, Versorgungsausgleich, Sorge- und Umgangsrecht, Kinderschutz; Familienstandsfragen – auch mit Blick auf das Aufbrechen des binären Geschlechterverständnisses,
die großen sozialrechtlichen Fragen, Sozialhilfesätze, Altersarmut bzw. eine gerechte Altersversorgung von Frauen,
Frauen in der Pflege als pflegende Private oder professionelle Fachkräfte und als zu Pflegende,
die (arbeits-)rechtlichen Fragen von Entgeltgleichheit, Arbeitsschutz, Mutterschutz, Elternzeit, Diskriminierung bzw. Schutz vor Diskriminierung bei Auswahl-Entscheidungen, Beförderungen, Beurteilungen,
Anti-Diskriminierungsfragen und Schutz vor Ausbeutung von besonders vulnerablen Gruppen wie Migrantinnen, Asylbewerberinnen, Frauen mit Behinderungen, lesbischen Frauen.
Mit feministischen Rechtsfragen habt ihr von Anfang an verbunden, Rechte von Minderheiten und mehrfach diskriminierten Frauen zu stärken. Lange bevor wir es „intersektional“ nannten, habt ihr das getan. Kontinuierlich hat sich die STREIT mit Aufenthalts- und Asylrechtsfragen beschäftigt und weichenstellende Entscheidungen kommentiert und transportiert.
Und weil neben den Inhalten auch Verfahren eine entscheidende Rolle, gerade bei der Rechtsdurchsetzung, spielen, habt ihr euch neben dem materiellen Recht ebenfalls von Anfang an um Prozessrechtsfragen gekümmert.
STREIT-immanent sind auch von Beginn an:
Fragen zum beruflichen Selbstverständnis von Juristinnen, zu unserer Geschichte im Recht,
rechtstheoretische Fragen,
rechtsvergleichende Beiträge und
Beiträge über Entwicklungen und interessante Ansätze in Europa und in der Welt.
Bei dem Abgleich der Hefte aus den Anfangsjahren mit den Themen der aktuellen Ausgaben ist festzustellen: Die inhaltlichen Themen von damals sind nach wie vor brennend und aktuell – auch wenn wir meines Erachtens in einigen Politikbereichen Etappenerfolge erzielt haben. Eure Themen sind immer noch der rote Faden im Politik-Buch der Geschlechter(un)gerechtigkeit mit den Schlagworten: Gender Pay Gap, Gender Pension Gap, Gender Care Gap, Gender Participation Gap, die Prävalenzen von gender based violence. Diese Kontinuität von 1983 bis 2023 ist nichts zum Jubeln.
Aber wie sagte schon Christina Thürmer-Rohr Ende der 1980er: „Feminismus ist kein kurzfristiger Arbeitsauftrag“. Sie hatte so recht.
Für mich als Studentin, Referendarin, Suchende und sich irgendwann auch Findende im rechtlichen Berufsfeld seid ihr in den 1983ff.-Jahren mit der STREIT so Vieles gewesen:
Eine ganz wunderbare Mischung mit all den Fragen, die mich umgetrieben haben: Alle inhaltlichen Themen, die so grundsätzlich rechtlich-feministisch nirgendwo anders angesprochen wurden, waren drin. Und all meine Selbstverständnis-Fragen: Wer bin ich als feministische Juristin, was soll ich tun?
Als intellektuell an- und aufregend – und auch anstrengend und herausfordernd – habe ich damals die Verbindung von Rechtstheorie und Rechtspraxis empfunden und habe mir von euch manchen Knoten ins Hirn machen lassen!
Ihr habt häufig nicht nur Antworten gegeben – oder sogar bewusst keine, sondern kritische Fragen gestellt. Gute und weiterführende Fragen, die auch immer wieder reflektierten: Wie viel Staat und Institution, wie viel Nähe und kritische Akzeptanz, wie viel Grundsatzkritik, wie viel und wo aktives Einmischen? Mich habt ihr jedenfalls mitgenommen auf eine große Suche und auch die Bestärkung: Das Denk- und Gestaltungs-Feld ist frei, groß und weit, suche Verbündete, mach‘ dein Ding mit dem, was du kannst und mit denen, denen du vertraust.
Wenn ich auf die gleichstellungspolitische Bundespolitik in den 1980ern am Beispiel Gewaltschutz schaue, spiegelt sich darin die STREIT-Haltung – für mich unter der Überschrift: Brüche und Aufbrüche!
Angestoßen durch die Ideen, Themen und Proteste der autonomen Frauenbewegung gab es auch Bewegung in Politik und Verwaltung; es entstanden Frauenministerien auf Bundes- und Länderebene; es gibt Gleichstellungsbeauftragte vor Ort. Es werden erste Unterstützungsangebote als Modellprojekte mit staatlicher Finanzierung erstritten – das erste Frauenhaus, die erste Beratungsstelle bei sexualisierter Gewalt etc.
Ziel war: Nicht nur Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen zu schaffen, sondern damit auch das scheinbar private Unrecht zur politischen Frage zu machen. Aus den Modellprojekten entstanden weitere Hilfeeinrichtungen, und aus diesen wird eine der erfolgreichsten politischen und sozialen Bewegungen in Deutschland und eine echte Infrastruktur – das heutige fachliche und politische Netz der Unterstützungseinrichtungen bei Gewalt gegen Frauen.
Die feministischen Juristinnen waren von Anfang an ein fester Bestandteil in der Gründung und in den Angeboten der Frauenunterstützungseinrichtungen; Rechtsberatung war ein wesentliches Element für das Empowerment der Frauen. Und das bildete sich auch in den STREIT-Beiträgen dieser Zeit ab.
In den 1990er Jahren bewegte sich die STREIT nach meiner Wahrnehmung hin zu Fragen der Normgestaltung. Auch mit eurer Neugier auf die Diskussion von Frauenrecht und Frauenrechten in anderen Ländern wurde der Blick weiter. Ich erinnere mich, wie ich damals mit Begeisterung eure Rezeptionen insbesondere von Tove Stang Dahls „Frauenrecht“ und weiterer Rechtstheoretikerinnen verschlungen habe.
Mich – als Anfang der 1990er dann Volljuristin – hat der Blick über den deutschen Tellerrand total inspiriert und war Weichenstellung:
Ich bin mit großer Begeisterung aus einem australischen Interventions- und Kooperationsprojekt angedockt bei einer Berliner Initiative, die genau so etwas für Deutschland auf die Beine stellen wollte – und es dann auch getan hat. Das war auch eine gute Zeit des innerdeutschen Aufbruchs. Das Zusammenkommen der ost- mit den westdeutschen Feministinnen war äußerst erfrischend. Es gab Neugier und Lust aufeinander und auf Impulse aus dem Ausland.
Auch an diesem Punkt spiegelt sich für mich die STREIT-Richtung in der Bundespolitik im Gewaltschutz in den 1990ern: Kooperation und Intervention sind die neuen Schlüssel, importiert aus den positiven Erfahrungen aus anderen Ländern.
Das Thema Gewalt gegen Frauen wird strategischer. Durch die Kooperationen zwischen Staat und Zivilgesellschaft entstehen Ideen für neue Strategien und Rechtsreformen:
Die Aktionspläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sind ein Beispiel für ein neues politisches Format, das das Thema Schutz von Frauen vor Gewalt zum ersten Mal auf höchster politischer Ebene verankert. Vom Bundeskabinett beschlossen sind sie Selbstverpflichtungen der Bundesregierung – auch zu rechtspolitischen Vorhaben. Dieses Format und Vorgehen wird von allen Bundesländern aufgegriffen und führt zu Maßnahmenpaketen mit Rechtsreformen neben der Bundes- auch auf Länder- und kommunaler Ebene.
Die Kooperations- und Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt entstehen und werden als erfolgreiche Modelle in den Bundesländern und auf kommunaler Ebene aufgegriffen.
Feministische Juristinnen – sowohl Praktikerinnen (Rechtanwältinnen, Staatsanwältinnen und Richterinnen), als auch Rechtswissenschaftlerinnen – sind da dabei und höchst aktiv. Und sie sind in vielen Fällen auch „Treiberinnen“.
1994 wurde der Gleichberechtigungsartikel verändert und um den wichtigen Satz 2 ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. Ausdruck einer grundlegenden systematischen Veränderung von einer patriarchalen Gesellschaftsordnung hin zu einem Rechts- und Wertesystem, in dem Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit im Geschlechterverhältnis im Zentrum stehen und in dem Gewalt – jedenfalls theoretisch – keinen Platz mehr hat.
Dazu passte, dass 1998 nach über 20 Jahren heftiger rechts- und gesellschaftspolitischer Diskussion ein Meilenstein in Kraft trat. Im Bundestag setzte sich ein überfraktioneller Gruppenantrag durch, mit dem „ein strafrechtliches Fossil aus dem vergangenen Jahrhundert zu Grabe getragen“ wurde. Der Deutsche Bundestag beschloss mit einer überwältigenden Mehrheit, dass Vergewaltigung in der Ehe künftig strafbar ist. Fast weitere 20 Jahre brauchte es für die nächste grundlegende Sexualstrafrechtsreform – die „Nein heißt Nein“-Regelung von 2016.
Ihr habt mit der STREIT in diesem Kulturkampf mit Verve und hoher Fachlichkeit gestritten. Die Sexualstrafrechts-Fragen gehören zu euren Kernthemen. Ohne die Einmischungen der feministischen Juristinnen vor und hinter den Kulissen, ohne die kontinuierlichen Veröffentlichungen, schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen und Interventionen, wäre die 1998er- und auch später die 2016er-Reform nicht gelungen – das waren äußerst erfolgreiche Kämpfe! Und sie sind noch nicht abgeschlossen.
Ein anderer Kultur-Selbstbestimmungskampf auf dem Feld der sexuell-reproduktiven Rechte endete erst einmal nach der deutschen Wiedervereinigung mit einem Kompromiss der Systeme nach einer ebenfalls langjährigen politischen Auseinandersetzung:
1995 gab es mit dem Schwangeren- und Familienhilfe-Änderungsgesetz eine Änderung des Strafrechts – der §§ 218 ff. StGB – bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs mit dem Inhalt, den wir alle kennen. In den Folgejahren gab es viele weitere Veränderungen, aber ohne grundlegende Änderung der Gesamtsystematik.
Zwei Punkte, die in der aktuellen Legislaturperiode gelungen bzw. verabredet sind, möchte ich hier kurz ansprechen:
Im Juni 2022 hat der Bundestag die ersatzlose Streichung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche beschlossen, angestoßen auch über die öffentlich sehr stark wahrgenommene und debattierte Verurteilung der Frauenärztin Kristina Hänel durch das Amtsgericht Gießen in 2017. Die Aufhebung von § 219a StGB war im Koalitionsvertrag der Ampelregierung vereinbart und ist eines der ersten gleichstellungspolitischen Gesetzesvorhaben dieser Legislaturperiode.
Ihr habt in der STREIT alle, aber auch wirklich alle Entwicklungen in diesem Bereich intensivst und über vier Jahrzehnte bis heute mit vielen hochkarätigen Beiträgen begleitet und am juristischen Kochen gehalten. Bitte kocht unbedingt weiter! Denn: Seit März diesen Jahres gibt es die Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, eine unabhängige Sachverständigenkommission mit 18 Expertinnen und Experten aus den Bereichen Medizin und Rechtswissenschaften, Gesundheits- und Sexualwissenschaft, Ethik, Psychologie und Biologie, die innerhalb eines Jahres insbesondere Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches prüfen soll. Auf Grundlage der Vorschläge dieser Kommission könnten hier weitere Meilensteine für die Rechte von Frauen beschlossen und umgesetzt werden.
Zurück in die 2000er Jahre: Die STREIT ist verstärkt dabei, sich mit Normsetzung, Schutzlücken und Vorschlägen und Debatten für Reformen zu beschäftigen. Dafür war der Blick auf die konkrete praktische Normgestaltung in anderen Ländern hilfreich – die STREIT war ja schon immer international interessiert und baute diese Neugier weiter aus. Sowohl der internationale Blick als auch der nationale Blick auf Deutschland machte deutlich: Es geht häufig um die Rechtsdurchsetzung. Viele Rechte klangen abstrakt durchaus gut, wurden aber kaum durchgesetzt – es gibt unzählige Beispiele dafür aus allen Rechtsbereichen.
Die tatsächliche Rechtsdurchsetzung, das Alltagsgeschäft der Anwältinnen, stand und steht daher bei der STREIT ganz besonders im Fokus. Dazu kamen – etwas weniger vertreten als die Anwältinnen – feministische Richterinnen, die zum Erstaunen der Richterkolleg:innen innovative Rechtsauslegung betrieben und diese veröffentlichten.
Auch in der Bundespolitik ging es – am Beispiel und im Bereich Gewaltschutz – in den 2000ern um Verbesserungen des Rechts. Als Meilenstein für neue gesetzliche Maßnahmen möchte ich hier nur blitzlichtartig das Gewaltschutzgesetz und die Wegweisungsmöglichkeiten der Polizeigesetze der Länder nennen, die maßgeblich aus den Ergebnissen und Vorschlägen der Kooperations- und Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt entwickelt wurden.
In der STREIT habt ihr die zivil-, straf- und öffentlichrechtlichen Aspekte des Gewaltschutzes rauf und runter bearbeitet. Ihr habt euch die Kooperations- und Inverventionsprojekte und -strategien im Ausland und die Reformen in anderen Ländern angeschaut und euch intensiv in diese Debatte eingebracht, sowohl was den rechtlichen, als auch den feministisch-politisch-strategischen-Ansatz betraf. Auch hier habt ihr mit eurer streitbaren Art das Feld der Möglichkeiten von verschiedenen Seiten angeschaut und diskutiert. Und: Auch diese Reformen hätte es ohne euch so nicht gegeben. Sowohl durch die STREIT-Veröffentlichungen selbst als auch durch das Engagement der STREIT-Redaktionsfrauen in verschiedenen politischen Zusammenhängen habt ihr Meinung gemacht und Politik-Positionen beeinflusst.
Für mich begann 2000 im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als Ministerialbeamtin eine neue kulturell-berufliche Etappe. Es war die Zeit eines echten Flows: Ich hatte einige dieser Reformen im Gewaltschutz als NGO-Vertreterin „mit eintüten“ können, habe damals sehr viel über die Mechanik und Strategien politischer Rechtsdurchsetzung gelernt, und konnte dies dann als Ministerialfrau „vollenden“ – das war sehr motivierend.
Und auch im Ministerium hat die STREIT wieder nicht nur intellektuell, sondern auch vernetzungsmäßig mein Berufsleben beeinflusst: In meiner ersten Woche dort hatte ich mich auf den Verteiler der diversen Zeitschriften setzen lassen, und zu meiner größten Freude war die STREIT dabei. Sie war sogar in dem Schaukasten der damaligen Bibliothek prominent ausgestellt (weil die Bibliothekarin euer blau-lila-silbernes „Outfit“ optisch so schön und euren Titel so schön kratzbürstig für das Ministerium fand und das allen in die Augen reiben wollte – zwischen NJW, FamRZ, JuS und NVwZ und ZRP). Es gab, wenn man sich auf die Liste der Zeitschriften-„Umläufe“ (vordigitales Zeitalter!) setzte, einen für alle einsichtbaren Verteiler (Datenschutz wurde damals noch nicht so groß geschrieben). Und all diese Frauen (und auch ein paar Männer) sind für mich eine wunderbare ministerielle Peer-Group geworden.
Die Bedeutung des Europäischen und Internationalen für die Gleichstellungspolitik und die feministische Rechtspolitik – die wurde in den 2010er Jahren immer deutlicher und größer.
Unsere deutschen Errungenschaften standen ja nicht unverbunden auf einer nationalen Insel. Wir hatten gemerkt: Eine erfolgreiche Gleichstellungspolitik braucht nicht nur national gute Partnerschaften, sondern auch europäische und internationale Bündnisse und Impulse. Und alle engagierten Seiten profitieren davon: Ein nationales Engagement für europäische und völkerrechtliche Konventionen bringt dort hohe Standards hervor, die wiederum zu Verpflichtungen für die nationale Weiterentwicklung und die konstante Überprüfung der nationalen Politik führen. So hat die Istanbul-Konvention die Einrichtung des bundesweiten Hilfetelefons und die Reformierung des Sexualstrafrechts in Deutschland maßgeblich befördert, noch bevor sie für Deutschland in Kraft getreten war! Und nach Inkrafttreten hat diese Konvention dazu geführt, dass wir seit dem 1. November 2022 eine unabhängige Berichterstattungsstelle gegen geschlechtsspezifische Gewalt am Deutschen Institut für Menschenrechte einrichten konnten und dass wir seit diesem Jahr konkret an der Errichtung einer nationalen Koordinierungsstelle arbeiten.
Auch all das hattet und habt ihr auf dem STREIT-Schirm: Sehr früh schon hatte die STREIT neue europäische und internationale Impulse und Entwicklungen analysiert für die deutsche Rechtsentwicklung: So im Arbeitsrecht unter dem Stichwort „Equal Pay“ mit Impulsen aus der EU-Politik, so z.B. die rasanten weltweiten Entwicklungen der Reproduktionstechnik mit Fragen zur Leihmutterschaft und der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Fragen der patriarchalen Ausbeutung von Frauenkörpern. Ebenfalls früh auf dem Plan hattet ihr die neuen Aspekte und weltweiten Erscheinungsformen von Frauenhass mit Artikeln zu Hass im Netz und anderer digital ausgeübter Gewalt. Und ihr habt dabei auch rechtssystematisch und -strategisch die Bedeutung völkerrechtlicher Verträge und Konventionen mitbehandelt und diskutiert – so insbesondere die Frauenrechts- und Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen – und dieses etwas sperrige Feld der rechtsfeministischen Welt zugänglich gemacht.
Wir sind in den 2020er Jahren. Worum geht es denn noch – oder nun? Für mich aus meiner Perspektive als Ministerialbeamtin und feministische Juristin geht es (leider) immer noch um alles.
Gleichstellungspolitik und feministische Rechtspolitik muss weiter die Finger in die vielen Wunden der Realität legen und darf sich nicht auf Nebengleise verladen lassen. Es geht immer noch und immer wieder um alles: um Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt, bei Lohn und Entgelt, bei Entscheidungs- und Führungspositionen, bei der Gesundheitsversorgung und sexuellen reproduktiven Rechten, beim Steuer- und Sozialrecht, bei der Teilhabe und Mitgestaltung von Politik und Gesellschaft. Es geht um die geschlechtergerechte Gestaltung nichtbezahlter Sorgearbeit. Es geht um Rechte und Rechtsschutz in einer durchdigitalisierten Welt und um Umweltrechte. Um Antidiskriminierung und eine intersektionale Perspektive auf und für mehrfach diskriminierte Gruppen. Es geht immer noch, wenngleich an verschiedenen Stellen etwas subtiler und feinmechanischer, um die Abschaffung und Änderung von Strukturen, die Abhängigkeitsverhältnisse begünstigen. Es geht aber auch immer noch um die groben Brocken, wie z.B. die Abschaffung des Ehegattensplittings. Und es geht immer noch um den Schutz vor Diskriminierung und um die Überwindung stereotyper und schädlicher Geschlechterkulturen, -rollen, -sozialisationen.
Wir haben im Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung das Jahrzehnt der Gleichstellung ausgerufen: „Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden“. Beseitigen oder zumindest sehr viel kleiner machen müssen wir in diesem 21. Jahrhundert in jedem Fall die Gewalt gegen und den Hass und die Verachtung gegenüber Frauen und Mädchen.
Gewalt an Frauen und Mädchen ist heute viel besser dokumentiert und verfolgbar, aber unfassbar hoch, ohne dass ein tatsächlicher Rückgang festzustellen wäre. Frauen können alles werden und in allen gesellschaftlichen Bereichen Top-Positionen erreichen – Kanzlerin und Spitzenpolitikerin, Bundesverfassungsrichterin, Vorständin und Aufsichtsrätin in Dax-Konzernen, IG-Metall-Vorsitzende, Astronautin, Rektorin, Polizeipräsidentin etc. – und sie werden gleichzeitig immer noch so häufig Opfer archaisch-patriarchaler Gewalt.
Wir dürfen im Gewaltschutz, in der Intervention, in der Verbesserung des Rechtssystems und der -praxis nicht nachlassen, und wir müssen gleichzeitig endlich auch tiefer gehen, früher ansetzen, an die Wurzeln und Ursachen und an das Täterverhalten gehen.
Liebe STREIT-Frauen, als ich mit Anna Hochreuter gebrainstormt habe, hat sie mir – und das finde ich nach meiner höchst subjektiven Wahrnehmung absolut zutreffend – zugeworfen und geschrieben: „Wir – die STREIT – sind häufig zeitlich und gedanklich vor dem, was dann zu rechtspolitischen Stellungnahmen im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses wird, wir arbeiten an den Grundlinien von Konfliktlösungsstrukturen, geben Raum zur Entwicklung von Gedanken, bevor Lösungsvorschläge in Gesetze gegossen werden.“
Ich möchte euch sagen: Das ist ein großer Schatz, ein großes Geschenk, eine große und besondere Fähigkeit von allen Redaktions-Frauen über all die Jahre und diese vier Jahrzehnte – auch und gerade für Menschen wie mich, die viel wollen und gleichzeitig insbesondere in einem Mach- und Machtbetrieb viel Energie aufwenden müssen, den Kopf immer wieder freizumachen, um vor dem Umsetzbaren erst einmal das Wollenswerte zu definieren.
„Was wir heute tun – und ich ergänze: und denken, – entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht.“ hat die schlaue, streitbare Marie von Ebner-Eschenbach gesagt.
Bitte – liebe STREIT-Frauen: Folgt weiter eurem feministischen Herzen, eurer Inspiration, Kreativität, eurem Mut und Biss und eurer geballten Fachlichkeit und werbt damit die nächsten STREIT-Generationen.
Damit wir irgendwann im 21. Jahrhundert ein patriarchal geprägtes Geschlechterverhältnis und Rechtssystem nur noch im Deutschen Historischen Museum betrachten müssen.
Wir brauchen euch, um die Welt zu einem besseren Ort für Frauen und damit für alle Menschen zu machen. Danke für diese funkelnden lila-blau-silbernen 40 Jahre!