STREIT 3/2023
S. 111
EGMR, Art. 14 EMRK, Art. 1 des Protokolls Nr. 1
500 Jahre alte Stiftung darf Frauen nicht weiter diskriminieren
Der Gerichtshof wendet auf die Auslegung einer Urkunde aus osmanischer Zeit das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK an, weil die Klage nach Inkrafttreten der Anerkennung des Rechts auf Individualbeschwerde des Staates (hier: Türkei) erfolgte.
Gerichte haben die positive Verpflichtung, auch im Rahmen privatrechtlicher Streitigkeiten die Parteien vor einer diskriminierenden Rechtsanwendung zu schützen.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des EGMR vom 05.07.2022, Dimici ./. Türkei – 70133/16
Eigene Übersetzung mit Hilfe von www.DeepL.com/Translator
Zum Sachverhalt:
Necmiye Dimici hatte 2010 beim Zivilgericht Diyarbakir den Stiftungsrat einer im Jahr 1536 im Osmanischen Reich gegründeten Stiftung auf Auszahlung des jährlichen Ausschüttungsbetrags verklagt, weil dieser ihr als unmittelbarer Nachkommin des Stifters zustehe. Die Stiftung, deren Vermögen 2015 auf 207 Millionen Euro geschätzt wurde, erfüllt die vom Stifter vorgesehenen wohltätigen Zwecke und schüttet den Rest an die direkten männlichen Nachkommen des Stifters aus. Sachverständige, die im Auftrag des Gerichts die Stiftungsurkunde aus der arabischen und türkisch-osmanischen Sprache übersetzten, kamen zu dem Schluss, dass der Stifter ausdrücklich nur männliche Nachkommen begünstigen wollte. Weibliche Nachkommen sollten lediglich einen Beitrag zum Lebensunterhalt erhalten.
Das Gericht wies die Klage ab mit der Begründung, der Wille des Stifters könne nicht im Nachhinein verändert werden. Die Berufung und Anrufung des Verfassungsgerichts blieben erfolglos. Beim EGMR verfolgten zuletzt die Söhne der verstorbenen Klägerin die Klage.
Aus den Gründen:
93. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die Beschwerde der Kläger gegen eine diskriminierende Behandlung bei der Verteilung der Einkünfte der Stiftung richtet und im Wesentlichen auf das Fehlen eines angemessenen Schutzes vor Diskriminierung seitens der Behörden abzielt.
94. Während die Modalitäten, nach denen das überschüssige Einkommen der Stiftung unter den Nachkommen des Gründers verteilt wird, und insbesondere die Voraussetzungen für den Anspruch auf einen Anteil daran in einem Text aus dem frühen 16. Jahrhundert festgelegt sind, wurden diese Regelungen von den Gerichten erst zu einem Zeitpunkt weit nach dem 28. Januar 1987, also nach dem Inkrafttreten der Anerkennung des Rechts auf Individualbeschwerde durch die Türkei, angewendet, d.h. zu einem Zeitpunkt, der in den zeitlichen Zuständigkeitsbereich des Gerichtshofs fällt. […]
140. Der Gerichtshof stellt fest, dass alle Argumente, die die Regierung zur Rechtfertigung der Gerichtsentscheidungen vorbringt, im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dass im Rahmen dessen, was sie als private Streitigkeit betrachten, der Wille des Gründers Vorrang haben solle, und zwar im Namen der Vertragsfreiheit und der mit dem Eigentumsrecht und dem Vereinigungsrecht verbundenen Vorrechte.
141. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Logik das Bestehen positiver Verpflichtungen, wonach Staaten die Pflicht haben, Diskriminierung zu verhindern, zu beenden und zu sanktionieren, untergraben oder sogar bestreiten würde. […]
142. Der Gerichtshof erinnert daran, dass weder der Grundsatz der Privatautonomie noch die daraus resultierende Vertragsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und das Recht, frei über sein Vermögen zu verfügen, absolute Rechte sind. Ganz im Gegenteil, sie unterliegen dem Rahmen und den Grenzen des Rechts und können nicht vom Gesetz abweichen, insbesondere nicht von den Regeln des ordre public, und schon gar nicht von der Verfassung. Das ergibt sich aus der Normenhierarchie. […]
148. Aus all dem ergibt sich, dass die Behörden ihrer positiven Verpflichtung, die Erblasserin der Kläger vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu schützen, nicht ordnungsgemäß nachgekommen sind.
Hinweis der Redaktion:
Vergleiche das Urteil des AG Memmingen vom 20.07.2021 – 13 S 1372/20, STREIT 1/2022, 42 f.: Das Gericht hob die Bestimmung in der Satzung eines Fischereivereins aus dem Jahr 1931, wonach nur Männer zum sogenannte „Ausfischen“ zugelassen wurden, wegen des Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot aus § 280 Abs.1 BGB auf.