STREIT 1/2025

S. 42-44

Alice Bertram: Zeit als Ressource im Recht

Nomos Verlag, Baden-Baden 2024

„Zeit haben“ ist eigentlich etwas Wunderbares, wird aber als solches in unserer Gesellschaft aktuell nicht selbstverständlich mit „Wohlstand“ assoziiert.

Zeit wird eher umgekehrt verstanden: „Zeit ist Geld“ – wer Zeit spart, ist effizienter und hat die Chance auf mehr Geld. „Zeit (übrig) haben“, das ist für „Loser“ oder bedeutet Leistungsverweigerung. Und das gilt heute verschärft insbesondere für Frauen und die Anforderungen an Zeiteffizienz bei unbezahlter Care-Arbeit.
„Cappuccino-Mütter“ stehen für Faulheit und sind ein beliebtes Feindbild. Mit möglichst viel haushaltsnahen Dienstleistungen und Kita-Zeiten soll private Care-Arbeitszeit eingespart und als Erwerbsarbeitszeit monetarisiert werden – so die offiziellen Politiken des Bundesministeriums für „Familien, Frauen, Senioren und Jugend“ in Deutschland. Sich wirklich Zeit nehmen für den privaten Haushalt, „sowas“ machen höchstens „Tradwifes“ (und lassen sich die vermeintliche Muße in der Küche dann doch als Instagram-Influencing bezahlen). Private Haushalte sind politisch erwünschte Haushalte, wenn sie komplett „durchfinanzialisiert“ und wegorganisiert sind. Regelungsziel all der diesbezüglichen Gesetze ist auch nicht „Zeit haben“, sondern die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Der gleichstellungspolitische Aspekt dieser Familienpolitik erschöpft sich im Kampf um die ökonomische Teilhabe von Frauen an einem Erwerbsarbeitsmarkt, der durch „männliche Erwerbsarbeit ohne Zeitbedarf für Care-Arbeit“ genormt ist. Was da nicht Erwerbsarbeitszeit ist, ist „Ruhezeit“. Und Care-Arbeit in dieser „Ruhezeit“ ist Privatvergnügen. Care-Arbeit ist keine Arbeit, die z. B. durch ein Arbeitszeitrecht zu schützen sein könnte. Mit dem Alltag der meisten Frauen hatte so ein (Nicht-)Verständnis von zeitlichen Ressourcen noch nie etwas zu tun. Und mit Feminismus – gar feministischer Ökonomie – und einer geschlechtergerechten Gesellschaft hat es auch wenig zu tun. Ergebnis ist die sog. Teilzeitfalle, in die Frauen so oft geraten.

Zeit ohne Bezug zu Geld zu verstehen – diese Verknüpfung ist bisher also nicht selbstverständlich. Dabei gilt: wer keine Zeit hat, dem nützt auch sein Geld nichts. Hier setzt Alice Bertram an mit ihrer Forschung, die „Zeit“ als Ressource mit dem Charakter eines eigenen Rechtsguts betrachtet. Und die diese „Zeit“ als unverzichtbaren Bestandteil eines Existenzminimums sieht, der neben ein monetäres Existenzminimum zu stellen und mit eigenem Grundrechtscharakter zu versehen ist. In der Rechtswissenschaft ist das bisher nicht so grundsätzlich durchdacht worden. Mit ihrer Promotion leistet Alice Bertram einen innovativen Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung. Entsprechend ist ihre Dissertation in der Reihe Fundamenta Juridica des Nomos-Verlags erschienen. 

„Haben wir ein Recht auf Zeit?“ ist die Ausgangsfrage der Arbeit. Die Einleitung konstatiert hier in den Rechtswissenschaften eine weitgehende Forschungslücke. Zwar liegen Zeitverwendungsstudien vor, insbesondere im Zusammenhang mit der (Un)Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es beschäftigen sich aber vorwiegend die Sozialwissenschaften mit der Thematik Zeit. Und dies, obwohl punktuelle einfachgesetzliche Regulierungen in hohem Maß die für die einzelne Person verfügbare Lebenszeit beeinflussen. Insoweit offenbart Bertrams Dissertation eine Denklücke insbesondere im Verfassungsrecht.
Vor der eigentlichen normativen Einordnung ihrer Frage nähert sich die Verfasserin dem Thema mit weitem interdisziplinärem Blick. In der Einleitung und im ersten Kapitel „Zeitbedürfnisse in der Gesellschaft und soziologische Zugänge“ gibt sie einen Überblick zum Phänomen „Zeit“ und dem gesellschaftlichen Verständnis von Zeit ganz allgemein. „Zeit“ als Ordnungsmittel (Kalender, Fristen) habe zum Beispiel eine ganz andere Funktion als „Zeit“ als „freiheitsermöglichendes“, dabei aber als Lebenszeit immer„endliches“und„nieübertragbares“Mittel. Ob ein Zeitmangel erlebt werde, hänge nicht nur von der Quantität der verfügbaren Zeit, sondern auch von der Qualität ab, die sich sowohl nach kollektiv erlebten Zeitrhythmen als auch nach individuell erlebter Zeitsouveränität bemessen könne. Die Verfasserin gibt hier auch einen Rückblick auf historische Zeitverständnisse von Aristoteles bis zur Industrialisierung, der sich einfach spannend liest. Außerdem befindet sich die Gesellschaft mit der Digitalisierung laut den zitierten sozialwissenschaftlichen Analysen aktuell in einem Strukturwandel, der als „technische und soziale Beschleunigung“ beschrieben wird. Denn paradoxerweise stehe dem ganzen Effizienzversprechen digitaler Technologie ein persönliches Erleben von Zeitnot gegenüber. Ständige Verfügbarkeit und Gleichzeitigkeiten vieler Ereignisse erforderten eine immer neue Orientierung und eine ständige Mehrleistung in gleicher Zeit. Dies führe aktuell zur Selbstausbeutung in einer Erwerbsarbeitswelt 4.0. Und die junge Generation verwahre sich offenbar zunehmend gegen diese Beschleunigungen und habe ein Bedürfnis nach Schutz der eigenen Lebenszeit vor Zeitzugriffen durch Dritte.
All diese und mehr Aussagen sammelt und sortiert die Verfasserin anhand von fünf Aspekten. „Erwerbsarbeitszeit“, „Care-Arbeitszeit“, „Strukturelle Steigerungen des Zeitmangels“, „Qualitative Dimensionen der Verfügbarkeit von Zeit“ und „Soziologische Ansätze zur Erfassung von Zeitbedürfnissen“ sind die Kapitel überschrieben, die der Rezensentin diesen Blick über den juristischen Tellerrand ermöglicht haben. Dass die eigene Lebenszeit nicht auf eine andere Person übertragen oder auf einer Zeitbank angespart werden kann, liegt eigentlich auf der Hand und lässt – überraschend bei einer Dissertationslektüre – Kindheitserinnerungen an Michael Endes unvergessliche „Momo“ aufkommen. Im Ergebnis fehlt es nach Ansicht der Verfasserin an einem Konzept, das Zeit als Ressource allgemein beschreibt und Ansätze dafür bietet, die gestaltende Wirkung von Recht auf die Ressource Zeit zu beschreiben. Dies sei aber unverzichtbar vor dem Hintergrund, dass Zeit als Voraussetzung jeden Handelns auch Voraussetzung für Autonomie sei.

Spezifisch juristisch wird die Arbeit im nächsten Kapitel „Zeit im Recht“. Dies startet mit der Feststellung, dass eine Legaldefinition von „Zeit“ im Recht nicht existiert. Zeit wird in bestehenden Gesetzen bisher verstanden in der Regel als Ordnungssystem und ansonsten rechtlich nur erfasst in Einzelaspekten mit ganz unterschiedlichen Zeitverständnissen. Die hier umfänglichen Ausführungen zur Historie von Uhrzeit und Kalendarien sind sehr lesenswert. Aber auch im Sonnund Feiertagsschutz existieren gut gemeinte Zeitgesetze, die Zeit zumindest punktuell schon als eine Art Ressource begreifen. Mit ihrem binären Ansatz von Erwerbsarbeit und Freizeit halten sie einer feministischen Kritik allerdings genauso wenig stand wie die (Erwerbs-)Arbeitszeitgesetze. Hauptanliegen der Verfasserin ist es, Zeit im Recht „einheitlich“ als Ressource zu betrachten und sie in ihren entscheidenden Aspekten zu definieren.
Recht könne dabei einwirken auf „Zeit als Ressource“ in drei Grundformen. Erstens in Form des „Schutzes von Zeit“, z. B. als arbeitsfreie Feiertage. Zweitens als „Pflicht zur Verwendung von Zeit“ mit qualitativ verschiedener Wirkung von kurzfristigen und langfristigen Pflichten. Und drittens als „Entwertung von Zeit“, die dazu zwingt, endliche Lebenszeit ohne eigene Autonomie darüber „nutzlos“ verstreichen zu lassen. Das überzeugt in der klaren Argumentation. In diesem Kapitel nimmt die Verfasserin immer wieder Bezug auf die im ersten Kapitel schon ausgeführten Überlegungen. Zwei Beispiele zur verpflichtenden „Verwendung“ und zur erduldeten „Entwertung“ von Zeit ziehen sich dabei durch die ganze Dissertation. Erstes Beispiel ist die Steuererklärungspflicht, die immer eine zeitliche Ressource einfordert. Wann und wie lange dafür Zeit aufgewendet wird, ist aber sehr variabel und insgesamt objektiv gesehen ein eher kurzer Zeitaufwand. Insbesondere kann auch eine Dienstleistung eingekauft werden, die die eigenen Zeitressourcen fast ganz schont. Trotzdem bleibt es eine Zeitverwendungspflicht. Zweites Beispiel ist die Wehrpflicht, manchmal auch die längere Freiheitsstrafe. Hier ist der Zugriff auf die Ressource Zeit schon objektiv gesehen sowohl qualitativ als auch quantitativ erheblicher, da eine deutlich längere Phase von Lebenszeit der autonomen Gestaltung unwiederbringlich und fixiert entzogen wird. Unabhängig davon, wie solche Zeiten subjektiv von den Betroffenen empfunden werden, besteht objektiv immer ein Unterschied gegenüber dem ersten Beispiel. Wie schwierig bzw. unmöglich sich ein realer Ausgleich für Zeitverluste gestaltet, macht die Verfasserin am Beispiel des Schadensersatzrechts auch noch einmal sehr deutlich.

Der darauffolgende mit fast 200 Seiten umfangreichste Hauptteil der Arbeit zum „Verfassungsrechtlichen Schutz von Zeit als Ressource“ ist etwas ermüdend, aber umso disziplinierter zu lesen. Hier wird das ganze juristische Einmaleins einer verfassungsrechtlichen Prüfung durchexerziert und in diesem Rahmen müssen viele Beispiele und Aussagen aus den ersten Kapiteln der Arbeit noch einmal wiederholend in Bezug genommen werden. Überzeugend hier die Entscheidung der Verfasserin für einen grundrechtlich „zweigeteilten“ Schutzbereich der Ressource Zeit. Es sei immer die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG betroffen, soweit ganz allgemein ein selbstbestimmtes Handeln durch das Einwirken auf die Ressource „Zeit“ verhindert wird (Beispiel Steuererklärungspflicht) und nicht schon ein spezielleres Grundrecht wie etwa die Berufsfreiheit eingreife. Dagegen sei der Schutzbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG erst eröffnet, wenn zeitbezogene Eingriffe über Monate oder Jahre andauern (Beispiel Wehrdienst/Freiheitsstrafen). Denn von diesem Grundrecht sei nur ein längerfristig angelegter Prozess der Persönlichkeitsentfaltung erfasst.
Rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in diese Zeitgrundrechte seien denkbar sowohl als „Entzug“ von Zeit als auch als „Entwertung“ von Zeit. Es sei immer eine gewisse Erheblichkeitsschwelle zu beachten. Die Verfasserin setzt diese für den Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit schon bei einer Stunde an, was gerade am Beispiel der Steuererklärung zeigt, wie unterschiedlich hier im Einzelfall gewertet werden könnte. Die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs prüft die Verfasserin nach ihrem objektiven Ansatz, der in den ersten Teilen der Arbeit argumentativ schon überzeugend vorgestellt wurde (und eine Steuererklärungspflicht natürlich problemlos zulässt). Interessant sind auch ihre gleichheitsrechtlichen Überlegungen, wenn etwa ein Entzug von Zeit ganz unterschiedliche Auswirkungen hat. Fehlende Barrierefreiheiten im öffentlichen Verkehr können z. B. zu ganz unterschiedlichen Zeitbelastungen führen und ganz erhebliche zeitliche Einschränkungen für Menschen mit Behinderungen bedeuten.

Überzeugend dann auch die Argumentation, dass sich aus diesen beiden Zeitgrundrechten ein Anspruch auf ein zeitliches Existenzminimum herleiten muss, welches neben das schon anerkannte monetäre Existenzminimum zu treten hat. Mit Geld allein lasse sich physische Existenz und soziale Teilhabe nicht sichern. Allen Menschen müsse dafür auch ausreichend Zeit gewährt werden. Hier kommt argumentativ wieder die Care-Arbeit ins Spiel. Denn damit insbesondere auch für soziale Teilhabe ausreichend Zeit verbleibt, darf diese nicht bereits von anderen „notwendigen“ Zeitverwendungen vereinnahmt sein. Kurz gesagt, Erwerbsarbeit, Care-Arbeit und für die physische Existenz notwendige Zeiten wie schlicht Schlaf dürfen zusammen nicht so große Zeitumfänge erreichen, dass eine soziale Teilhabe gefährdet ist. Hier findet die Verfasserin schöne Beschreibungen der Doppel- und Dreifachbelastungen in weiblichen Lebenswirklichkeiten. Und sie grenzt deutlich ab zu dem erst kürzlich vom BVerfG entwickelten ökologischen Existenzminimum. Da Zeit sich nicht „zurückgeben“ lässt, braucht es neben Kompensation primär präventive Zeitmaßnahmen zur Sicherung einen solchen Existenzminimums.
Am Ende steht ganz folgerichtig die Erkenntnis, dass Zeit – insbesondere im (Erwerbs-)Arbeitszeitrecht – bisher wenig sinnvoll geregelt ist. Die „Sicherung verfügbarer Zeit durch einfaches Recht“ führt die Arbeit im Einzelnen anhand aktuell bestehender Gesetze im Arbeits- bzw. im „Vereinbarkeitsrecht“ noch einmal detailliert aus. Das einfache Recht gewährleiste aktuell kein zeitliches Existenzminimum für alle. Die konsequente Forderung der Verfasserin, dass „Teilzeit“ als Erwerbsarbeitszeit eigentlich ausreichen muss, um eine Existenz bestreiten zu können, erscheint einem nach der Lektüre als fast schon banale Erkenntnis.

Am Ende der Dissertation hat die Verfasserin ihren Gesamtargumentationsverlauf noch einmal in 78 Thesen zusammengefasst. Hier wäre weniger mehr gewesen. Die Rezensentin hätte sich eine Verdichtung auf die rechtswissenschaftlichen Kernthesen gewünscht als einen kurzen schnellen Überblick über die nur verfassungsrechtlichen Argumentationen.
Ein klares Ergebnis der Arbeit ist, dass der Staat bisher nur die „Gruppe der Vollzeit-Erwerbstätigen, deren Care-Arbeit von anderen übernommen wird“ zeitpolitisch im Blick hat. Zeitpolitische Maßnahmen sind aktuell also schlicht verfassungsrechtlich geboten. Es ist klar, wie unendlich schwierig es werden wird, diese theoretischen Erkenntnisse in die Rechtspraxis umzusetzen. Die Widerstände werden erheblich sein. Wie gut, dass diese Arbeit geschrieben wurde. Zum Weiterlesen seien auch empfohlen die Überlegungen der Verfasserin zu einem Grundrecht auf Ineffizienz (Bertram „Recht auf Ineffizienz – Eine Untersuchung des Verhältnisses von Grundrechten zur Effizienz“ in: Greve/Gwiasda u.a. Hrsg., 60. ATÖR – Der digitalisierte Staat, Baden-Baden 2020, S. 87 ff.).

Anke Stelkens