STREIT 4/2018
S. 162-164
AG Bremen, § 1571 Abs. 1 Nr. 2 BGB
Alleinige Sorge bei anhaltendem Machtkampf der Eltern trotz Widerspruch des 16-jährigen Sohnes
1.) Wenn Eltern nach Trennung aus einer gewaltgeprägten Beziehung nur noch über die Kinder miteinander kommunizieren und diese unter einem anhaltenden Machtkampf um die Deutungshoheit über die familiären Auseinandersetzungen und deren Gründe leiden, ist die alleinige Sorge der Mutter zu übertragen, bei der die Kinder leben.
2.) Der entgegenstehende Wille des 16-jährigen Sohnes steht dem nicht entgegen, wenn dieser tatsächlich vom Vater nicht selbst betreut werden kann und er auch von der 11-jährigen Schwester nicht getrennt werden soll.
(Leitsätze der Redaktion)
Beschluss des AG Bremen vom 05.01.2019 – 65 F 1324/17 SO
Aus den Gründen:
I.
Die Kinder D. und Y.-F. stammen aus der bereits 2014 geschiedenen Ehe ihrer Eltern. (Beide Eltern haben türkische Wurzeln, die Kinder sind in Bremen geboren.) Seit dem 13.10.2011 lebten die Beteiligten getrennt, die Kinder leben seit der Trennung bei ihrer Mutter. Frau S. war nach wiederholten körperlichen Attacken seitens des Ehemannes die Wohnung zugewiesen worden. Die Kinder waren Zeugen der Partnerschaftsgewalt und haben in früheren Anhörungen und im Gespräch mit der Verfahrensbeiständin darüber auch berichtet.
Seit vielen Jahren streiten die Eltern, immer auch unter Einbeziehung der Kinder, um den Aufenthalt der Kinder. Der Vater, der lange Zeit keine eigene Wohnung, dann eine Zwei-Zimmer-Wohnung bewohnte, wollte die Kinder zu sich nehmen, weil diese von der Mutter geschlagen, nicht mit Essen versorgt und nicht schulisch betreut würden. Er telefonierte in dieser Zeit – 2015/2016 – mehrfach täglich mit den Kindern, kontrollierte über sie das Verhalten der Mutter und brachte Pizza vorbei, wenn die Mutter, seiner Meinung nach, wieder einmal nichts Ordentliches auf den Tisch gebracht hatte. Er plante seinerzeit, die Kinder zu sich zu nehmen und sich bei der Versorgung der Hilfe seiner bei der Agentur für Arbeit tätigen Schwester zu bedienen.
Den persönlichen Umgang mit den Kindern übte er ungeachtet einer bereits 2012 getroffenen gerichtlichen Regelung (65 F 1270/12) unregelmäßig aus, zuletzt Silvester 2016. Im Wesentlichen gab es, über längere Zeiträume hinweg, täglichen Telefonkontakt zwischen ihm und den Kindern; mit D. steht er bis heute in täglichem – wechselseitigen – Telefonkontakt. Wegen der räumlichen Enge in der Wohnung des Vaters übernachteten die Kinder dort nicht. Erst in den letzten Monaten gab es immer wieder einmal persönliche Kontakte zwischen dem Vater und den Kindern, und zwar vornehmlich wohl in der Wohnung der Großmutter väterlicherseits.
Die Eltern sprechen nicht miteinander. Kommunikation findet nur über die Kinder statt. Herr S. verachtet seine geschiedene Frau und missbilligt ihr Erziehungsverhalten, woraus er auch gegenüber den Kindern keinen Hehl macht; Frau S. ihrerseits lehnt den Kontakt ab und spricht nicht mehr mit dem Vater ihrer Kinder, nachdem sie sich allerdings jahrelang um einen Konsens bemüht hat, der, vor allem wegen der abwertenden Haltung des Vaters ihr gegenüber, nicht gelang.
Im Jahr 2016 vereinbarten die Eltern vor Gericht (65 F 4166/16 EASO), Elterngespräche beim Jugendamt führen zu wollen (Bl. 109 d.A.). Dazu kam es jedoch nicht. Zudem verpflichteten sich beide, die Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen, was ebenfalls nicht geschah.
Frau S. hat sprachliche Probleme, es fällt ihr schwer, Deutsch zu lernen. Sie bedient sich der Hilfe von Dolmetschern; jahrelang hatte sie Unterstützung durch eine Familienhilfe. Sie hält seit Jahren den Kontakt zu den Schulen der Kinder und kümmert sich um Nachhilfe für die Kinder, wenn sie selbst sie nicht in schulischen Belangen unterstützen kann.
Herr S. lehnte den Kontakt zu der im Haushalt der Mutter tätigen Familienhelferin ab; auch mit dem Erziehungsbeistand, der für D. eingesetzt worden war, wollte er keinen Kontakt haben. Mit dem Jugendamt arbeitet er nicht zusammen, Hilfeanträge, die Kinder betreffend, unterschreibt er nicht. An der Erstellung von Pässen für die Kinder wirkte er nicht mit.
Anstehende Fragen lassen beide Eltern von D. mit dem jeweils anderen kommunizieren. Die Mutter verfügt nicht über die Telefon-Nummer des Vaters; D. teilt sie ihr auch nicht mit, weil der Vater mit ihr nicht sprechen möchte.
Wegen der tatsächlich nicht bestehenden Kommunikation beantragt die Kindesmutter, ihr die elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder allein zu übertragen.
Der Kindesvater möchte, dass es bei der gemeinsamen Sorge bleibt.
Er wolle mit der Mutter keinen Kontakt, sei aber bereit alles zu unterschreiben, was die Mutter ihm zusenden würde. Er sei auch bereit, der Mutter in den Bereichen Gesundheit, Behörden, Schule und Passangelegenheiten eine Vollmacht zu erteilen. Eine Vollmacht erteilte er bislang jedoch nicht.
Auch D. hat sich für ein Fortbestehen der gemeinsamen Sorge der Eltern ausgesprochen, hätte es aber am liebsten, wenn der Vater allein die Sorge übernehmen würde. Y.-F. wäre mit der Alleinsorge der Mutter einverstanden, denn sie sieht nicht, dass die Eltern irgendetwas gemeinsam schaffen würden.
Das Jugendamt sieht die Kinder durch die angespannte Nichtkommunikation zwischen den Eltern belastet. Die Kinder vermissen den Vater. Eine Übertragung der elterlichen Sorge auf die Mutter allein hält das Jugendamt für angebracht. Die Kommunikation ausschließlich über die Kinder behindere die Kinder in ihrer Entwicklung und belaste sie. Zu einem Termin mit der Casemanagerin erschien der Kindesvater stark verspätet und war nicht bereit, einen Ersatztermin zu vereinbaren; die Kindesmutter sagte einen Termin ab und erschien zu einem neu vereinbarten ohne Absage nicht. […]
II.
Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass eine Aufhebung der gemeinsamen Sorge und eine Übertragung der elterlichen Sorge für D. und Y.-F. auf die Mutter allein dem Wohl der Kinder am besten entspricht, § 1671 Abs. 1 Nr. 2 BGB.
Die gemeinsame elterliche Sorge ist aufzuheben, denn die Eltern üben sie seit Jahren nicht mehr aus. Sie sprechen auch nicht miteinander, wobei es hier vor allem auf das Faktum, nicht hingegen auf die Verursachungsbeiträge ankommt. Auch die Möglichkeit der Vermittlung durch Dritte – Jugendamt, Erziehungsbeistand, Erziehungsberatung – nutzen sie nicht.
Die Kommunikation erfolgt ausschließlich vermittelt über die Kinder, vor allem den Sohn D., der durch die widersprüchlichen Angaben der Eltern und den über ihn ausgetragenen fortdauernden Streit und Machtkampf stark belastet ist. Eine Veränderung des Elternverhaltens ist nicht absehbar und auch nicht zu erreichen. Gerichtliche Auflagen (2016) haben an diesem Verhalten nichts geändert.
Das Gericht sieht die Notwendigkeit der Aufhebung der elterlichen Sorge ungeachtet des Umstandes, dass gegenwärtig aktuell keine Fragen von erheblicher Bedeutung für die Kinder zu klären sind. Die Eltern führen seit Jahren einen kräftezehrenden und für die Kinder belastenden Machtkampf. Herr S. liefert sozusagen ein Paradebeispiel dafür, wie ein unzweifelhaft Gewalt ausübender Partner sukzessive die Verantwortung für sein Verhalten nicht nur völlig negiert, sondern vollständig auf den anderen Teil, Frau S., abzuwälzen sucht. Noch immer dreht sich die – über die Kinder vermittelte – Diskussion in der Familie darum, wer die Deutungshoheit für die familiären Auseinandersetzungen und deren Gründe gewinnt.
Vor einem solchen äußerst belastenden und für die psychische Gesundheit der Kinder langfristig verheerenden Szenario bedarf es auch zum Schutz der Kinder vor Gefährdung einer deutlichen Akzentsetzung in dem elterlichen Machtkampf, in dem die Kinder einbezogen sind. Dies kann eine Aufhebung der gemeinsamen Sorge sein.
Nach Aufhebung der Sorge ist diese der Mutter allein zu übertragen. Die Kinder leben seit der Trennung der Eltern im Jahr 2011 bei der Mutter. Zum Vater hatten sie über lange Phasen keinen persönlichen Kontakt. Herr S. hat zwar an der Mutter viel auszusetzen; tatsächliche Verantwortung für die Kinder übernimmt er jedoch nicht. Auch würde er, wie mehrfach angekündigt, die Kinder von Dritten, seiner Schwester oder Mutter oder auch seiner älteren Tochter, der Halbschwester der Kinder, versorgen lassen.
Der Vater kann auch nicht die Sorge ausüben, während die Kinder sich in der Obhut der Mutter befinden und den Alltag mit dieser gestalten. Das scheitert schon an der fehlenden Kommunikation und an der abwertenden Haltung des Vaters gegenüber der Mutter.
Frau S. ist auch in der Lage, die Sorge für die Kinder allein auszuüben. Zum einen tut sie dies seit Jahren bereits. Sie hat Unterstützung in Anspruch genommen, um ihre Kompetenzen zu verbessern. Die von dem Vater behauptete Gewalttätigkeit den Kindern gegenüber hat es nicht gegeben, entsprechende Behauptungen der Kinder waren sowohl nach dem Eindruck der Richterin im Vorverfahren wie auch der Verfahrensbeiständin dem entsprechenden Einfluss des Vaters geschuldet. Vor dem Hintergrund von dessen abwertendem Verhalten gegenüber der Mutter neigen die Kinder auch dazu, Verhalten der Mutter zu dramatisieren, wenn sie selbst Konflikte mit ihr haben, die unvermeidlich im Erziehungsalltag sind. Wenn der Vater sie diesbezüglich in Ruhe lässt, leben die Kinder hingegen durchaus gern bei der Mutter und fühlen sich dort auch zuhause.
Frau S. versorgt die Kinder, regelt deren gesundheitliche und schulische Belange, auch Behördenangelegenheiten. Es sind keine Anhaltspunkte zutage getreten, dass sie dies nicht könnte, wie der Vater immer wieder behauptet. Sie ist daher aus Sicht des Gerichts in der Lage, die elterliche Sorge für die Kinder allein auszuüben.
Die Familienhelferin berichtete bereits 2016 der Verfahrensbeiständin, dass die Mutter sich sehr bemühen würde, im Erziehungsverhalten dazu zu lernen. Die Beziehung zwischen den Kindern und ihr sei eigentlich gut, würde aber durch die Interventionen des Vaters gegen die Mutter belastet (65 F 4166/16, Bl. 91). Ein großes Problem sei es, dass Frau S. mit den Kindern die familiäre Lage nicht eingehend erörtern würde. Frau S. möchte nicht ihrerseits die Kinder mit Darstellungen des elterlichen Streits belasten, weil der Vater dies schon im Übermaß tut. Diese Einschränkung des Erziehungsverhaltens ist letztlich ein Reflex des geschilderten Machtkampfes um die Deutungshoheit in der Familie und nicht allein der Mutter anzulasten. Die Übertragung der Sorge auf sie allein könnte im Übrigen Anlass geben, dass die Mutter sich in ihrer Erziehungshaltung gegenüber den Kindern gefestigt sieht und der ständigen Untergrabung ihrer Autorität durch die väterlichen Schilderungen leichter entgegen treten kann.
Dem Wunsch von D., die elterliche Sorge dem Vater allein zu übertragen, kann das Gericht aus den dargelegten Gründen nicht folgen. Sie entspricht nicht dem Kindeswohl. D. hat zwar seit Jahren den Wunsch, beim Vater zu leben, wobei dieser bislang niemals die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass der Junge bei ihm leben könnte, und er ihn auch nicht versorgen könnte. Beide Eltern waren sich bislang zumindest auch darüber einig, dass die Kinder nicht getrennt werden sollen, so dass auch aus diesem Grunde eine Übertragung der Sorge für D. allein auf den Vater nicht in Betracht kommt. […]