STREIT 3/2018

S. 125-126

Anmerkung zu den Urteilen des LSG Baden-Württemberg und des SG Kiel

Wer sich mit sozialem Entschädigungsrecht befasst, kennt die unterschiedlichen Beweismaßstäbe des OEG: Vollbeweis, Wahrscheinlichkeit und Glaubhafterscheinen.
Schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen bedürfen grundsätzlich des Vollbeweises, d.h. die Tatsachen müssen zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen, wobei verbleibende Restzweifel unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten.
Für den Nachweis der Kausalität zwischen schädigendem Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BSG, Urteil vom 14.04.2013 – B 9 V1/12 R, s. dazu auch: Claudia Böwering-Möllenkamp, Die Begutachtung seelischer Folgen sexuellen Missbrauchs nach dem OEG, STREIT 4/2015, S. 163-173). Ein besonders hoher oder mit an Sicherheit grenzender Grad der Wahrscheinlichkeit wird nicht verlangt, es genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit in dem Sinne, dass eine der Möglichkeiten „deutlich“ überwiegt und andere Möglichkeiten daneben nicht ernstlich in Betracht kommen.
Der dritte, mildeste Beweismaßstab findet sich über den Verweis in § 6 Abs. 3 OEG in § 15 KOVVfG, wonach bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen sind, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Bei der Glaubhaftmachung muss im Unterschied zur Wahrscheinlichkeit nicht absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machenden Tatsachen sprechen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R), sondern es reicht aus, dass bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten eine davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht, m.a.W. muss von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen.
Die Beweiserleichterung nach § 15 KOVVfG kommt erst dann zum Zuge, wenn andere Beweismittel objektiv nicht vorhanden sind, etwa wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 3/12 R; Urteil vom 15.12.2016, B 9 V 3/15) und damit „erst recht“, wie es das Sozialgericht Kiel in der abgedruckten Entscheidung vom 13.01.2017 zutreffend formuliert, wenn eine Aussage des mutmaßlichen Täters nicht vorliegt und auch nicht mehr beschafft werden kann.
Eigentlich ganz einfach und naheliegend und dennoch ist es in der Praxis häufig so schwer, berechtigte Ansprüche durchzusetzen, was das Urteil des Sozialgerichts Kiel illustriert. Die Versorgungsämter tun sich schwer mit Fällen, in denen sexueller Missbrauch lange zurückliegt und die Antragstellerin sich „verspätet“ und nur lückenhaft erinnert. Dass es auch ein traumabezogenes Verdrängen und Vergessen gibt, wird dabei ignoriert. Unsäglich ist auch die Unterstellung der – insoweit fachärztlich beratenen – Verwaltungsbehörde, die Erinnerungen der Klägerin an den sexuellen Kindesmissbrauch seien ihr erst im Rahmen der Traumatherapie von Fachleuten eingepflanzt worden und es seien fremdsuggestive Prozesse wirksam geworden, die nicht ausschließen, dass es sich um bloße Scheinerinnerungen handele. Diese bloße theoretische Möglichkeit, die das Sozialgericht Kiel in der Entscheidung als „nicht nachvollziehbar“ bezeichnet und diese Einschätzung ausführlich begründet, führt im Ergebnis nicht dazu, den Vortrag als nicht glaubhaft erscheinen zu lassen.
Bei gehöriger Anwendung der unterschiedlichen Beweismaßstäbe, insbesondere der Glaubhaftmachung, könnte Leid erspart werden. Es tut nicht Not, den Geschädigten zu unterstellen, sie suchten für ihre – vor allem psychischen Erkrankungen – eine Erklärung und flüchteten sich in Wahnvorstellungen von angeblichem, tatsächlich aber nur eingebildeten Missbrauch. Es tut nicht Not, auf Traumabehandlungen spezialisierten Kliniken und Fachkräften zu unterstellen, sie generieren ihre eigenen Traumaopfer und suggerierten Missbrauch, wo keiner stattgefunden hat.
Auch Verfahren selbst können für Geschädigte zusätzlich belastend sein und weitere Gesundheitsstörungen nach sich ziehen, so hat z.B. das LSG Baden-Württemberg (oben abgedrucktes Urteil vom 07.12.2017,L 6 VG 6/17) anerkannt, dass es durch das Strafverfahren gegen den Täter zu einer nachweisbaren weiteren Schädigung der dortigen Klägerin gekommen ist, die nach eigener Schilderung das Strafverfahren so erlebt hat, dass ihr die Würde weggenommen wurde, allein dadurch, dass sie keine Aussage machen konnte, weil es nach einem Geständnis des Täters einen Deal gab und er wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person (der dortigen Klägerin) nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Die Schadenswiedergutmachung, die dazu geführt hat, dass der Täter 100 € im Monat an sie zahlen muss, wurde von ihr so aufgefasst, dass der Täter frei gekommen ist, während sie bezahlt werde wie eine „Hure“. Das Erleben des Gerichtsverfahrens wurde deshalb – nach Einholung eines Sachverständigengutachtens – als weitere psychische Beeinträchtigung eingestuft, die zu einer messbaren Verschlechterung geführt hat (LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 07.12.2017,L 6 VG 6/17).
Diese Frage stellte sich in dem Sachverhalt, den das Sozialgericht Kiel (im oben stehenden Urteil vom 13.01.2017 – L 2 VG 43/17) zu entscheiden hatte, nicht. Hier ging es vornehmlich um den Nachweis bzw. die Glaubhaftmachung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Klar ist, dass ebensowenig wie bei den anderen Beweismaßstäben des sozialen Entschädigungsrechts auch bei der Glaubhaftmachung die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht ausreicht, um den Vortrag glaubhaft erscheinen zu lassen. So kann allein aus der Diagnose z.B. einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung nicht auf einen sexuellen Kindesmissbrauch geschlussfolgert werden, auch wenn – auch dazu ist die Entscheidung des Sozialgerichts Kiel lesenswert – wissenschaftliche Studien den Zusammenhang zwischen Kindheitstraumatisierungen und Dissoziation empirisch belegen. So zeigt eine Meta-Analyse von über 38 Studien einen positiven Zusammenhang zwischen sexuellen Gewalterfahrungen in der Kindheit und späteren Symptomen in den Bereichen Angst, Wut, Depression, Retraumatisierung, Selbstverletzungen, sexuelle Probleme, Zwanghaftigkeit, Dissoziativität, posttraumatische Reaktionen und Somatisierung.
Ob die Angaben glaubhaft gemacht sind, entscheidet das Gericht unter Berücksichtigung sämtlicher Aspekte des Einzelfalles und es ist mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B -, LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 07.12.2017, L 6 VG 6/17). Das SG Kiel hat darauf abgestellt, dass andere mögliche Ursachen für die unbestrittenen Symptome nicht ersichtlich sind.
Im vorliegenden Fall hat sich die Klägerin nicht durch das Verwaltungsverfahren und die Scheinargumente der Verwaltungsbehörde entmutigen lassen, sondern sich den Strapazen des gerichtlichen Verfahrens mit weiteren Begutachtungen unterzogen und war jedenfalls in erster Instanz erfolgreich. Die beklagte Behörde hat Berufung eingelegt, die beim Schleswig Holsteinischem Landessozialgericht anhängig ist (L 2 VG 43/17).