STREIT 2/2017
S. 81-82
VG Stuttgart, § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 3 b Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2, § 3c Nr. 3, § 3e AsylG
Asyl für Zwangsverheiratete nach Ehebruch in Gambia
1. Zwangsverheiratungen stellen eine besondere Form der geschlechtsspezifischen Verfolgung dar, die in der Regel nur Frauen treffen.
2. Im Geltungsbereich der Schari’ah stellt der Geschlechtsverkehr einer Frau mit einem anderen als ihrem zwangsweise zugewiesenen Mann die Verletzung geschlechtsspezifischer Regeln sowie der Ehre der Familie dar und führt zu einer schweren Bestrafung, potentiell Tötung, der Frau.
3. Die Bedrohung durch Familienmitglieder stellt eine Verfolgung i.S. des § 3c Nr. 3 AsylG dar, sofern der Staat ein Einschreiten wegen der Einordnung als innerfamiliäre Streitigkeit und der Duldung der Anwendung der Schari’ah verweigert.
4. Ein interner Schutz für Alleinerziehende ohne familiäre Unterstützung besteht in Gambia nicht; bei einer Abschiebung nach Gambia werden Frauen an ihre Familie ausgeliefert.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Stuttgart vom 14.12.2016, A 2 K 1026/16
Aus dem Sachverhalt
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.[…]
Die Klägerin ist gambische Staatsangehörige und gehört der Volksgruppe der Mandingo an. […] Es bestehe für sie angesichts der Bedrohung durch ihren Vater wegen eines Ehebruchs zumindest eine Rückkehrgefährdung. 
Die Klägerin behauptet, wegen eines schweren Zerwürfnisses mit ihrer Familie ausgereist zu sein. Ihr Vater, ein religiöser Muslim, habe sie dem örtlichen Imam im Dorf, einem 60jährigen Mann, als Ehefrau versprochen. Als sie eines Tages im Jahr 2013 wieder in ihr Heimatdorf zurückgekehrt sei – außerhalb der Regenzeiten habe sie bei ihrer Schwester in der Nähe der Hauptstadt Banjul gewohnt – habe man ihr mitgeteilt, dass hinsichtlich der Ehe mit dem Imam in der Moschee schon die notwendigen Vereinbarungen getroffen worden seien, die Ehe sei damit wirksam geschlossen. Eine offizielle Zeremonie oder eine behördliche Entscheidung habe es nicht gegeben. Sie habe dann die Nächte bei dem Imam bzw. in dessen Haus verbringen müssen. Der Imam habe auch Geschlechtsverkehr mit ihr gewollt. Diesen habe sie jedoch verweigert und sei während der Nächte zu ihrem eigentlichen Freund im Heimatdorf gegangen. Zwar sei der Imam darüber unglücklich gewesen, die Nachbarn hätten ihm jedoch gut zugesprochen und ihm geraten, geduldig zu sein. 
Allerdings sei sie kurze Zeit später schwanger geworden, Vater des Kindes sei ihr damaliger Freund, ein Mann namens „K.“ S. Ihre Mutter habe schnell die Anzeichen der Schwangerschaft bemerkt und sie habe ihrer Mutter alles gebeichtet. Der Vater habe gemerkt, dass etwas nicht stimme und ihre Mutter zur Rede gestellt, die dann nicht mehr habe schweigen können. Der Vater sei außerordentlich erbost gewesen, insbesondere auch, weil es sich bei ihrem Ehemann um den Imam gehandelt habe. Er sei letztlich zu dem Entschluss gekommen, dass er sie töten müsse, um seine Ehre auch in dem Heimatdorf wiederherzustellen. Dementsprechend habe er sie mit einem Buschmesser angegriffen. Sie habe sich zu ihrer Schwester retten können, wovon allerdings ihr Vater nicht erfahren habe. 
Zum dem Vater des Kindes habe sie keinen Kontakt mehr, weil dieser ihr nicht beigestanden habe. Sie gehe davon aus, dass sie für den Fall, dass sie nach Gambia zurückkehre, mit Gewalt seitens ihres Vaters oder eines ihrer Brüder rechnen müsse und sie sich vor dieser nicht schützen könne, was insbesondere auch deshalb gelte, weil sie nunmehr ein zweites nichteheliches Kind habe. Dieses stamme von einem deutschen Staatsangehörigen gambischer Herkunft ab. […]
Aus den Gründen
[…] Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil ihr in ihrem Herkunftsland Gambia seitens nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3 c Nr. 3 AsylG eine Verfolgung i.S. des § 3 Abs. 1, 4 i.V.m. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG droht und die in § 3c Nr. 1 AsylG genannten Akteure erwiesenermaßen nicht in der Lage sind, ihr im Sinne von § 3d AsylG Schutz vor dieser Verfolgung zu bieten. […]
Diese Voraussetzungen für eine Glaubhaftmachung eines Verfolgungsgrundes sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin hat mit der Schilderung ihres Schicksals glaubhaft gemacht, dass ihr für den Fall ihrer Rückkehr nach Gambia eine Gefahr für Leib und Leben droht. Dabei handelt es sich um eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG, denn die Klägerin muss befürchten, wegen ihres von ihrem Vater als „ehebrecherisch“ eingestuften Verhaltens in Form der Beziehung zu einem anderen Mann bei zumindest nach den örtlichen Regeln bestehender Ehe an Leib oder Leben bedroht zu sein (vgl. Keßler in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3a Rn. 19 m.w.N.). 
Auf Grundlage der im muslimischen Kulturkreis der Klägerin und ihres Vaters bei Familienangelegenheiten zur Anwendung kommenden Schari‘ah (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Gambia, 27.05.2015, S. 15 m.w.N.) hat die Klägerin dadurch, dass sie mit einem anderen als ihrem zwangsweise zugewiesenen Mann Geschlechtsverkehr hatte und von diesem zudem ein Kind erwartete, geschlechtsspezifische Regeln verletzt und die Ehre der Familie „beschmutzt“ mit der Folge, dass sie eine schwere Bestrafung, potentiell auch die Tötung, zu erwarten hat (zur Benachteiligung von Frauen im Geltungsbereich der Schari‘ah vgl. auch Schirrmacher, Internationale Gesellschaf für Menschenrechte [IGFMJ, Frauen unter der Scharia: Strafrecht und Familienrecht im Islam, www.igfm.de). 
Der geschlechtsspezifische Charakter der Verfolgung ergibt sich dabei vorliegend daraus, dass es zu dem von der Familie als regelwidrig angesehenen und zu sanktionierenden Verhalten der Klägerin nur kommen konnte, weil sie vom Vater zwangsverheiratet wurde, obwohl bereits eine Beziehung zu einem anderen Mann bestand. Zwangsverheiratungen als besondere Form der Diskriminierung treffen dabei allgemein lediglich Frauen.
Die Bedrohung durch ihren Vater stellt auch eine den Anforderungen des § 3c Nr. 3 AsylG entsprechende Verfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur dar. Als Verfolger in diesem Sinne kommen auch Familienmitglieder in Betracht (Möller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3c AsylG Rn. 7). Auch ist es erwiesen, dass der gambische Staat nicht in der Lage ist, Schutz vor der Bedrohung durch die Familie zu bieten. Der gambische Staat, insbesondere die gambische Justiz, dulden die Anwendung der Schari‘ah und diskriminieren Frauen (vgl. BFA, aaO). 
Aktuelle Quellen zur rechtsstaatliche Situation im ländlichen Raum Gambias in Bezug auf die Anwendung der Schari‘ah und zur dortigen Sicherheitslage liegen zwar nicht vor. Im Jahr 2010 stellte das Auswärtige Amt jedoch bereits fest, dass Polizei und Staatsanwaltschaft Konflikte, die auf Zwangsverheiratungen beruhen, als private und innerfamiliäre Probleme betrachtet und ein Einschreiten insoweit zumeist verweigern (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 81). Angesichts der Ausrufung eines islamischen Staates durch den damaligen und faktisch noch amtierenden Präsidenten Gambias Jammeh im Dezember 2015 ist nicht davon auszugehen, dass sich die Bereitschaft staatlicher Organe zum Vorgehen gegen vermeintlich auf islamisch religiöser Grundlage gerechtfertigtes Verhalten erhöht hat. 
Dabei ist auch zu sehen, dass sowohl die Gerichte als auch die Sicherheitskräfte in Gambia grundsätzlich weitgehend ineffizient und korrupt sind, eine Rechtsstaatlichkeit damit lediglich formal gesichert ist und häufig formal strafbares Verhalten straffrei bleibt (U.S. Department of State, The Gambia 2015 Human Rights Report, S. 5, BFA, aaO, S. 7f. m.w.N.).
Schließlich ist auch nicht zu erkennen, dass die Klägerin in Gambia internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG finden könnte. Hiergegen spricht bereits, dass abgeschobene Personen von der Einwanderungsbehörde in Empfang genommen und danach den Familien, von denen vorliegend gerade die Bedrohung ausgeht, übergeben werden (vgl. BFA, aaO, S. 19). Zudem ist nicht ersichtlich, wie eine unverheiratete Frau mit zwischenzeitlich zwei unehelichen Kindern ohne familiäre Unterstützung in Gambia auf zumutbare Weise Zuflucht finden soll. […]
Mitgeteilt von RAin Ursula Damson-Asadollah, Stuttgart