STREIT 3/2024

S. 137-138

VG Hannover

Asylfolgeantrag wegen westlicher Prägung junger Irakerin zulässig

Soweit Frauen/Mädchen im Nachgang zu einer (teilweise) ablehnenden Asylentscheidung substantiiert vortragen, nach Erlass dieser Entscheidung einen „westlichen Lebensstil“ im Sinne eines freiheitlichen und emanzipierten Denkens und Handelns angenommen und verinnerlicht zu haben, ist die Ablehnung eines Asylfolgeantrages als unzulässig rechtswidrig.
(amtlicher Leitsatz)

Urteil des VG Hannover vom 11.10.2023, Az. 3 A 3158/23

Aus dem Sachverhalt:

Die 18-jährige Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylfolgeantrages als unzulässig. Die aus dem Shingal (Irak) stammende Klägerin reiste 2016 […] ein und stellte einen Asylantrag. Die Beklagte stellte daraufhin […] das Vorliegen eines Abschiebungs­verbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf die Republik Irak fest, lehnte den Antrag jedoch im Übrigen (bestandskräftig) ab. Unter dem

20. Mai 2022 stellte der damalige Vormund der Klägerin für diese einen Asylfolgeantrag. Zu Begründung trug er vor, die Klägerin sei durch ihren langen Auf- enthalt in der Beklagten „sehr westlich orientiert“. Sie treffe ihre eigenen Entscheidungen, was ihre Zukunft betreffe, und ließe sich nicht vorschreiben, wen sie zu heiraten habe. Sie pflege einen „altersentsprechenden westlichen Kleidungsstil“ und trage kein Kopftuch. Bei ihrer Verabschiedung von der Haupt- und Realschule im Jahr 2017 sei sie mit MitschülerInnen in Form eines Hip-Hop-Tanzes aufgetreten. Hiervon sei ein Foto in der Zeitung veröffentlicht worden. Sie habe sich zudem in verschiedenen Sportarten ausprobiert und im Jahr 2017 den zweiten Platz bei einer Fünfkampf-Meisterschaft im Schwimmen belegt. Der Vormund selbst betreue die Klägerin seit Juni 2020. Diese gehe regelmäßig zur Schule und habe gute Noten. Sie sei stets bestrebt, besser zu werden, was man auch den Zeugnissen entnehmen könne. Nach der 10. Klasse wolle sie zur Berufsschule wechseln, um ihren erweiterten Sekundarabschluss I zu erwerben. Sie sei eine sehr offene, freundliche und hilfsbereite Person, die sich sehr anstrenge, um studieren oder zumindest einen guten Beruf ausüben zu können. Ihre Schwester habe ebenfalls erfolgreich die Schule abgeschlossen und mache eine Ausbildung zur Pflegeassistentin. […]

Aus den Gründen:

Die zulässige Klage […] ist begründet. […]

[D]ie Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrens­gesetzes (VwVfG) liegen im Fall der Klägerin vor.

Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG durchzuführen, wenn die Ausländerin/der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt. Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG müssen sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten der Ausländerin/ des Ausländers geändert haben (Nr. 1) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine für sie/ihn günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO) bestehen (Nr. 3). § 51 Abs. 1 VwVfG fordert einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung (Art. 16a des Grundgesetzes – GG) oder zur Zuerkennung des internationalen Schutzes (§§ 3 ff., 4 AsylG) zu verhelfen (vgl.: VG Bremen, Urteil vom 22. August 2023 – 7 K 263/22 -, Rn. 30, juris; Bergmann/ Dienelt/Bergmann, 14. Aufl. 2022, AsylG § 71 Rn. 18, m. w. N.). Es genügt schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2000 – 2 BvR 39/98, Rn. 32, juris; bestätigend BVerfG, Beschluss vom 4. Dezem- ber 2019 – 2 BvR 1600/19, Rn. 20, juris).

Vorliegend besteht vor dem Hintergrund die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung, dass die Klägerin schlüssig und substantiiert vorgetragen hat, nunmehr – also im Nachgang zu dem Zeitpunkt, in welchem der Bescheid vom 9. März 2018 erlassen wurde – „westlich geprägt“ im Sinne eines freiheitlichen und emanzipierten Denkens und Handelns zu sein, wobei dieser Lebensstil nach diesem Vortrag auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Nach der ganz überwiegenden Rechtsprechung (vgl. z. B.: VG Hannover, Urteil vom 5. Juni 2023 – 3 A 1652/19 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 30. Mai 2023 – 12 A 4514/21 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 10. Mai 2023 – 6 A 2409/23 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 27. Oktober 2022 – 3 A 5642/18 -, juris; VG Regensburg, Urteil vom 25. Oktober 2021 – RO 13 K 19.30604 -, juris; VG Göttingen, Urteil vom 7. Juni 2021 – 2 A 44/18 -, juris; VG Dresden, Urteil vom 18. Mai 2021 – 13 K 2013/19.A -, juris; VG München, Urteil vom 17. März 2020 – M 19 K 16.32656 -, juris; VG Stade, Ur- teil vom 23. Juli 2019 – 2 A 19/17 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 10. Dezember 2018 – 6 A 6837/16 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 3. Mai 2019 – 4 K 3092/17.A -, juris) ist irakischen Frauen/Mädchen, bei denen die o. g. Voraussetzungen erfüllt sind, die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, da Frauen/Mädchen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen/Mädchen im Irak auf Grund einer «westlichen Prägung» entgegenstellen oder denen ein solches Verhalten von der irakischen (Mehrheits-)Gesellschaft im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben wird, wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen (Mehrheits-) Gesellschaft als andersartig betrachtet werden und aufgrund dessen einer beachtlichen Verfolgungs­gefahr ausgesetzt sind.

Im hiesigen Fall ist aufgrund des diesbezüglich sehr substantiierten und schlüssigen Vortrages sogar mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Beklagte hat ihre rechtswidrige Entscheidung in völliger Verkennung der o. g. Sach- und Rechtslage getroffen.

Es kann dahinstehen, ob vorliegend die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG erfüllt ist, da diese in Fällen der vorliegenden Art vor dem Hintergrund der Europarechtswidrigkeit (wegen des Anwendungs­vorrangs des Europarechts) in solchen Konstellationen nicht gilt (vgl. diesbezüglich EuGH, Urteil vom 9. September 2021 – C-18/20 – [XY/Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl], juris). […]