STREIT 3/2024
S. 138-140
VG Köln
Subsidiärer Schutz wegen drohender Trennung von den Kindern – Tschetschenien
1. Geschiedenen Frauen in Tschetschenien droht die dauerhafte Trennung von den aus der Ehe hervorgegangenen gemeinsamen Kindern. Dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia sowie den traditionellen Moralvorstellungen wohnt der Grundsatze inne, dass die Kinder im „Eigentum“ des Vaters stehen. Anderslautende Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt.
2. Für Mütter, die sich von dem Vater ihrer Kinder wegen häuslicher Gewalt getrennt haben und die weiter mit ihren Kindern zusammenwohnen möchten, gibt es in der russischen Föderation keine innerstaatliche Fluchtalternative, da der Vater der Kinder aufgrund seiner Auskunftsrechte den Aufenthaltsort im ganzen Land ausfindig machen kann.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Köln vom 24.10.2023, Az. 6 K 177/19.A
Zum Sachverhalt:
Die Klägerin zu 1. reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren Kindern, dem 2014 geborenen Kläger zu 2. und der 2015 geborenen Klägerin zu 3. im Juni 2017 in die Bundesrepublik ein und stellte einen Asylantrag. Es handelt sich um russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Der Asylantrag wurde bei der Anhörung beim Bundesamt zunächst mit der Verfolgung des Ehemanns/Vaters der Kläger*innen begründet und vom Bundesamt abgelehnt.
In der Klagebegründung trug die Klägerin zu 1. vor, dass sie sich Ende Dezember 2017 von ihrem Ehemann aufgrund seiner gegen sie gerichteten Gewaltausbrüche getrennt habe und auf ihren Antrag hin umverteilt worden sei. Sie werde von ihrem Ehemann und ihrer Familie bedroht, ihr die Kinder wegzunehmen und sie selbst zu töten. Sie könne sich auch nicht innerhalb der Russischen Föderation an einem anderen sicheren Ort niederlassen, da sie keinen Inlandspass besitze. Ohne Inlandspass erhalte sie auch keine Sozialleistungen.
Aus den Gründen:
[…] Die Kläger haben […] einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes. lnsoweit ist der Bescheid vom 17. Dezember 2018 rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten […]. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
I. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. […]
II. Die Kläger haben allerdings einen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG, § 4 Abs. 1 AsylG.
[…] Gemessen an diesen Maßstäben ist das Gericht in diesem konkreten Einzelfall zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Tschetschenien die Trennung voneinander und den Klägern zu 2. und 3. die erzwungene Unterbringung und Erziehung durch den Vater, sollte dieser dahin zurückkehren, oder durch die Familie des Ehemannes bzw. des Vaters, die nach den Schilderungen der Klägerin zu 1. die Herausgabe der Kinder sowohl von ihr als gegenüber ihrer Familie verlangt haben, beachtlich wahrscheinlich droht.
Die beachtlich wahrscheinliche erzwungene Trennung der Kläger voneinander stellt eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die zwangsweise Trennung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das grundlegende Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und ihrer Grundrechte auf Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) dar. (Vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 24.01.2023 – 16 A 157/20, juris, S. 9 f., VG Potsdam, Urteil vom 11.12.2019 – 6 K 1085/16.A, juris, Rn. 35 m.w.N.)
Das Gericht ist ausgehend von den Schilderungen der Klägerin zu 1. im Termin zur mündlichen Verhandlung in Zusammenschau mit ihren gegenüber der Dipl. Psych. NN getätigten Angaben zunächst von der Trennung der Klägerin zu 1. von ihrem Ehemann überzeugt sowie davon, dass sie im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht wieder mit ihm zusammenleben will.
So hat die Klägerin zu 1. zu den Hintergründen für die Trennung von ihrem Ehemann im Termin zur mündlichen Verhandlung ausgeführt, sie sei bereits in Tschetschenien von ihrem Ehemann verprügelt und beschuldigt worden. Dies hatten auch die Kinder miterlebt. Als sie dann ungefähr sechs Monate in Deutschland gewesen seien, sei es zur Trennung gekommen, als er mit den Demütigungen und Verletzungen nicht habe aufhören können, obwohl es in Deutschland andere Gesetze gebe. […] sie habe dann bei der Info des Wohnheims beantragt, sie an einen anderen Ort zu verlegen. […] Diese Ausführungen decken sich mit den Angaben, die die Klägerin zu 1. gegenüber Frau Dipl. Psych. NN gemacht hat. […] Der Umstand, dass die Kläger aufgrund Vorfälle häuslicher Gewalt durch den Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. den Vater der Kläger zu 2. und 3. Mitte Dezember 2017 umverteilt worden sind und eine Auskunftssperre im Melderegister eingetragen worden ist, ist zudem im Verwaltungsvorgang der Beklagten dokumentiert […]
Ferner hat die Klägerin zu 1. sowohl im Termin zur mündlichen Verhandlung als auch gegenüber Frau Dipl. Psych. NN angegeben, dass sich der Kontakt der Kinder zu ihrem Vater seit der Trennung auf regelmäßige Telefonate beschränke und es zwei Mal ein persönliches Treffen zwischen ihm und den Kindern gegeben habe.
Das Gericht ist ebenfalls davon überzeugt, dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Tschetschenien die Trennung voneinander und den Klägern zu 2. und 3. die erzwungene Unterbringung und Erziehung durch den Vater, sollte dieser dahin zurückkehren, oder durch die Familie des Ehemannes bzw. Vaters, die nach den Schilderungen der Klägerin zu 1. die Herausgabe der Kinder sowohl von ihr als gegenüber ihrer Familie verlangt haben, beachtlich wahrscheinlich droht.
Diesbezüglich hat die Klägerin zu 1. sowohl im Termin zur mündlichen Verhandlung als auch gegenüber Frau Dipl. Psych. NN vorgetragen, dass die Eltern ihres Mannes regelmäßig zu ihren Eltern gekommen seien und die Kinder von diesen zurückverlangt hatten, nachdem sie ihren Mann verlassen und den Kontakt zu ihm abgebrochen habe. Ihr Vater habe diesen dann zugesagt, ihnen die Kinder bei einer Rückkehr zu geben. Ferner hat die Klägerin zu 1. ausgeführt, dass in Tschetschenien die Kinder beim Mann bleiben würden und die Mutter die Kinder nur sehen könne, wenn der Mann dies wolle. Ihr Mann habe ihr aber mehrfach gesagt, dass sie die Kinder nicht mehr sehen würde.
Dieser Vortrag der Klägerin zu 1. deckt sich mit der vorliegenden Erkenntnislage.
Den vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich entnehmen, dass in der Republik Tschetschenien neben dem russischen Recht traditionell auch das islamische Recht und das Gewohnheitsrecht (Adat) eine Rolle spielen. Im Einklang mit den Adat, die besagen, dass Kinder bei der Familie des Vaters leben sollten und dass die Kinder das „Eigentum“ des Vaters seiner Familie seien, kämen Kinder, deren Eltern in Tschetschenien geschieden werden, zum Vater. Sehr kleine Kinder (Jungen bis sieben Jahre, Mädchen bis zu 9 Jahre bzw. bis zum Erreichen der Volljährigkeit) lebten zunächst bei ihrer Mutter und würden später von ihrem Vater übernommen und die Mutter dürfe diese möglicherweise besuchen.
(Vgl. Österreichisches Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 03.02.2023, S. 87 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Tschetschenien: 1) Soziale Akzeptanz von Scheidung, Schlichtungsmöglichkeiten, Obsorge für Kinder; 2) Unterstützungsmöglichkeiten für alleinerziehende Frauen und deren Kinder (insbesondere in Argun); 3) Unterstützung für von Gewalt betroffene Frauen (insbesondere in Argun), 4) Arbeitsmarkt für Frauen in Argun; Kinderbetreuungsmöglichkeiten vom 19.02.2020, S. 5 ff. m.w.N.)
Es gebe jedoch sehr oft Fälle, in denen die Familie des Ehemanns der Mutter nicht erlaube, die Kinder zu sehen. (Vgl. ebd.).
Das Einzige, was eine Frau hier tun könne, sei sich an ein Scharia-Gericht zu wenden oder an das Muftiat. (Vgl. ebd.).
Der Mufti höre sich die beiden Seiten an und versuche, den Mann und die Frau von der Aufrechterhaltung der Familie zu überzeugen oder sie friedlich zu scheiden, damit die Kinder geschützt seien und das Recht hätten, gleichermaßen mit Vater und Mutter in Kontakt zu treten. Die Männer könnten aber auch im Muftiat alles dafür tun, um dessen Vertreter davon zu überzeugen, dass die Kinder nicht bei der Mutter bleiben sollten. Aber selbst wenn der Mufti der Mutter das Recht gebe, könne der Mann einfach sagen, dass er sich dieser Entscheidung nicht beuge. Dagegen könne man nichts machen, denn alles, was der Mufti sage, seien nur Empfehlungen.
Es bliebe nur ein Ausweg – das Gericht. Der Gang zu Gericht wiederum sei aber ein Skandal und eine Schande für die ganze Familie, weshalb man versuche, den Gang zu Gericht zu vermeiden. (Vgl. ebd.).
Die örtlichen Gerichte im Nordkaukasus beachteten auch die örtlichen Traditionen bei ihren Entscheidungen. Sie entschieden zwar oft im Sinne der Mutter, die Entscheidung werde von den Verwandten des Vaters aber oft ignoriert. Im Nordkaukasus sollten Kinder nach der Scheidung immer in der Familie des Vaters bleiben – selbst nach dessen Tod – und ein Gerichtsurteil bedeute nichts. Nach Erfahrung tschetschenischer Gerichtsvollzieher lebten die Kinder oft bei den Verwandten des Vaters, die das Kind dem behördlichen Zugriff entziehen würden, indem der Wohnort des (nicht gemeldeten) Kindes oft gewechselt werde. Im Ergebnis sei festzuhalten, dass tschetschenische Gerichte offenbar nur selten mit Familienrechts- und Obsorgefragen befasst würden und außergerichtliche Lösungswege in der Praxis eine bedeutendere Rolle spielten. Selbst wenn Frauen vor Gericht Recht bekämen, sei eine Umsetzung des Urteils oft nicht möglich. (Vgl. ebd.).
Dies zugrunde gelegt ist beachtlich wahrscheinlich, dass der Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. der Vater der in den Jahren 2014 und 2015 geborenen Kläger zu 2. und 3. und dessen Familie, die Kläger im Fall einer Rückkehr nach Tschetschenien zwangsweise voneinander trennen werde und dies auch nicht durch die Anrufung staatlicher Stellen verhindert werden kann.
Die Gefahr des besagten ernsthaften Schadens geht nach dem Vorgenannten auch von Akteuren i.S.d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG aus.
Entsprechend § 3c Nr. 3 AsylG kommen als Schadensverursacher auch nichtstaatliche Akteure in Betracht, sofern nämlich der Staat oder die in Nr. 2 der Bestimmung genannten Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.
Nach dem oben Gesagten liegt auf der Hand, dass angesichts der in Tschetschenien vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse weder die dort agierenden Stellen noch sonstige einschlägige Akteure gewillt sind, den dort zu befürchtenden Übergriffen seitens der Familie des Ehemanns bzw. Vaters Einhalt zu gebieten.
Den Klägern stehe auch keine inländische Flucht- alternative (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG) zur Verfügung. Zwar ist nach den vorliegenden Erkenntnissen davon auszugehen, dass Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens an einen anderen Ort in der Russischen Föderation flüchten und dort leben können. (Vgl. Österreichisches Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 03.02.2023, S. 97; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.09.2022, S. 17.)
Werde jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so sei es für die Behörden möglich, diesen aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen. (Vgl. Österreichisches Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation vom 03.02.2023, S. 97.)
Ferner sei nicht auszuschließen, dass die regionalen Verfolgungsbehörden Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten Russlands in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen können. Sofern keine Strafanzeige vorliege, könnten Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden. (Vgl. ebd. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.09.2022, S. 17.)
Ausgehend hiervon ist zu berücksichtigen, dass der Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. der Vater der Kläger zu 2. und 3. mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur die Möglichkeit, sondern auch das Recht hätte, bei staatlichen Behörden den Aufenthaltsort seiner Kinder in der Russischen Föderation in Erfahrung zu bringen und ggf. sein Aufenthaltsbestimmungsrecht auszuüben. Zudem könnte er über die Strafverfolgungsbehörden auf eine Anzeige wegen Kindesentziehung hin die Rückkehr der Kläger nach Tschetschenien erzwingen. […]
Anmerkung:
Die Entscheidung des VG Köln erging, bevor die Große Kammer des EuGH in der Rechtssache WS gegen Bulgarien (Urteil des EuGH vom 16.01.2024, Rs. C-621/21, in: STREIT 1/2024, S. 8-11) klarstellte, dass Frauen eines Herkunftslandes auch insgesamt eine „bestimmte soziale Gruppe“ darstellen können, wenn feststeht, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind.
Dementsprechend hätte das VG Köln im vor- liegenden Fall davon ausgehen können, dass die drohende zwangsweise Trennung der Antragstellerin von ihren minderjährigen Kindern eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellt. Es handelt sich dabei um eine schwerwiegende Verletzung ihres grundlegenden Menschenrechts auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK und ihres Grundrechts auf Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Darüber hinaus ist aber auch der Tatbestand des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG erfüllt, da die Verfolgungshandlung geschlechtsspezifisch ist. Zudem liegt ein Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG vor, da eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorliegt, die allein an das Geschlecht anknüpft.
Das VG Köln hat hier aber zumindest die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes mit guten Argumenten untermauert, die vor allem im Hinblick auf das Fehlen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in der Praxis gut genutzt werden können.
Katharina Gruber