STREIT 4/2024

S. 180-182

LSG Berlin-Brandenburg, § 7 SGB II, § 2 FreizügG/EU 2004

Aufrechterhaltung des Freizügigkeitsrechts mit Zeiten schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbots

§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch Zeiten eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes in die Berechnung der Jahresfrist einzubeziehen sind. (Amtlicher Leitsatz)
Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 13.06.2024, L 25 AS 43/24


Aus dem Sachverhalt:

Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. April 2021 bis zum 31. Juli 2021. Die […] Klägerin zu 1. und ihre Tochter, die am September 2020 geborene Klägerin zu 2., sind rumänische Staatsangehörige. Die Klägerin zu 1. lebt seit dem 20. Juni 2019 in Deutschland. Vom 3. Juli 2019 bis zum 2. Juli 2020 war sie als Produktionshelferin […] beschäftigt. Grundlage hierfür war ein befristeter Arbeitsvertrag, in dem eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden und ein Stundenlohn von 9,20 Euro vereinbart worden waren. Unter dem 5. März 2020 sprach der Arbeitgeber nach Überprüfung des Arbeitsplatzes laut Mutterschutzgesetz (MuschG; §§ 4, 8 MuSchG) ab dem 3. April 2020 ein generelles Beschäftigungsverbot aus. Die Klägerin war ab dem 3. April 2020 nicht mehr für den Arbeitgeber tätig, der ihr nunmehr Mutterschutzlohn […] zahlte. Mit Bescheid vom 19. November 2020 bescheinigte die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit L –, dass in Bezug auf die vorgenannte Beschäftigung die Arbeitslosigkeit unverschuldet eingetreten und die Bereitschaft zur Beendigung der Arbeitslosigkeit gegeben sei. Zudem wurde die unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) bestätigt. […]. Ihren Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2021 mit der Begründung ab, ein Anspruch sei gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Die Klägerin zu 1. verfüge über kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II. Sie sei auch nicht Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU.

[…] Damit liege ihr hier nur ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche vor, woraus der Leistungsausschluss folge. Hiergegen haben die Klägerinnen […] Klage erhoben. […] Mit Gerichtsbescheid vom 5. Dezember 2023 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 10. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2021 dazu verurteilt, den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1. April bis zum 31. Juli 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren. […] Gegen den […] Gerichtsbescheid hat der Beklagte […] Berufung eingelegt. […].

Aus den Gründen:

[…] Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist zutreffend. Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid vom 10. März 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten. Ihnen stehen für den streitigen Zeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu.

[…] Der hier allein streitige Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II ist nicht einschlägig. Danach sind von Leistungen ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Die Klägerin zu 1. ist zwar Ausländerin. Sie hat sich im streitigen Zeitraum aber nicht nur zur Arbeitsuche in Deutschland aufgehalten. Sie war während der Zeit des Bestehens des Beschäftigungsverhältnisses vom 3. Juli 2019 bis zum 2. Juli 2020 Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Dieser Status ist ihr nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU erhalten geblieben. Danach bleibt das Recht nach Absatz 1 für Arbeitnehmer unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Eine unfreiwillige durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit liegt hier ohne weiteres vor, diese bescheinigt durch Bescheid der Agentur für Arbeit L vom 19. November 2020. Im Rechtssinne liegt hier auch eine mehr als einjährige Tätigkeit vor. Dass § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU auch für Tätigkeiten gilt, die genau ein Jahr gedauert haben, hat das BSG ausdrücklich entschieden (Urteil vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 79/20 R – SGb 2022, 699 mit Anm. Bokeloh). Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an, so dass § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU hier nicht schon deshalb ausgeschlossen ist, weil die Tätigkeit der Klägerin zu 1. genau ein Jahr gedauert hat.

Dem Anspruch steht hier auch nicht der Umstand entgegen, dass die Klägerin zu 1. ab dem 3. April 2020 aufgrund eines von ihrem Arbeitgeber erklärten Beschäftigungsverbotes tatsächlich nicht mehr gearbeitet hat. Die Klägerin zu 1. war vom 3. Juli 2019 bis zum 2. Juli 2020 durchgehend Arbeitnehmerin und damit tätig im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU. Nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen. Der Begriff des Arbeitnehmers im Freizügigkeitsrecht ist als autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts unionsrechtlich zu bestimmen; er muss mit dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Arbeitnehmerbegriff nicht übereinstimmen. In Abgrenzung zu Nichterwerbstätigen ist jeder als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeitmausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht. darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.

Zugleich bleibt das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nach den Regelungen in Abs. 3 Satz 1 für Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätige unberührt bei vorübergehender Erwerbsminderung in Folge Krankheit oder Unfall, unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit in Folge von Umständen, auf die der Selbstständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit oder Aufnahme einer Berufsausbildung,wenn zwischen der Ausbildung und der früheren Erwerbstätigkeit ein Zusammenhang besteht. Im Umkehrschluss verliert eine Person freizügigkeitsrechtlich die Arbeitnehmereigenschaft also mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wobei jedoch – wie die in § 2 Abs. 3 Satz 1 FreizügG/EU aufgeführten Fallkonstellationen zeigen – diese Eigenschaft nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestimmte Folgewirkungen haben kann. Damit hängen die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV und die sich aus ihr ergebenden Rechte nicht unbedingt vom tatsächlichen Bestehen oder Fortbestehen eines Arbeitsverhältnisses ab (vgl. BSG, Urteil vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 91/20 R – NZS 2023, 259 mit Anm. Becker).

Über die Fälle des tatsächlich beendeten Arbeitsverhältnisses hinaus hat der EuGH seine Rechtspre-chung in Sachverhaltskonstellationen weiterentwickelt, in denen – bei einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis – das Erfordernis der tatsächlichen Tätigkeit für die Erfüllung des Arbeitnehmerbegriffs ausnahmsweise entfallen kann. Für Erziehende in Elternzeit, deren Arbeitsverhältnis nach nationalem Recht ruht, hat er ausgeführt, dass der Arbeitnehmer im Elternurlaub während dieses Urlaubs ein Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts bleibt. Zudem muss sichergestellt werden, dass die Rechte, die der Arbeitnehmer bei Antritt des Elternurlaubs bereits erworben hatte oder dabei war zu erwerben, bis zum Ende des Elternurlaubs bestehen bleiben und sich der Arbeitnehmer im Anschluss an den Elternurlaub im Hinblick auf diese Rechte in derselben Situation befindet wie vor dem Elternurlaub (vgl. die Nachweise im Urteil des BSG vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 91/20 R – NZS 2023, 259).Wenn aber die Arbeitnehmereigenschaft nach vorstehenden Ausführungen durch einen Elternurlaub unberührt bleibt, gilt das Gleiche erst recht für den vorliegenden Fall eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes. Entsprechend hat der EuGH auch in der vom Sozialgericht in Bezug genommenen Entscheidung vom 19. Juni 2014 (C-507/12 – Saint Prix – NZA 2014, 765) Art. 45 AEUV dahin ausgelegt, dass eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die Arbeitnehmerschaft im Sinne dieser Vorschrift behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet. Dabei kann die letztgenannte Einschränkung – Aufnahme der Beschäftigung innerhalb angemessener Zeit – vorliegend keine Rolle spielen, weil am Erhalt der Arbeitnehmereigenschaft (jedenfalls) bis zum 2. Juli 2020 keine Zweifel bestehen, da die Klägerin zu 1. bis dahin einem Beschäftigungsverbot unterlag und das Arbeitsverhältnis mit ihrem Arbeitgeber bestand. Wenn aber die Klägerin zu 1. jedenfalls bis zum 2. Juli 2020 Arbeitnehmerin war, war sie auch im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU „tätig“. Das gilt umso mehr, als Frauen durch die mutterschutzrechtlichen Vorschriften keine Nachteile im Erwerbsleben erleiden dürfen (BeckOK ArbR/Dahm MuSchG § 3 Rn. 6). Das Bundesverfassungsgericht hatte es als mit Art. 6 Abs. 4 des Grundgesetzes unvereinbar erachtet, dass Zeiten, in denen Frauen wegen der mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbote ihre versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrachen, nach damaligem Recht bei der Berechnung der Anwartschaftszeit in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung nicht berücksichtigt wurden (Beschluss vom 28. März 2006 – 1 BvL 10/01 – NJW 2006, 1721). Bei dieser Sachlage ist § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch Zeiten eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes in die Berechnung der Jahresfrist einzubeziehen sind.

Der Einwand des Beklagten, zur Bestimmung des Endes der Fortgeltungsdauer der Beschäftigteneigenschaft sei in der Regel auf die Mutterschutzfrist des § 6 Abs. 1 MuSchG – also acht Wochen nach der Entbindung – zurückzugreifen, greift vorliegend nicht durch, weil im Rahmen der Auslegung des § 2Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU der Fortbestand der Arbeitnehmereigenschaft bis zum 2. Juli 2020 aus-reicht, um von einer einjährigen Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU auszugehen. Ob die demnach erhaltene Arbeitnehmereigenschaft unbegrenzt andauert oder von einer zweijährigen Höchstfrist auszugehen ist (vgl. Bergmann/Dienelt/Dienelt FreizügG/EU § 2 Rn. 126; offen gelassen in BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 17/16 R – juris), kann dahinstehen, weil eine solche Frist vorliegend im streitigen Zeitraum noch nicht verstrichen war.

Eine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV war hier nicht […] notwendig, weil die Arbeitnehmereigenschaft schwangerer Frauen, die aus Gründendes Mutterschutzes einem Beschäftigungsverbot unterliegen, durch die Rechtsprechung des EuGH bereits eindeutig bejaht worden ist (Urteil vom 19. Juni 2014 – C-507/12 – Saint Prix – NZA 2014, 765). Daraus ergibt sich auch im Zusammenspiel mit deutschem Verfassungsrecht zwanglos die hier gefundene Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU, so dass die hier aufgeworfene Frage eindeutig zu beantworten ist („acte clair“; vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2022 – B 11 AL 4/21 R – juris).