STREIT 4/2020
S. 172-173
OLG Köln, §§ 130, 53 StGB
Beleidigung von Frauen als Volksverhetzung
Die pauschale Beleidigung von Frauen im Internet stellt eine Volksverhetzung i.S.v. § 130 StGB dar.
(Leitsatz der Redaktion)
Urteil des OLG Köln vom 09.06.2020 – III-1 RVs 77/20
Aus den Gründen:
I. Das Amtsgericht Bonn hat den Angeklagten am 7. Mai 2019 wegen Volksverhetzung in sechs Fällen zu der Gesamtgeldstrafe von 55 Tagessätzen zu je zehn Euro verurteilt. Auf seine Berufung hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. […]
Gegen dieses Urteil richtet sich die mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision der Staatsanwaltschaft, die von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten wird.
II. Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsmittel hat Erfolg. Es führt gemäß §§ 353 Abs. 2, 354 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
1. Gemäß § 130 Abs. 2 Ziff. 1 lit. a) und c) StGB macht sich – soweit hier in Betracht zu ziehen – strafbar, wer eine Schrift der Öffentlichkeit zugänglich macht, die die Menschenwürde eines Teils der Bevölkerung dadurch angreift, dass diese beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden. Dabei erfasst der Begriff der Schrift – wie die Verweisung auf § 11 Abs. 3 StGB klarstellt – auch Datenspeicher und damit auch den (nicht permanenten) Inhalt eines Arbeitsspeichers (Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 11 Rz. 36).
Die Berufungsstrafkammer hat zu begründen gesucht, dass die von dem Angeklagten angegangenen Frauen nicht „Teil der Bevölkerung“ im Sinne der genannten Bestimmung seien. Dem vermag der Senat nicht zu folgen:
a) Gängiger Begriffsbestimmung zufolge ist unter einem „Teil“ der Bevölkerung eine Personenmehrheit zu verstehen, die individuell nicht mehr überschaubar ist und sich von der Gesamtheit der Bevölkerung aufgrund bestimmter Merkmale äußerer oder innerer Art unterscheidet (Fischer a.a.O. , § 130 Rz. 4; SK-StGB-Stein, 9. Auflage 2018, § 130 Rz. 12; BeckOK-StGB-Rackow 45. Edition Stand 01.11.2019, § 130 Rz. 13; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben/Schittenhelm, StGB, 30. Auflage 2019, § 130 Rz. 3). Soweit diese Merkmale als politischer, nationaler, ethnischer, rassischer, religiöser, weltanschaulicher, sozialer, wirtschaftlicher oder beruflicher Art bezeichnet werden, wird diese – scheinbare – Einengung umstandslos durch die Zufügung der Worte „oder sonstiger“ wieder aufgehoben (BGH NStZ 2015, 512 [513]; MüKo-StGB-Schäfer, 3. Auflage 2017, § 130 Rz. 30; LK-StGB-Krauß,12. Auflage 2009, § 130 Rz. 26; AnwKomm-StGB-Graf v. Schlieffen, 3. Auflage 2020, § 130 Rz. 4).
b) Semantisch ist es zunächst zwanglos möglich, die Frauen als Teil der Bevölkerung anzusprechen. […]
c) Der Wortlautbefund wird durch die Anwendung weiterer Auslegungsinstrumente nicht in Frage gestellt – im Gegenteil:
aa) Zur Gesetzgebungshistorie hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 31. März 2020 wie folgt ausgeführt:
„Insbesondere die historische Auslegung der Vorschrift spricht – entgegen der von der Kammer im Urteil geäußerten Auffassung – mit Rücksicht auf die vom Gesetzgeber bei der Einführung bzw. Änderung der Vorschrift jeweils geäußerten Motive gerade für eine Einbeziehung von „den Frauen“ in den Schutzbereich der Vorschrift. […]
Die Historie der Vorschrift verdeutlicht mithin, dass sowohl mit der Einführung als auch den jeweiligen Änderungen des Tatbestandes jeweils eine – vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollte – Ausweitung des Schutzbereichs und keineswegs eine Eingrenzung verbunden war. Zu keiner Zeit wurde diskutiert, dass ein anhand geschlechtsspezifischer Kriterien unterschiedener Teil der Bevölkerung dem Schutzbereich nicht unterfallen sollte. Bezüglich der Eigenschaft der sexuellen Orientierung, die im Tatbestand auch keine Erwähnung findet und nach den Kriterien des Landgerichts – politische oder weltanschauliche Überzeugung, soziale oder wirtschaftliche Verhältnisse, Beruf oder soziale Funktion – ebenfalls keine besondere Zugehörigkeit zum einem Teil der Bevölkerung zu begründen geeignet wäre, hat der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung sogar ausdrücklich klargestellt, dass eine Diskriminierung entsprechender Teile der Bevölkerung oder Gruppen dem Tatbestand des § 130 StGB unterfallen würde. […]
Die Historie der Vorschrift zeigt somit die Entwicklung zu einem umfassenden „Anti-Diskriminierungstatbestand“ auf, wobei der in den Schutzbereich einbezogene Teil der Bevölkerung keineswegs anhand der im Tatbestand ausdrücklich erwähnten Merkmale beschränkt ist. Mag auch der Hauptanwendungsbereich der Vorschrift in der Praxis nach wie vor im Bereich rechtsradikaler Hetze gegen Minderheiten liegen (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl., § 130 Rn. 3), lassen sich darunter dennoch auch diskriminierende Äußerungen gegen Homosexuelle, Transgender oder eben „die Frauen“ subsumieren.“
Diesen in jeder Hinsicht zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungshistorie des Gesetzes wird denn auch § 130 Abs. 2 StGB als „allgemeine Anti-Diskriminierungsvorschrift“ bezeichnet (so etwa Matt/Renzikowski-Altenhain, StGB, 2. Auflage 2020, Überschrift vor Rz. 15; LK-StGB-Krauß, a.a.O. Entstehungsgeschichte). […]
2. Ein Schuldspruch durch das Revisionsgericht unter Aufrechterhaltung getroffener Feststellungen scheidet aus: Da der Angeklagte durch ein freisprechendes Urteil nicht beschwert ist, hätte er seinerseits dieses Urteil nicht mit der Revision angreifen können (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, vor § 296 Rz. 14 m. N.). Bei einer erfolgreichen Revision (der Staatsanwaltschaft oder der Nebenklage) gegen ein solches Urteil hebt der Senat in ständiger Rechtspraxis die zugrunde liegenden Feststellungen aus diesem Grunde mit auf (SenE v. 10.08.1999 – Ss 293/99 – = NJW 2000, 1053 [1054] m. w. Nachw.; SenE v. 20.12.2011 – III-1 RVs 218, 222-223/11 -; SenE v. 15.09.2015 – III-1 RVs 127/15; LR-StPO-Franke, 26. Auflage 2012, § 354 Rz. 43; s. a. OLG München NJW 2006, 3364 [3366]).
3. Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat noch darauf hin, dass der Kontext der inkriminierten Äußerungen in einem Umfang darzustellen ist, der die Beurteilung des Vorliegens eines Verstoßes gegen die Menschenwürde in dem Sinne erlaubt, dass das Menschentum des Angegriffenen bestritten oder relativiert, dieser also gleichsam zur „Unperson“ deklariert oder jedenfalls in die Nähe eines solchen gerückt wird (dazu vgl. Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben/Schittenhelm, a.a.O. Rz. 6 m. zahlr. Nachw.).