STREIT 4/2022

S. 184-188

Buchbesprechung: bff: Bundesverband Frauenberatungs­stellen und Frauennotrufe, Nivedita Prasad (Hg.): Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung

transcipt Verlag, Bielefeld 2021

Der bff stößt mit diesem Buch in eine Wahrnehmungslücke jenseits von Hate Speech und antifeministischen Narrativen in Social Media, nämlich in die bisher kaum thematisierte Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt. Gewalt gegen Frauen, wie sie der bff seit Jahrzehnten bekämpft, erfährt in Zeiten der Digitalisierung neue Dimensionen. Als digitalisierte geschlechtsbezogene Gewalt im sozialen Nahbereich geht sie weit über Hate Speech hinaus. Und die neuen digitaltechnischen Möglichkeiten zur Überwachung werden gnadenlos eingesetzt, um patriarchale Herrschaftsmuster gegenüber Frauen und vulnerablen Personen durchzusetzen. Wie immer in der Technikgeschichte ist dies die Schattenseite von allein marktgetriebenen Innovationen in patriarchalen Gesellschaftssystemen.

In der Einleitung führen Jenny Kerstin Brauer, Ans Hartmann und Nivedita Prasad diese These überzeugend aus mit einer klaren Unterscheidung zwischen Hate Speech und Digitaler Gewalt im Sozialen Nahraum. Und sie machen unmissverständlich deutlich, dass zur analogen Gewalt eine neue Vielzahl von sehr niedrigschwelligen digitalen Begehungsformen hinzukommt, so dass sie insgesamt von einer „Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt“ sprechen möchten. Ein insoweit auszudifferenzierender Diskurs zum Phänomen Digitale Gewalt wird angemahnt. Es bestehe akuter Handlungsbedarf, um den Besonderheiten der einzelnen Formen dieser Digitalen Gewalt gerecht zu werden. Trotz guter Vernetzung und einer interdisziplinär arbeitenden Hilfestruktur bei Fachberatungsstellen und Frauenhäusern seien die bisher gemachten Erfahrungen bitter. Die Realität sei durch das Fehlen effektiver technischer und juristischer Maßnahmen geprägt. Es gibt in Deutschland zu wenig Projekte in Forschung und Praxis. Ein präventiver Ansatz, der die dafür zum Teil nur kleinen technischen Veränderungen bei digitalen Devices politisch von der Industrie einfordere, fehle bisher. Das Buch will aufzeigen, wie eine feministische diskriminierungssensible Antwort auf digitalisierte geschlechtsspezifische Gewalt aussehen könnte.

Das Buch eröffnet den angemahnten Diskurs selber unter der ersten Kapitelüberschrift „Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt als Diskussionsgegenstand“. Hierunter versammeln sich drei Beiträge. Zuerst gibt Nivedita Prasad einen umfassenden Überblick zum aktuellen soziologischen Forschungsstand bei Digitaler Gewalt. Sie macht deutlich, wie sehr einerseits das Phänomen Hate Speech bei Digitaler Gewalt im Vordergrund internationaler Studien und Forschungsarbeiten stand und wie wenig andererseits bei den Forschungen zu analoger Gewalt gegen Frauen die Besonderheiten der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) einbezogen wurden. Dabei differenziert sie bereits verschiedene Formen von IKT-gestützter Gewalt (Doxing, Deepfaking, Spy-Apps etc.) und arbeitet heraus, wie IKT die Wirkmächtigkeit von Gewalt verstärkt. Eine begriffliche Trennung von analoger und digitaler Gewalt werde den Gewaltdynamiken gar nicht mehr gerecht. Vielmehr müsse IKT-gestützte Gewalt eher als Erweiterung analoger Gewalt verstanden werden. Studien seien hier oft nicht ausreichend präzise, da sie Hate Speech und digital verstärkte analoge Gewalt vermischten. Es fehlten daher belastbare Zahlen und Daten zum Phänomen und auch die Auswirkungen von IKT auf Menschenhandel seien noch unerforscht. Zwar unterschieden sich die Begehungsformen und Auswirkungen von Hate Speech und digitalisierter analoger Gewalt. Gemeinsam sei beiden jedoch, dass sie ein Stück weit öffentlicher sichtbar seien als analoge häusliche Gewalt, da Zeug*innenschaft wahrscheinlicher ist. Hier böten sich Präventionsmöglichkeiten an, die über persönliche Awareness und Schulungen der Opfer hinausgehen. Strukturelle Maßnahmen wie die Eindämmung von Freiheiten für Plattformen und mehr Regulierung bei App-Herstellung und -Vertrieb seien durchaus zwingende menschenrechtliche Verpflichtungen des Staates. Auch digitale Wegweisungsverfügungen nach Gewaltschutzgesetz seien umsetzbar oder der Entzug digitaler Geräte vergleichbar dem Führerscheinentzug. Im Ausblick konstatiert Prasad, dass im Moment technisch viel mehr Schutz möglich wäre, als in der Praxis umgesetzt wird. Und dass viele Betroffene IKT-basierte Gewalt noch gar nicht als eine Begehungsform von Gewalt realisieren. Speziell die überproportional betroffenen Mädchen und jungen Frauen machten sich das virtuell Erlebte und Erlittene oft gar nicht als einen gewaltvollen körperlichen Angriff bewusst. Sie zögen sich zurück und suchten gar nicht nach Hilfe.
Dieser umfänglichen Analyse von Prasad schließt sich an der kurze präzise Beitrag von Ulrike Lembke zum menschenrechtlichen Schutzrahmen für Betroffene von Digitaler Gewalt mit Verweis auf die Istanbul-Konvention und die staatlichen Schutzpflichten gegen Gewalt durch Private. Effektiver Gewaltschutz sei dabei nicht nur zwingende staatliche Verpflichtung sondern auch eine Funktionsbedingung für unsere Demokratie.
Im dritten Beitrag geben Jenny Kerstin Brauer und Ans Hartmann einen detaillierten Überblick zu den aktuellen Begehungsformen digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt. Unter den Stichworten Stalking und Überwachungstechniken, Bedrohung und Beleidigung im Netz bis zu bildbasierter sexualisierter Gewalt finden sich zahllose Beschreibungen technischer Begehungsformen aus der Praxis. Es zeige sich, dass sich die Digitalisierung auf fast jede Form geschlechtsspezifischer Gewalt bereits auswirke. Und die digitalen Begehungsformen seien mit den herrschenden Machtverhältnissen im Geschlechterverhältnis verschränkt. Die gesellschaftlichen strukturellen Kontexte setzten sich online fort.

Im zweiten Kapitel werden „Spezifika geschlechtsspezifischer Gewalt im digitalen Raum“ in zwei Beiträgen aufgezeigt. Jenny Kerstin Brauer analysiert die Funktionsprinzipien des Internets wie Anonymität, fehlende Hoheitsinstanz, breiten Zugang und die enorme Verbreitungsgeschwindigkeit von Informationen. Feministische Hoffnungen aus Anfangstagen seien durch die enorme Missbrauchsanfälligkeit des Mediums Internet obsolet geworden. Die Gesellschaft müsse Verantwortung für den Umgang mit diesem Medium übernehmen und aktiv gegensteuern, wenn ein gleichberechtigtes und diskriminierungsarmes Internet erreicht werden soll.
Im Folgebeitrag zeigen Jasna Strick und Anne Wizorek die intersektionalen Machtverhältnisse im Internet auf. Über einen Realitätscheck und die Analyse von Hashtag-Kampagnen bis zu intersektionalen Vulnerabilitäten zeigen sie Chancen und Risiken des Mediums, aber auch die Grenzen und negativen Effekte von ersten gutgemeinten Regulierungsinstrumenten, wie Lösch- und Sperrpraktiken, auf. Die fehlende Bereitschaft, dringend notwendige Gender- und Diversity-Kompetenzen anzuerkennen und aufzubauen, seien die Ursache für die momentan diskriminierende und gewaltvolle Internet-Praxis. Hier spiegele das Internet die offline-Verhältnisse. Online wie offline gelte es, Infrastruktur mit antidiskriminierend wirkenden Instrumenten wie Beratungsangeboten und Diversität bei Entscheidungsprozessen zwingend auszustatten.

Das dritte Kapitel skizziert die momentanen rechtlichen Handlungsoptionen bei digitaler Gewalt. Christina Clemm gibt einen umfassenden Überblick zur strafrechtlichen Sanktionierung bzw. Strafbarkeitslücken bei den verschiedenen Begehungsformen. Sie konstatiert die schon oft gerügten Ermittlungs- und Ausstattungsdefizite bei den Behörden. Die kurze Frist bei den Antragsdelikten und die Verneinung eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung werde der Interessenlage der Betroffenen nicht gerecht. Die Anwendungspraxis bei Ehrdelikten entspreche nicht den Besonderheiten des Netzes (siehe dazu Völzmann, „Beschimpft und verstummt – Hassrede als Gleichheitsproblem“ in diesem Heft, S. 159), die herrschende Einstellungspraxis bagatellisiere die schwerwiegenden Auswirkungen digitaler Gewalt. Als wichtigste Aufgabe sieht sie es, Ermittlungsbehörden und Justiz für die Schwere dieser digitalen Gewalttaten im sozialen Nahbereich zu sensibilisieren und ihre Verschränkung mit antifeministischen Radikalisierungstendenzen im virtuellen Raum zu erkennen. Das hier neu entstehende medial potentiell bedrohliche Umfeld erfordere effektive Gegenmaßnahmen und eine striktere und neu zu definierende Bewertung digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt.
Die zivilrechtlichen Möglichkeiten der Opfer, sich zu wehren, ergänzt Nadine Dinings Beitrag. Sie stellt alle zivilrechtlichen Ansprüche umfänglich dar und analysiert die Vor- und Nachteile eines zivilrechtlichen Vorgehens. Dem Vorteil, im Zivilverfahren selbst aktiver Part der Sanktionierung bei zumindest nicht-anonymer Begehung zu sein, steht der Nachteil der schwer prognostizierbaren Kostentragungspflicht gegenüber und der Verlust des Schutzes eigener Anonymität. Beweissicherung sei aber trotzdem in allen Fällen unbedingt zu empfehlen, um sich den zivilrechtlichen Rechtsweg offenzuhalten.
Zum Abschluss schaut Ulrike Lembke auf die öffentlich-rechtliche Seite und knüpft an ihren Beitrag im ersten Buchkapitel zu den Schutzverpflichtungen des Staates an. Der Vorteil präventiver staatlicher Maßnahmen sei eine Rechtsmobilisierung, ohne dass Betroffene selbst die Rechtsverfolgung stemmen müssten oder nur individuelle Verfolgung ohne strukturelle Effekte erreicht werde. Möglichkeiten für Maßnahmen hin zu einer strukturellen Veränderung sieht sie im bestehenden Jugendmedienschutz. Dieser könne effektiver gegen geschlechtsspezifische digitale Gewalt eingesetzt werden, verfolge dies aber praktisch nicht. Hier fehle es in den Landesmedienanstalten und in der Kommission für Jugendmedienschutz schon an einem behördeninternen antidiskriminierungsrechtlichen Denkansatz, Schwierigkeiten sieht Lembke aber auch in mangelnder Ausstattung und eingeschränkten Durchsetzungsinstrumenten. Nicht ausreichend sei auch, dass im 2019 reformierten Opferentschädigungsrecht (§ 13 I SGV XIV) nur eine aus der Täterperspektive „schwerwiegende“ psychische Gewalttat dem tätlichen Angriff gleichgestellt worden ist. Das werde den schwerwiegenden psychischen Folgen bei Opfern digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt in all ihren digital oft niedrigschwellig verfügbaren vielfältigen Begehungsformen nicht gerecht. Es könne hier nur auf die Opferperspektive ankommen. Offenbar hat sich bei dieser Gesetzesreform die im Beitrag von Clemm beschriebene Bagatellisierung der schwerwiegenden Auswirkungen digitaler Gewalt im Gesetzgebungsprozess niedergeschlagen. Nach Lembke ist der Staat bei digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen aus der Istanbul-Konvention uneingeschränkt verpflichtet zu schneller Hilfe, Beratung, Unterstützung und Entschädigung für die Opfer.

Über Erfahrungen und Strategien im Umgang mit digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt berichtet das vierte Kapitel. Es beginnt mit einem Erfahrungsbericht von Andrea Bocian, Jessica Lütgens und Angela Wagner aus der bff-Beratung. Die Definition des bff zu Digitaler Gewalt ist umfassend: „Mit digitaler Gewalt meinen wir alle Formen von Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen und/oder Gewalt, die im digitalen Raum, z.B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen stattfindet. Wir gehen davon aus, dass digitale Gewalt nicht getrennt von ‚analoger Gewalt‘ funktioniert, sondern meist eine Fortsetzung oder Ergänzung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken darstellt“. Immer noch ausgespart aus dieser Definition ist die gefühlte „Ohnmacht“ innerhalb komplett durchdigitalisierter Umgebungen. Der bff ist sich auch der Verstrickung aller Menschen, die Medien aktiv nutzen – auch von Frauen und Mädchen –, in Akte digitaler Gewalt durch Teilnahme am digitalen Schwarm oder Ausnutzung digitaler Mittel für Angriffe bewusst. Insoweit arbeitet der bff auch präventiv und wirkt allen Begehungsformen durch Aufklärung und Vermittlung von Bewusstsein für die eigenen Handlungen entgegen. Der Fokus des Beitrags beschränkt sich aber auf Frauen als im Sinne der bff-Definition Gewaltbetroffene. Die Beratungsstellen unterscheiden zwischen „leichteren“ und „schweren“ Formen digitaler Gewalt, wobei erstere kaum in der Beratungspraxis ankommen. Der Regelfall ist hier die schwere digitale Gewalt in Verbindung mit analoger Gewalt und stark übergriffigem Verhalten aus einer (Ex-)Partnerschaft. Von der Darstellung erster Fälle im Jahr 2005 erstreckt sich der Bericht über erste bff-Publikationen, verschiedene typische Fallkonstellationen, Hindernisse bei der Kontaktaufnahme zur Beratung und die Auswirkungen bei den Betroffenen bis zu Angriffen auf Unterstützungseinrichtungen selbst. Betroffene meiden öffentliche Räume aus Angst vor heimlichen Aufnahmen, leiden extrem unter der Angst vor Veröffentlichung intimer Bilder und geben sich häufig selbst die Schuld wegen eigener Unvorsichtigkeiten. Parallelen zu analoger Gewalt werden deutlich, ebenso die Verschärfungen durch die Digitalisierung. Alle Beratungsansätze aus der Praxis analoger Begehung geschlechtsspezifischer Gewalt können erhalten bleiben. Dynamik, Beziehungshintergründe, Täter-Opfer-Umkehr sind vergleichbar. Die feministische Expertise der Beratung ist also anwendbar, muss aber ergänzt werden durch mehr technisches Know-How und entsprechende Netzwerke und Kooperationen. Ziel bleibt die aktive Mitgestaltung und solidarische Aneignung des öffentlichen jetzt eben auch digitalen Raumes durch Mädchen und Frauen.
Der Folgebeitrag von Leonie Maria Tanczer legt dann den Fokus auf das heraufziehende „Internet der Dinge“ und widmet sich den Auswirkungen „smarter Geräte“ auf häusliche Gewalt (siehe dazu schon Stelkens „Smarte Gewalt – Digitalisierung häuslicher Gewalt im Internet of Things“in: STREIT 1/2019, S. 3 ff.). Die „smarte Zukunft“ mit ihren Netzwerkfunktionalitäten berge immense Risiken einer Gewalt durch digitale Systeme. Die Gesellschaft sollte auf die missbräuchliche Verwendung dieser Systeme vorbereitet sein. Die Gewaltdynamiken, die erst durch das Internet und dann durch die Verbreitung von Smartphones entstanden sind, seien hierbei noch einmal zu befürchten. Der Beitrag beschreibt neue Gewaltformen und weitere Auswirkungen wie z.B. das „Gaslighting“ (Maßnahmen gezielter räumlicher Desorientierung und Manipulation, die das Opfer an der Wahrnehmung von Realität zweifeln lässt und das Selbstbewusstsein bricht). Smarte Systeme setzten einfach voraus, dass alle Menschen in einem gemeinsamen Haushalt sich gegenseitig vertrauten und technisch auf dem gleichen Wissensniveau seien. Außerdem gebe es den Trend zu gemeinschaftlichen haushaltsübergreifenden kollektiven Geräten (siehe dazu auch Stelkens „Mit dem Smart-Meter-Gateway öffnet das BSI Tür und Tor für häusliche Gewalt“ in: STREIT 1/2021, S. 31 ff.). Datenschutzprobleme und Kontrollmissbrauch seien die Folgen. Der momentane gesellschaftliche Denkansatz, von den Menschen die „richtige Benutzung“ solcher Technologie zu erwarten, bürde das strukturelle Gewaltproblem dahinter den Individuen auf. Notwendig seien dagegen soziotechnische Ansätze und insoweit „bessere“ Technologien, statt vieler „gewaltvoller“ miteinander konkurrierender Systeme. Umfängliche Datenschutzmaßnahmen, E-Safety-Kommissionen zur staatlichen Regulierung und Aufsicht mit aktiver Implementierung von Genderexpertise seien als politikzentrierte Intervention notwendig, ebenso wie Forschung und Datenerhebungen zu dieser Form digitaler Gewalt. Es müsse ermöglicht werden, „die Finger auf jene Firmen und IoT-Verantwortlichen zu richten, welche sich als primäre Plattformen für digitale Gewalt herausstellen“. Das sei keine „Verhinderung von Innovation“, wie häufig angeführt, sondern schlicht die Abwehr heraufziehender Bedrohungen. Auch die Einführung der DSGVO sei zunächst als innovationsfeindlich kritisiert worden, habe dann aber erst zu Innovationen beim Datenschutz geführt.
Daran anschließend berichtet Chris Köver noch einmal detailliert über „den Feind in der eigenen Tasche“, sprich Stalker-Apps und digitale Überwachung im Kontext von Partnerschaftsgewalt. Sie fordert ganz klar, die „moralisch flexible“ Trackingsoftware-Branche zu regulieren und missbrauchsanfällige Apps zu verbieten oder mit technischen Auflagen zu versehen, die die Installation zwingend sichtbar machen. Das moralische Schutzargument der „Kindersicherheit“, welches an sich schon fragwürdig sei, bemäntele nur die massenhafte unerlaubte heimliche Installation der Spy-Apps durch technikaffine Männer auf den Smartphones von technikunsicheren Frauen zu heimlichen Überwachungszwecken. Die theoretisch mögliche Strafverfolgung dieser Taten tendiere gegen 0, die überwachte Frau erfahre es meist gar nicht. Beweissicherung bei Verdachtsfällen scheitere nicht nur an technischer Ausstattung, sondern auch am Desinteresse von Polizei und Staatsanwaltschaft, da die bloße Existenz von Spy-Apps auf dem Handy noch lange nicht einer Straftat überführt. Hier sei sehr viel mehr Aufklärungsarbeit zur Realität digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt bei den Behörden zu leisten. Auch bei der Herstellung dieser Produkte könne aber angesetzt werden. Konkret könnten bei einer Erweiterung des § 90 TKG von Hardwareprodukten auch auf Software solche Produkte z.B. durch die Bundesnetzagentur einfach verboten werden. Weitere technologische Lösungen seien denkbar und fänden ihre Grenze erst da, wo Personen offen durch andere gezwungen werden, die Installation zu dulden. Auch eine verschärfte Überwachung von paypal denkt Köver an, da auf der Plattform eine einfache Beschaffung offen als „Frauenüberwachung“ beworbener Spyware immer noch zu leicht gemacht werde. Und die Hersteller von Anti-Viren-Software könnten für die Aufspürung von Spy-Apps sensibilisiert werden. Bisher zeigten ihre Programme solche „Viren“ auf dem Smartphone nicht an. Hier ist – ähnlich wie im SmartHome – die Produktentwicklung nur beschränkt auf fremde Angriffe durch Dritte von außen und vergisst die Abwehr von Gewalt aus dem sozialen Nahbereich. Auch hier fehlt komplett ein soziotechnisches genderkompetentes Denken.
Das Kapitel beschließen strategische Überlegungen von Jenny-Kerstin Brauer und Ans Hartmann betreffend den Umgang mit digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt und von Harald Klant betreffend Hate Speech. Individuelle Strategie können natürlich immer technische Abwehrmaßnahmen sein mit entsprechender Bewusstwerdung der eigenen Situation. Sie haben jedoch ihre Grenzen in strukturellen Rahmenbedingungen für die einzelnen Betroffenen und können schlimmstenfalls tatsächlich kontraproduktiv wirken und die Gefährdungen noch erhöhen. Das gilt nach Ansicht der Verfasser*innen für sämtliche Bewältigungsstrategien, mit denen das Erlebte individuell proaktiv benannt, öffentlich gemacht, gemeldet oder angezeigt wird. Technische Kompetenzerweiterungen können aber auch unabhängig davon selbstermächtigend wirken. Technische Gegenmaßnahmen wie die online-Ablenkung mittels falscher Standortdaten, das „Fluten“ von Suchsystemen oder die Solidarisierung über gemeinsame Hashtags können auch ohne Offenlegung der eigenen Person initiiert werden. Ein Durchatmen erlaubt die bewusste digitale Pause. Gegenrede in Form von Counterspeech, Counternarratives oder online-Aktivismus in Form des Moderierens, Benennens oder sogar einer Verlegung des digitalen Diskurses in einen analogen Raum sind dabei eher als institutionelle Strategien geeignet. Wichtig sei, immer darauf hinzuweisen, dass die Aneignung sicherheitsspezifischer Medienkompetenz nicht notwendige Bedingung für Gewaltschutz werden dürfe.

Im Schlusskapitel gibt es noch „Digitale Erste Hilfe“. Jenny-Kerstin Brauer und Helga Hansen geben Input für Berater*innen zu grundlegenden Sicherheitsprinzipien. Das geht von der Lektüre gängiger Technikmagazine in den Beratungsstellen über das Abarbeiten einer Betroffenen-Checkliste mit online-Bestandsaufnahme zu sämtlichen online-Konten, Social-Media-Zugängen und sonstigen Zugriffsrechten, Passwortwechseln, Einrichtung von 2-Faktor-Authentifizierungen, Smartphone-Überprüfung, W-LAN und SmartHome-Rooter-Konfigurationen, Datenbackups, Ausschaltung von Datenlecks und Computerviren, Neuinstallationen, sicheren Browser- und Messenger-Einstellungen bis hin zu Beweissicherung und Meldungen bei Seitenbetreibern. Das sei für Beratungsstellen zeitintensiv, binde personelle Ressourcen und erfordere fachliche Expertise. Es sei aber unverzichtbar, um den digitalen Kontrollverlust der Betroffenen aufzufangen. Helga Hansen schließt noch einen Beitrag speziell zur digitalen Sicherheit in frauenspezifischen Einrichtungen an mit Skizzierung des konkreten Bedrohungsszenarios, Hard- und Softwareprüfungen, -Updates, Backups, Virenschutz und Rechtemanagement bei den Zugriffsrechten inklusive Notfallplanungen und Weiterbildung innerhalb der Institution.

Das Buch schließt mit einem Ausblick. Hier erheben Jenny-Kerstin Brauer, Ans Hartmann und Nivedita Prasad konkrete politische Forderungen. Die enorme Wirkmächtigkeit digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt müsse erkannt und politisch wahrgenommen werden. Eine Unterscheidung in analoge und digitale geschlechtsspezifische Gewalt sei obsolet, vielmehr liefere die schnelle technologische Entwicklung fortlaufend neue geeignete digitale Tatmittel zu Begehung geschlechtsspezifischer Gewalt. Ob das Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt dadurch auch absolut zunehme, sei zu erforschen. IKT habe jedenfalls das Potential, Gewalterfahrungen zu amplifizieren und Betroffene dadurch immer wieder zu reviktimisieren. Die missbräuchliche Anwendung von IKT müsse Eingang in politische Debatten zu Cybersicherheit finden. Die Eindämmung geschlechtsspezifischer Gewalt müsse mitgedacht werden bei der Entwicklung von Technologie und relevantes Ziel sein bei Umsetzung und Regulierung digitaler Technik. Die für geschlechtsspezifische Gewalt in den letzten Jahrzehnten erfolgreich entwickelten Unterstützungsstrukturen und Sonderzuständigkeiten bei Polizei und Justiz hätten die Bedeutung der Digitalisierung in der Gewaltdynamik bisher zu wenig erkannt. Sie müssten ihre Expertise erweitern auf medien- und technikbasierte Gewalt. Und sie müssten entsprechend technisch ausgerüstet werden. Der 3. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (siehe dazu Stelkens „Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten“ – Zusammenfassende Analyse des Gutachtens zum 3. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, in: STREIT 2/2021, S. 85 ff.) habe den Fokus noch zu sehr auf die digitalisierte Erwerbsarbeitswelt gelegt und vernachlässige den Aspekt digitaler Gewalt im sozialen Nahraum. In welchem Ausmaß diese Gewalt Teilhabe und Gleichstellung in der digitalisierten Gesellschaft verhindert, bliebe unerkannt. Diese Leerstelle gelte auch für die gesamte bisherige Digitalpolitik. Plattformen und Digitalunternehmen seien hier in die Verantwortung zu nehmen. Leerstellen in Forschung und Monitoring müssten geschlossen werden. Eine differenzierte Erfassung digitaler Komponenten bei Straftaten, Dunkelfeldanalysen und repräsentative Studien sowohl zur Opferseite und als auch zu den digitalen Tatstrategien seien erforderlich, um Präventiv­maßnahmen ergreifen zu können und das Phänomen des Femizids besser zu verstehen. Mit Best Practice Beispielen aus internationaler Forschung und Politik und dem erschreckenden Hinweis, dass in Großbritannien während der Covid 19-Epidemie der Anstieg digitaler Gewalt mit bis zu 600 % erfasst wurde, schließt das Buch. Zu Deutschland ist hier übrigens kein Zahlenmaterial bekannt, weil schlicht kein Monitoring existiert.

Von einer Wahrnehmung dieser Realitäten ist die aktuelle Digitalpolitik leider weit entfernt. Die bestehenden Macht- und Gewaltverhältnisse in der digitalisierten Gesellschaft sind der Technologie- und Digitalpolitik der Ampelkoalition nach wie vor nicht ausreichend bewusst. In der neuen Digitalstrategie der Bundesregierung vom 30. August 2022 finden sich statt einer ernstzunehmenden Auseinandersetzung mit diesen konkreten Gewaltphänomenen nur blumige Allgemeinplätze. Hier leistet das Buch, versehen mit vielen weiterführenden Literaturhinweisen, unschätzbare Aufklärungsarbeit.