STREIT 4/2022
S. 179-183
VG Oldenburg, § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG
Flüchtlingsanerkennung für Kurdin aus der Türkei
1. Frauen, die in der Türkei gegen Moralvorstellungen/den Ehrenkodex und die traditionellen Wertvorstellungen der Familien aus der Herkunftsregion verstoßen, können eine besondere soziale Gruppe i. S. v. § 3 b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG bilden. Die Verfolgungshandlung „Ehrenmord“ zielt auf das identitätsprägende Merkmal der Frau, die ihr Recht auf freie Wahl des eigenen Partners oder auf selbstbestimmte sexuelle Identität wahrnimmt, ab.
2. Frauen ohne ausreichende Schulbildung, die wenig türkisch sprechen, sich im vorhandenen System nicht auskennen und diesem gegenüber kein Vertrauen haben, stehen die Schutzmöglichkeiten des türkischen Staates vor den verfolgenden Familienangehörigen nicht zur Verfügung.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Oldenburg vom 10.11.2021, 5 A 4802/17
Zum Sachverhalt:
Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trug die Klägerin zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen vor, dass sie mit einem Handelspartner des Vaters gegen ihren Willen verheiratet werden sollte. Als sie ihrem Vater ihren gegenstehenden Willen kundgetan habe, habe dieser sie geschlagen und ihr angedroht, sie zu verstoßen und zu töten, sollte sie sich widersetzen. Ihre Brüder hätten die Entscheidungen des Vaters unterstützt. Sie sei sehr verzweifelt gewesen und habe u. a. an Selbstmord gedacht und leide an Albträumen und Depressionen. Es sei auch nicht möglich gewesen, die Nachbarn um Unterstützung zu bitten, da 90 % der Bevölkerung eine AKP-Mentalität hätten. Als das Datum für die Hochzeit feststand, haben ihr Schwager und ihre Schwester ihr bei der Ausreise geholfen.
Das Bundesamt lehnte den Asylantrag der Klägerin vollumfänglich ab.
Aus den Gründen:
[…] Die Klägerin hat […] Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. […]
Der Klägerin droht nach ihrem individuellen Vortrag mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei. Frauen, die gegen die Moralvorstellungen/den Ehrenkodex und die traditionellen Wertvorstellungen der Familien aus der Herkunftsregion verstoßen, können eine besondere soziale Gruppe i. S. v. § 3 b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG bilden. Insbesondere aufgrund der familiären, kulturellen und sozialen Bedingungen in der Heimatregion sind Ehrenmorde auf den sozialen „Gender-Status“ der betroffenen Frauen gerichtet. Die Verfolgungshandlung zielt auf das identitätsprägende Merkmal der Frau, die ihr Recht auf freie Wahl des eigenen Partners oder auf selbstbestimmte sexuelle Identität wahrnimmt, ab (VG Chemnitz, Urteil vom 20. Dezember 2016 – 4 K 2612/14.A -, juris S. 14; VG Schleswig, Urteil vom 18. Dezember 2014 – 8 A 36/13 -, juris S. 7; VG Stade, Urteil vom 24. Januar 2013 – 4 A 851/11 -, juris S. 9; wohl a. A. VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2019 – A 10 K 15283/17 -, juris Rn. 27).
Dem Gericht liegen in diesem Zusammenhang folgende Erkenntnisse vor:
Das Auswärtige Amt geht in seinem Lagebericht davon aus, dass es in der Türkei immer noch zu so genannten „Ehrenmorden“ komme. In Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen bestünden weiter große Defizite. Mit einem im März 2012 verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor Gewalt seien die Rechte der Gewaltopfer gestärkt worden. Das Gesetz garantiere insbesondere betroffenen Frauen notwendige Leistungen wie Schutzunterkünfte, finanzielle Unterstützung und eine Krankenversicherung. Hinzu komme das Erwirken eines Näherungs- und Kontaktverbots. Insgesamt bliebe jedoch die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelungen lückenhaft und die Zufluchtsmöglichkeiten für von Gewalt betroffene Frauen etwa in staatlichen Frauenhäusern ungenügend. Am 22. März 2021 kündigte die Türkei das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Der Austritt ist zum 1. Juli 2021 wirksam geworden. Großstädte und Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern müssten Frauenhäuser einrichten. Tatsächlich existierten nach Angaben des türkischen Familienministeriums Ende 2020 insgesamt 144 staatliche Frauenhäuser mit einer Kapazität von insgesamt ca. 3.000 Plätzen. Nach Aussage staatlicher Stellen stünden diese Einrichtungen auch Rückkehrerinnen zur Verfügung. Außerdem gebe es wenige private Einrichtungen wie das Frauenhaus von MorCati in Istanbul sowie in Konya eine Anlaufstation für Männer (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3. Juni 2021, Stand: April 2021, S. 14, 15).
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt überdies aus, dass zwar in der türkischen Gesetzgebung die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung verankert sei und Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung – auch in der Ehe – unter Strafe gestellt seien. Allerdings würden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt werden, da es am politischen Willen mangele und der patriarchale Zugang der Regierung zur Problematik ein Hindernis darstelle. Trotz gewisser Fortschritte, die auch im GREVIO-Bericht vom Oktober 2018 über die Umsetzung der Istanbul-Konvention hervorgehoben worden seien, bestünden nach wie vor Probleme in den Bereichen: Gleichstellung der Geschlechter, Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde, Zwangsehen sowie häusliche Gewalt. In bestimmten Teilen der Gesellschaft blieben verankerte Stereotype ein Hindernis bei der Umsetzung der Rechte der Frauen. Frauen hätten überdurchschnittliche Schwierigkeiten beim Zugang zu höherer Bildung und zum Arbeitsmarkt. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote der Frauen (16,8%) bleibe nachhaltig höher als jene der Männer (12,7%). Nicht einmal ein Drittel der Frauen (32,2%) sei in Beschäftigung im Vergleich zu mehr als 68% der Männer. Ferner trügen öffentliche Erklärungen von hochrangigen Entscheidungsträgern und einflussreichen Politikern, in denen traditionelle Geschlechterstereotypen betont worden seien, zur Diskriminierung der Frauen bei und behinderten die wirksame und effiziente Umsetzung internationaler Übereinkommen. Konkrete Schritte zur Harmonisierung der innerstaatlichen Gesetzgebung mit der Istanbul-Konvention hätten nicht stattgefunden. Behörden, einschließlich des Staatspräsidenten und der staatlichen Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), hätten sich zunehmend gegen das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Istanbul-Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (2011) ausgesprochen. Am 20. März 2021 sei die Türkei per Dekret von Staatspräsident Erdogan aus der Istanbul-Konvention ausgetreten. Die Konvention des Europarats aus dem Jahr 2011 sei das weltweit erste verbindliche Abkommen gegen Gewalt an Frauen, von Vergewaltigung in der Ehe über häusliche Gewalt bis zur weiblichen Genitalverstümmelung, aber auch zur Verpflichtung zur Gleichberechtigung von Frauen gewesen. Seit Jahren sei insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter geworden, nämlich dahingehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Kinder-, Früh- und Zwangsehen gäben nach wie vor Anlass zur Besorgnis, ebenso wie die willkürliche Strafminderung bei Gewalt gegen Frauen in Gerichtsverfahren, die möglicherweise Ausdruck sexistischer Vorurteile und Schuldzuweisungen an die Opfer seien.
Insgesamt mangele es an politischem Engagement, sich mit Fragen der Geschlechtergleichstellung zu befassen. Eine Reihe von Faktoren untergrüben die bestehenden Bemühungen der Behörden zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Dies sei zum einen das Fehlen einer systematischen und gründlichen Bewertung der allgemeinen Politik in Hinblick auf ihre potenziellen Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie die Gewalt gegen Frauen. Zum anderen würden die Bemühungen durch die Betonung der traditionellen Rollen von Frauen als Mütter und Betreuerinnen unterminiert, was zudem wenig dazu beitrage, diskriminierende Rollen-Stereotype hinsichtlich der Rolle und Verantwortung von Frauen und Männern in Familie und Gesellschaft infrage zu stellen. Das Gesetz verpflichte sowohl die Polizei als auch die lokalen Behörden, Opfer von Gewalt oder Personen, die von Gewalt bedroht seien, Schutz und Unterstützung zu gewähren. Vorgesehen seien auch staatliche Leistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für die Opfer. Ferner sei auch vorgesehen, dass Familiengerichte Sanktionen gegen Täter verhängten. Das Gesetz schreibe die Einrichtung von Zentren zur Gewaltprävention und Gewaltüberwachung vor, die wirtschaftliche, psychologische, rechtliche und soziale Hilfe anbieten. Es gebe keine neueren zuverlässigen offiziellen Daten über die Prävalenz von Frauenmorden. Es komme immer noch zu so genannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. „schamlosen Verhaltens“ aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines „Verbrechens in der Ehe“ verdächtigt würden. Berichten zufolge seien im Jahr 2019 474 Frauen getötet worden, wobei 319 der Täter ehemalige oder gegenwärtige Ehemänner bzw. Partner oder Verwandte gewesen seien. Der Rest der Täter habe nicht zugeordnet werden können. Im Jahr 2020 seien offiziell rund 300 Frauen umgebracht worden, wobei die Dunkelziffer viel höher liege, denn viele Opfer würden laut Frauenorganisationen zu Selbstmörderinnen erklärt. Frauenvereine sähen darin ein strukturelles Problem im Justizsystem. Misstrauen sei angesagt, wenn Frauenmord als Suizid klassifiziert werde. Es handele sich immer häufiger um einen Deckmantel für einen Femizid [Anm.: Tötung von Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts].
Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt hätten, seien nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anböten, sei weiterhin unzureichend. Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, könne keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Unterkünfte in mehreren südöstlichen Provinzen seien während des Ausnahmezustands 2016-2018 und den jüngsten COVID-19-Lockdowns 2020 geschlossen worden, während andere Einrichtungen nach der Absetzung der gewählten Bürgermeister Probleme mit den von der Regierung eingesetzten Treuhändern gehabt hätten, da diese Mittel kürzten und die Partnerschaften mit den lokalen NGOs beendeten. 2020 existierten im ganzen Land lediglich 145 Frauenhäuser mit einer Kapazität von 3.482 für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder. Es fehle an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen sei. NGOs beklagten, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt werde als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überredeten. Die Zahl der Frauenmorde habe in der Türkei in den letzten zehn Jahren stetig zugenommen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Türkei, Stand: 18. Mai 2021, S. 108 f.).
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe beschreibt zwar ebenfalls, dass die vorsätzliche Tötung aus Gründen des Brauchtums nach Art. 82 des neuen Strafgesetzbuchs von 2005 explizit mit erschwerter lebenslanger Haft bestraft werde und es tatsächliche Unterstützungsdienste für betroffene Frauen, insbesondere Frauenhäuser und Telefon-Hotlines, gebe, jedoch seien die ergriffenen Maßnahmen in der Praxis unzureichend. Gewalt gegen Frauen sei weiterhin ein schwerwiegendes und weitverbreitetes Problem in ländlichen und städtischen Gebieten. In der Justizpraxis würden Ehrenmorde oft noch zu milde bestraft (so bereits Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei, 23. Oktober 2013, S. 1f., 7f., 10f., 14f.; siehe hierzu ebenfalls Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Sozioökonomische Situation rückkehrender Kurdinnen ohne soziales Netzwerk, 26. November 2015, S. 2f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gewalt gegen Frauen, 22. Juni 2021, passim). Auch halte die hohe Rate an Femiziden 2021 an: Bis Ende Mai 2021 habe We will End Femicide Platform bereits 112 Femizide und 79 verdächtige Todesfälle und Bianet mindestens 126 Femizide gezählt. «Ehre» werde in der Türkei weiterhin als Rechtfertigung für extreme Formen der Gewalt, einschließlich Mord, genutzt. Diese komme in Fällen von tatsächlicher oder vermeintlicher ehelicher Untreue und für andere tatsächliche oder vermeintliche Übertretungen der Rolle der Frau zur Anwendung. Frauen würden häufig beschuldigt, durch ihren «Ungehorsam» Gewalt zu verursachen. Die Unfähigkeit der Männer zu akzeptieren, dass Frauen ihr Schicksal selbst in die Hand nähmen, wenn sie zum Beispiel die Scheidung beantragten, gehöre zu den ersten Gründen, die zur Rechtfertigung geschlechtsspezifischer Tötungen von Frauen angeführt werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gewalt gegen Frauen, 22. Juni 2021, S. 7, 8). Überdies bestünde ein ernsthaftes Risiko der Offenlegung von Informationen über den Aufenthaltsort einer Frau und ihrer Kinder in einem Frauenhaus, insbesondere aufgrund der schlechten Koordination zwischen verschiedenen staatlichen Institutionen, und es fehle an einer zentralen Anlaufstelle für Frauen, die anonym bleiben wollten. Schutzanträge würden durch die Richterschaft nicht sorgsam geprüft. Auch würden Frauen und Kinder, die unter Schutz stünden, durch medizinische Informationen, Schulakten der Kinder oder durch Angaben der Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte aufgespürt. Sicherheitsverstöße in Frauenhäusern seien manchmal auf ein schlechtes Personalmanagement zurückzuführen. Sicherheitsbehörden kooperierten manchmal mit Tätern oder Angehörigen von weiblichen Gewaltopfern und verrieten deren Aufenthaltsort, während sie versuchten, die Frauen davon zu überzeugen, mit ihnen Frieden zu schließen. Auch sei davon auszugehen, dass seit die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten sei, die Behörden zurückhaltender bei der Umsetzung von Schutzmaßnahmen für Frauen seien. Wenn der Ehemann oder die Familie der schutzsuchenden Frau in einflussreichen Positionen seien oder über gut vermittelte Kontakte verfügten, könnten sie außerdem dafür sorgen, dass die Frau keine Unterstützung vom Staat erhalte. Daneben könne eine Frau, die unter dem Schutz des türkischen Staates stehe, von einer Person mit guten Verbindungen, wie zum Beispiel zu einem Polizeibeamten, gefunden werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 11. Mai 2021, Risiko der Offenlegung vertraulicher Informationen in Bezug auf den Schutz von Frauen, die von Verbrechen im Namen der «Ehre» bedroht sind, S. 4 f.). Darüber hinaus gestalte sich eine Reintegration der von Gewalt betroffenen Frauen schwierig, da die Unterstützungsleistungen (z.B. finanzielle und psychologische Unterstützung und Unterstützung beim Zugang zu Arbeit und Wohnraum) vielfach nicht ausreichten. Letztlich seien die Frauen während eines Aufenthalts und nach dem Austritt aus den Frauenhäusern aufgrund des damit einhergehenden finanziellen Drucks gezwungen, zu den Tätern zurückzukehren (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Reintegration der von Gewalt betroffenen Frauen, 2. Juli 2021, passim).
Die Klägerin hat substantiiert, in sich stimmig, ohne Widerspruch zu ihren bisherigen Angaben im Asylverfahren und damit letztlich glaubhaft dargelegt, dass sie in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zukünftig dazu gedrängt werden wird, zwangsweise eine Ehe einzugehen, und ihr bei einem Widersetzen Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3 a Abs. 2 Nr. 1 und 6 AsylG drohen. Insoweit zielen die künftig erwartbaren Verfolgungshandlungen auf ihr identitätsprägendes Merkmal der freien Wahl eines eigenen Partners oder auf ihre selbstbestimmte sexuelle Identität ab.
Das Vorbringen der Klägerin zu dem Mann, mit dem ihr Vater sie habe zwangsverheiraten wollen, bleibt jedoch in Zügen schemenhaft und bildlich. […] Dennoch ist das Gericht davon überzeugt, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr gegen ihren Willen zwangsverheiratet würde. Denn sie hat nachvollziehbar geschildert, dass sie trotz ihres Alters noch nicht verheiratet wurde, weil sie zunächst, nachdem ihre Schwester das elterliche Haus verlassen habe, die häuslichen Arbeiten habe verrichten müssen. Erst als ihre jüngeren Brüder verheiratet gewesen seien und ihre Schwägerinnen ihre Aufgaben übernommen hätten, habe es für sie keine Verwendung mehr gegeben und ihr Vater habe sich entschlossen, sie freizugeben. Da dieser nach ihrem Vorbringen in der Landwirtschaft/Viehzucht tätig sei, liegt es in der Tat nahe, geschäftliche Kontakte durch eine Heirat der Klägerin mit seinen Geschäftspartnern zu intensivieren und insbesondere aufgrund ihres Alters ist es schlüssig, dass sie gerade für Männer, die bereits älter sind und eine Familie haben, als potenzielle Zweitfrau in Betracht kommt. Dabei schildert die Klägerin detailliert ihre Erlebnisse im Familienverbund ausgehend von ihrer Kindheit, sodass keine Zweifel bestehen, dass es sich bei ihrer Familie um eine patriarchische und sich dem (kurdischen) Brauchtum verpflichtende Familie handelt, die eine Abkehr ihrerseits von den familiären Vorstellungen nicht akzeptieren und dulden wird und als Ehrverletzung auffasst. Sie wird deshalb zur Überzeugung des Gerichts gerade nicht selbstbestimmt ihren zukünftigen Partner wählen dürfen, wodurch eine massive Einschränkung ihrer Bestimmtheit anzunehmen ist, und es ist mit den vorstehenden Erkenntnissen davon auszugehen, dass ihr Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3 a Abs. 2 Nr. 1 und 6 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.
Die Klägerin ist auch nicht darauf zu verweisen, Schutz vor der Verfolgung durch ihre Familienmitglieder beim türkischen Staat zu suchen. Wie den vorstehenden Erkenntnissen zu entnehmen ist, gibt es zwar Möglichkeiten für Frauen, die sich im Zusammenhang mit familiären Konflikten bedroht fühlen und um ihr Leben fürchten, sich an verschiedene türkische Einrichtungen zu wenden und Schutz in Anspruch zu nehmen. Ob diese Voraussetzungen auch im Einzelfall hinreichend wirksam sind, hängt u. a. bereits davon ab, inwieweit die von familiärer Gewalt bedrohte Frau in der Lage ist, die theoretisch gegebenen Möglichkeiten zu nutzen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gruppe der gut ausgebildeten und gut vernetzten Frauen in der Lage ist, die gegebenen Schutzmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Das gilt jedoch nicht für die Gruppe der Frauen ohne ausreichende Schulbildung, die wenig türkisch spricht, sich im vorhandenen System nicht auskennt und diesem gegenüber kein Vertrauen hat (vgl. nur VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2019-A 10K 15283/17-, juris Rn. 49 m. w. N.).
Vorliegend dürfte es der Klägerin, die keine Ausbildung genossen hat, lediglich die Grundschule besuchte und dann im elterlichen Haushalt und der Landwirtschaft geholfen habe, also keinen nennenswerten Kontakt zu den türkischen Behörden hatte, bereits schwerfallen, die Schutzmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Auch ihre Tätigkeiten in der Bundesrepublik als Reinigungskraft und Mitarbeiterin in einer Tankstelle führen zu keiner anderen Bewertung, zumal aufgrund der Schilderungen des familiären Hintergrunds und der bisherigen Lebensumstände der Klägerin überdies keine gute Vernetzung anzunehmen ist. Deshalb kann offenbleiben, inwieweit der türkische Staat in diesem konkreten Einzelfall überhaupt willig und fähig ist, der Klägerin staatlichen Schutz zu gewähren.
Zuletzt ist die Klägerin auch nicht darauf zu verweisen, internen Schutz in einem anderen Teil der Türkei zu suchen. Die Klägerin hat geschildert, dass sie Teil einer Großfamilie sei. Zwar wird sich ihre Kernfamilie auf das Gebiet in Bingöl beschränken, jedoch zweifelt das Gericht hier nicht daran, dass diese weithin in der Türkei verstreut ist, Familienmitglieder u. a. auch in Izmir, Bursa und Istanbul leben und den Kontakt zueinander halten und untereinander pflegen. Insoweit ist es im vorliegenden Einzelfall beachtlich wahrscheinlich, dass sie zum einen ausfindig gemacht werden könnte, insbesondere hat ihr Vater viele Geschäftskontakte und einen gewissen Einfluss und eine regionale Begrenzung auf das Heimatgebiet liegt – wie ausgeführt – nicht vor, und dass sie zum anderen auch nach einer gewissen Zeit – wie bereits ausgeführt – mangels für sie erreichbarer Schutzmöglichkeiten zu ihrer Familie zurückkehren oder sonstige Entscheidungen treffen müsste. Ihr Vortrag in der mündlichen Verhandlung stimmt diesbezüglich auch mit dem in der Anhörung beim Bundesamt überein und das Gericht geht insbesondere aufgrund ihres angstbedingten emotionalen Verhaltens davon aus, dass ihre Familie willens ist, sie auch noch nach so langer Zeit zu finden, weil sie ihr Verhalten nicht akzeptiert. […]