STREIT 4/2022

S. 173-178

VG Sigmaringen, § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 3 AsylG

Flüchtlingseigenschaft für kurdische Frau in der Türkei

1. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 3 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn diese allein an das Geschlecht anknüpft. Die soziale Gruppe der Frauen wird in der Türkei weiterhin erheblich diskriminiert; sie hat daher als solche eine deutlich abgrenzbare Identität und wird von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet.
2. Für eine alleinerziehende Frau mit zwei Kindern, die auf kein familiäres Unterstützungsnetzwerk zugreifen kann, gibt es in der Türkei keine interne Schutzalternative, da Frauen in der patriarchal geprägten türkischen Gesellschaft auch auf dem Arbeitsmarkt weitgehend diskriminiert werden, Kinderbetreuung kaum verfügbar ist und sie deshalb den Lebensunterhalt nicht erwirtschaften kann.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des VG Sigmaringen vom 09.02.2021, A 6 K 4814/17

Zum Sachverhalt:
Die 1993 in der Türkei geborene kurdische Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie ist Mutter von zwei in den Jahren 2014 und 2015 geborenen Kindern. Die Klägerin verließ die Türkei zusammen mit ihrem ersten Kind und reiste Mitte Oktober 2015 über den Landweg in das Bundesgebiet ein, wo sie am 29.10.2015 förmlich ihren Asylantrag stellte.
Die Klägerin trug vor, die ersten Jahre in Mersin verbracht zu haben und dann im Alter von ca. vier Jahren mit ihren Eltern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und in Deutschland aufgewachsen zu sein. Im Jahr 2013 sei die Eheschließung mit einem in der Türkei lebenden Cousin (mütterlicherseits) arrangiert worden. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes sei sie auf Druck ihres Ehemanns und ihrer eigenen Familie von Deutschland in die Türkei umgesiedelt, mit der Vorstellung, die Familie würde in Istanbul leben. Tatsächlich hätten sie im Haus der Familie des Ex-Ehemannes in Cizre gelebt. Dort sei sie in ein traditionelles Leben gezwungen worden, in dem sie sich verschleiern und überwiegend im Haus der Familie habe aufhalten müssen. Sie sei von ihrer Schwiegermutter gequält worden und es sei zu dauerhaften Konflikten mit dem damaligen Ehemann, der sie geschlagen habe, gekommen.
Daraufhin habe die Klägerin sich zusammen mit ihrem Sohn ihrem Ehemann zu entziehen versucht, indem sie sich zu ihrer Schwester in Nusaybin, ihrer Tante nach Diyarbakır und zu ihrem Onkel nach Mersin begab. Ihr Ehemann habe ihr jedoch immer wieder nachgestellt und sie unter Druck gesetzt, dass sie zu ihm zurückkehren solle. In einem Fall habe der Ehemann die Klägerin gewürgt. In Mersin habe die Klägerin die Polizei aufgesucht und Schutz vor ihrem Ehemann ersucht. Dort sei ihr geraten worden, sie solle zu ihrem Ehemann zurückkehren, da man nichts machen könne. Ihr Onkel in Mersin habe sich auch auf die Seite ihres Ehemannes gestellt und habe diesen über ihren Aufenthalt bei ihm informiert.
Schließlich sei die Klägerin mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn nach Cizre zurückgekehrt, wo sie sich etwa zwei Monate lang aufhielten. Während ihres Aufenthalts in Cizre sei die Klägerin erneut schwanger geworden. Sie sei in dieser Zeit von den Familienmitgliedern des Ehemannes unterdrückt und schikaniert worden. Unter anderem habe sie die Wohnung nicht alleine verlassen dürfen. Sie sei immer wieder eingesperrt und der Sohn ihr weggenommen worden. Als sich ihr die Gelegenheit dazu bot, habe sie zusammen mit ihrem Sohn die Flucht ergriffen und habe erneut versucht u.a. bei ihrer Schwester in Nusaybin, bei ihrer Tante in Diyarbakır, bei Bekannten in Ankara und in Istanbul unterzutauchen. Ihr Ehemann und seine Familie haben ihr erneut nachgestellt, sie immer wieder aufgespürt und unter Druck gesetzt, dass sie nach Cizre zurückkehren oder den Sohn an die Familie übergeben solle.
Am 14.07.2015 habe die Klägerin mit der Hilfe eines Rechtsanwalts die Scheidung beantragt. Daraufhin sei sie erneut von Familienmitgliedern ihres Ehemannes über SMS bedroht und beschimpft worden. Es sei ihr u.a. geschrieben worden, dass Frauen, die sich scheiden ließen, Schlampen seien und dass man sie umbringen müsse. Als sich die Klägerin bei ihrer Tante aufhalten habe, habe ihr Ehemann eine Tüte vor ihre Haustüre gelegt, in der ein Zettel gelegen habe, auf dem es hieß, er wisse, wo er sie finde. Schließlich sei die Klägerin nach Deutschland zurückgekehrt. Ihr früherer Ehemann sei ihr nach Deutschland gefolgt und habe sie wissen lassen, dass er die Scheidung nicht akzeptiere und dass er ihr ihren Sohn wegnehmen wolle. Er habe der Klägerin wiederholt gedroht, unter anderem, indem er geäußert habe, er werde sie umbringen, wenn sie einen (anderen) Freund habe, oder indem er sie gefragt habe, ob er sie erstechen oder erwürgen solle. Im Januar 2019 habe die Klägerin einen Selbstmordversuch unternommen, indem sie Tabletten zu sich nahm. Dieser Selbstmordversuch habe ihren Ex-Ehemann und dessen Familie dazu veranlasst, der von der Klägerin begehrten Scheidung auch der religiösen Ehe zuzustimmen; die Scheidung sei anschließend vollzogen worden.
Der Ex-Ehemann der Klägerin habe ein Umgangsrecht mit den gemeinsamen Kindern erhalten, habe aber im Juli 2020 den jüngeren Sohn geschlagen, so dass dieser an mehreren Stellen am Körper Hämatome aufwies. Der Ex-Ehemann habe sich gegenüber dem Bruder der Klägerin dazu geäußert, dass es seine Kinder seien; wenn er wolle, schlage er sie und wenn er wolle, dann liebe er sie.
Eine ältere Schwester und Angehörige der Großfamilie würden noch in der Türkei leben. In der Türkei sei sie nie in einer Schule gewesen. Sie habe in Deutschland den Hauptschulabschluss erlangt.

Mit Bescheid vom 26.05.2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag der Klägerin vollumfänglich ab.
Die Klägerin erhob daraufhin Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen und beantragt, die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt, und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26.05.2017 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
(Zusammenfassung des Sachverhalts aus Tatbestand und Entscheidungsgründen durch die Redaktion.)

Aus den Gründen:
[…] Die Klägerin hat […] einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Soweit der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26.05.2017 dies versagt, ist er daher rechtswidrig, verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) und ist daher insoweit aufzuheben. […]
[D]ie Klägerin [erfüllt] die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Nach dem Ergebnis der informatorischen Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist der Berichterstatter davon überzeugt (§ 108 VwGO), dass der rechtlichen Würdigung ein glaubhafter Kernsachverhalt zugrunde zu legen ist, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu tragen vermag.
[…] Die Beurteilung des klägerischen Vorbringens als Glaubhaft beruht zunächst darauf, dass die Klägerin das sehr umfassende und komplexe (Vor-)Verfolgungsgeschehen in der mündlichen Verhandlung detailreich und lebhaft darstellen konnte. Nachfragen des Berichterstatters oder ihrer Prozessbevollmächtigten zu weitergehenden Einzelheiten vermochte die Klägerin schlüssig zu beantworten, ohne dass der Eindruck entstand, dass lediglich auswendig Gelerntes wiedergegeben wurde. Zwar bereitet es der Klägerin gewisse Schwierigkeiten, die einzelnen von ihr geltend gemachten Ereignisse in eine klare chronologische Reihenfolge zu bringen und ihre Angaben zu Zeitpunkten und Örtlichkeiten weisen Unstimmigkeiten auf, auch im Verhältnis zu ihren Aussagen beim Bundesamt. […] Jedoch lassen sich diese Widersprüche noch hinreichend dadurch erklären, dass das von der Klägerin darzulegende Verfolgungsgeschehen sich über mehrere Jahre (etwa 2013 bis heute) hinweg erstreckt und gerade nicht durch wenige, prägnante Ereignisse geprägt ist, sondern sich durch eine andauernde Kette von – sich zum Teil wiederholenden – Druck- und Fluchtsituationen auszeichnet. Dass es hier in der Erinnerung der Klägerin zu Verwechslungen oder Schwierigkeiten bei der genauen zeitlichen Verortung kommt, ist nachvollziehbar und damit erklärbar. Insgesamt stehen diese Ungenauigkeiten in den Details aber dem Gesamteindruck des Berichterstatters, dass der Vortrag der Klägerin im Kern glaubhaft ist, nicht entgegen. Darüber hinaus vermochte die Klägerin ihr Verfolgungsschicksal durch die Vorlage zahlreicher Dokumente, insbesondere auch durch ein Protokoll aus dem Scheidungsprozess und das Scheidungsurteil aus der Türkei zu belegen. Die Bedrohung durch ihren Ex-Ehemann geht außerdem auch aus den beigezogenen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft hervor. Schließlich stellte auch das Bundesamt die Angaben der Klägerin in tatsächlicher Hinsicht nicht in Frage, sondern bewertete diese lediglich abweichend. […]

Zur geschlechtsspezifischen Verfolgung von Frauen in der Türkei, insbesondere zur Situation von Frauen, die gegen den Willen ihrer Männer eine Scheidung herbeigeführt haben, ist den Erkenntnismitteln Folgendes zu entnehmen:
Im aktuellen Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amtes vom 24.08.2020 (Stand: Juni 2020, S. 17 f.) heißt es, in der Türkei komme es aber immer noch zu so genannten „Ehrenmorden“, d. h. ins­besondere zu der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die eines sog. ,,schamlosen Verhaltens“ aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines ,,Verbrechens in der Ehe“ verdächtigt würden. Dies schließe auch Vergewaltigungsopfer mit ein. Regierung und Nichtregierungsorganisationen bestätigten, dass sich die Polizeiarbeit beim Umgang mit Gewaltopfern verbessert habe. Dennoch bestehe nach Aussagen türkischer Frauen-NROs immer noch kein ausreichend staatlicher Schutz für Frauen. Großstädte und Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern müssten Frauenhäuser einrichten. Tatsächlich hätten nach Angaben des türkischen Familienministeriums Ende 2019 insgesamt 144 staatliche Frauenhäuser mit einer Kapazität von insgesamt ca. 3.000 Plätzen existiert. Außerdem gebe es wenige private Einrichtungen wie das Frauenhaus von Mor Cati in Istanbul sowie in Konya eine Anlaufstation für Männer. Nach Aussage staatlicher Stellen stünden diese Einrichtungen auch Rückkehrern zur Verfügung.
In einer Anfragenbeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA) zur Situation geschiedener Frauen in der Türkei vom 07.07.2019 wird ausgeführt, laut vorliegender Quellen habe sich die Zahl der Scheidungen in der Türkei erhöht. Dies trotz der Stigmatisierung geschiedener Frauen, insbesondere in konservativen, ländlichen Milieus, auch durch die eigene Familie. Gleichzeitig sei die Zahl der Gewalthandlungen, inklusive der Ermordung von Frauen signifikant hoch. Laut vorliegenden Quellen seien seit 2010 ein Fünftel der ermordeten Frauen infolge von Trennung oder Scheidung getötet worden. Ehrenmorde infolge von Trennung oder Scheidung durch den Ex-Partner kämen ebenso vor wie jene durch Familienangehörige. Für geschiedene Frauen gebe es laut vorliegenden Quellen keine spezifischen Einrichtungen. Frauenhäuser bestünden, doch kritisierten Frauenorganisationen, dass die Anzahl der verfügbaren Plätze nicht nur zu gering sei, sondern statistisch betrachtet in den letzten Jahren abgenommen habe.
Mit Bezug auf einen Bericht der OECD aus dem Jahr 2019 heißt es weiter, dass Frauen die gleichen Rechte wie Männer hätten, um die Scheidung einzuleiten und abzuschließen. Das Gesetz unterscheide Männer und Frauen nicht in Bezug auf Unterhalt und Ersatz von Schäden aus einer Scheidung. Scheidung würde aber stigmatisiert. Frauen zögerten oft ein Verfahren einzuleiten, weil sie befürchteten, als gesellschaftlich abnorm tituliert zu werden oder die Gefahr von Missbrauch oder sogar Tod durch gewalttätige Ehemänner bestehe. Das US-amerikanische Außenministerium führe in seinem Menschenrechtsbericht für das Jahr 2018 an, dass das Gesetz die Polizei und die lokalen Behörden verpflichte, Überlebenden von Gewalt oder Personen, die von Gewalt bedroht seien, Schutz und Unterstützung zu gewähren. Vorgesehen seien auch staatliche Dienstleistungen, wie Unterkünfte, und vorübergehende finanzielle Unterstützung für die Opfer. Ferner sei auch vorgesehen, dass Familiengerichte Sanktionen gegen die Täter verhängten. Das Gesetz sehe die Einrichtung von Zentren zur Gewaltprävention und -überwachung vor, die wirtschaftliche, psychologische, rechtliche und soziale Hilfe anböten.
Frauen-NGOs vermerkten hingegen, dass es nicht genügend Unterkünfte gebe, um den Bedürfnissen der wachsenden Zahl von Frauen, die um Hilfe ansuchten, gerecht zu werden. Während ihrer siebzehnjährigen Herrschaft habe die konservative AK-Partei bzw. die AKP-Regierung eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten und drei Kinder bekommen, so Präsident Recep Tayyip Erdogan. Erdogans älteste Tochter, Esra Albayrak, habe öffentlich die Rechte westlicher Frauen als selbstgefällig kritisiert. Sie habe sich der Botschaft ihres Vaters angeschlossen, dass die Türkei ihre eigenen Lösungen für geschlechtsspezifische Fragen finden müsse, wobei der Schwerpunkt auf den traditionellen Rollen von Frauen als Mütter, Schwestern und Töchter liege. Das Problem im türkischen Recht bestehe darin, dass die Beweislast in Fällen häuslicher Gewalt auf die Opfer falle, die, wie Frauenrechtlerinnen argumentierten, durch die Justiz wie Parias behandelt würden. Wenn ein Mann behaupte, dass seine Partnerin ihn in einer Auseinandersetzung verflucht oder „provoziert“ habe, entscheide der Richter im Zweifel für den Angeklagten. Es gebe oft auch kulturelle Barrieren aus dem familiären Umfeld. Trotz offensichtlicher Gewalt sähen sich einige der Frauen mit Missbilligung ihrer Familien konfrontiert, die der Meinung seien, dass die Frauen für die Gewalt verantwortlich seien, die sie erlebt hätten. Laut eines Berichts der türkischen Tageszeitung Hürriyet aus 2015 sei der am häufigsten genannte Grund für den Mord an einer Frau, dass die Frau eine Scheidung gewollt oder die Versöhnung verweigert habe. Die meisten davon seien Frauen gewesen, die ihre Unabhängigkeit und Freiheit vom Missbrauch gewollt hätten. Laut der Webseite, ,,Kadin Cinayetleri“ (,,Frauenmorde“), welche Frauenmorde in der Türkei registriere und statistisch aufbereite und mit dem Nachrichtenportal „bianet“ zusammenarbeite, seien seit 2010 bis zum Zugriffsdatum [6.6.2019] 403 Frauen ermordet worden (von insgesamt 1.964 Frauen), die die Scheidung eingereicht oder eine Trennung vorgenommen hätten. Im gleichen Zeitraum seien 101 Frauen sog. Ehrenmorden zum Opfer gefallen.
In einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 06.04.2016 (Frankfurter Allgemeine Zeitung (6.4.2016): Frauenmord als Mentalitätsfrage, https://www.faz.net/ak­tuell/gesellschaft/kriminalitaet/gewalt-gegen-frauen-in-der-tuerkei 14162187.html, zuletzt abgerufen am 27.04.2021), den auch die Anfragenbeantwortung der Staatendokumentation des BFA vom 07.07.2019 zitiert (S. 8 f.), heißt es, Gewalt gegen Frauen sei ein Problem auf der ganzen Welt, aber im internationalen Vergleich sei die Zahl an Gewalttaten in der Türkei besonders hoch angesichts der vielen Reformen, die in den vergangenen Jahren auch von der türkischen Frauenbewegung durchgesetzt worden seien. ,,Besonders wenn Frauen nicht untertänig sind, werden sie zu Opfern von Gewalt“, sage die Frauenrechtlerin und Filmemacherin Melek Özman. ,,Und wenn Frauen ihre Rechte nutzen wollen, wenn sie Entscheidungen über ihr eigenes Leben fällen wollen, beispielsweise, wenn sie sich scheiden lassen möchten.“ Türkische Frauenrechtlerinnen beklagten aber auch, dass die existierenden Gesetze nicht effektiv sein könnten, um Frauen vor Gewalt zu schützen, solange nicht auch ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinde und sich das Prinzip der Gleichheit von Mann und Frau durchsetze. In weiten Teilen der türkischen Gesellschaft herrsche das traditionelle Frauenbild vor, das die Frau vorrangig als Teil der Familie sehe und ihr damit ein individuelles Selbstbestimmungsrecht abspreche.

Dies zugrunde gelegt ist davon auszugehen, dass die Klägerin vor ihrer Ausreise aus der Türkei unmittelbar von Verfolgungshandlungen durch ihren Ex-Ehemann und dessen Familie bedroht war und im Fall einer Rückkehr in die Türkei mit derartigen Verfolgungshandlungen auch weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu rechnen hat. Nicht zuletzt muss sie ernsthaft befürchten, von ihrem Ex-Ehemann oder dessen Familie getötet zu werden, weil sie aus ihrer Ehe geflohen ist und sowohl die zivilrechtliche als auch die religiöse Scheidung gegen den Willen ihres Ex-Mannes erzwungen hat. Dass die Verfolgungsmotivation des Ex-Ehemannes und seiner Familie (weiterhin) ausgeprägt ist, wird schon daran deutlich, dass der Ex-Ehemann und seine Familie der Klägerin über Jahre hinweg sowohl in der Türkei als auch in Deutschland mit großem Aufwand nachgestellt haben und sie immer wieder auf unterschiedlichen Kanälen und auf unterschiedliche Weise – nicht zuletzt auch über ihre eigene Familie – unter Druck gesetzt haben. Die Gefahr eines gegen die Klägerin gerichteten Tötungsdelikts erscheint dabei auch deshalb beachtlich wahrscheinlich, weil der Ex-Ehemann und seine Familie die Klägerin wiederholt und unmissverständlich mit dem Tode bedroht haben, zuletzt auch in Deutschland.
Darüber hinaus hat der Ex-Ehemann der Klägerin wiederholt gezeigt, dass er nicht davor zurückschreckt, Gewalt anzuwenden. Dies wird beispielhaft daran deutlich, dass er den gemeinsamen Sohn körperlich misshandelt und die Klägerin bei einem Vorfall in der Türkei am Hals gewürgt hat; letzteres stellt eine potentiell lebensbedrohliche Gewalttat dar. Dabei kann offenbleiben, ob die Eheschließung der Klägerin bereits als Zwangsehe einzustufen ist oder (noch) als arrangierte Ehe angesehen werden kann, was sich aufgrund der oben getroffenen Feststellungen nicht abschließend klären lässt bzw. eher zu verneinen sein dürfte. Jedenfalls ergibt sich aus den glaubhaften Schilderungen der Klägerin, dass sie mit Drohungen und Gewalt an der Festhaltung an der Ehe gezwungen werden sollte bzw. dass ihr wegen der Auflösung der Ehe und der damit einhergehenden Verletzung der Ehre der Familie ihres Ex-Ehemannes nunmehr eine „Bestrafung“ droht, die letztlich auch ihre Tötung bedeuten kann.

Die Klägerin muss diese Verfolgungsnahmen auch wegen ihres Geschlechts und so­ mit wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG befürchten. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 3 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn diese allein an das Geschlecht anknüpft. Einer weiteren Untergliederung oder Unterscheidung bzw. Bildung spezifischer Fallkonstellationen innerhalb der sozialen Gruppe der Frauen, etwa „Frauen, denen eine Zwangsverheiratung droht“ einerseits und „Frauen, die sich einer bereits bestehenden Zwangsehe entzogen haben“ andererseits, bedarf es angesichts des § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Hs. nicht (vgl. Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfg § 3b, Rn. 13 ff.). Die soziale Gruppe der Frauen wird in der Türkei weiterhin erheblich – und allem Anschein nach wieder zunehmend – diskriminiert; sie hat daher als solche eine deutlich abgrenzbare Identität und wird von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet (vgl. zu diesem kumulativen Maßstab: BVerwG, Beschluss vom 28.08.2019 – 1 B 64.19 -, Rn. 9 und 10, juris; so dem Grunde nach wohl auch VG Würzburg, Urteil vom 14.03.2019 – W 9 K 17.31742 -, Rn. 31, juris, zu einer Zwangs­ehe in Afghanistan; a.A. VG Karlsruhe, Urteil vom 19.07.2019 – A 10 K 15283/17 -, Rn. 27, juris, zu einer Frau, die sich einer Zwangsehe widersetzt und stattdessen einen Mann ihrer Wahl geheiratet hat; VG Göttingen, Urteil vom 21. April 2020 – 2 A 917/17 -, Rn. 28, juris, zu einer von Ehrenmord bedrohten Frau im Irak). Die Klägerin wird gerade deswegen mit Gewalt bedroht, weil sie sich „als Frau“ gegen den Willen ihres Ehemannes und dessen Familie aus ihrer Ehe gelöst, sich der Verfügungsgewalt ihres Ehemannes entzogen und damit der von ihr eingeforderten traditionellen Frauenrolle widersetzt hat.
Wie aus den oben zitierten Erkenntnismitteln hervorgeht, sind große Teile der türkischen Gesellschaft weiterhin durch patriarchalische Strukturen sowie Denk- und Handlungsweisen geprägt; dies gilt erst recht und in besonderem Maße für die kurdisch geprägten Gebiete in Südostanatolien, aus denen die Familie ihres Ex-Ehemannes stammt und in denen sie im Rahmen ihrer Ehe leben sollte. Auch wenn die Gesetzgebung in der Türkei eine Gleichstellung von Mann und Frau in den vergangenen Jahren (formal) bekräftigt hat und in Teilen der Bevölkerung, gerade im Westen der Türkei und in den größeren Städten diesbezüglich eine fortschrittlichere Haltung vorherrschen mag, wird diese Entwicklung durch politische Äußerungen aus der Regierungspartei AKP und nicht zuletzt auch des Präsidenten Erdogan relativiert und damit politisch eine gegenläufige kulturelle Atmosphäre gefördert. Die berichteten zahlreichen Tötungsdelikte gegen Frauen in der Türkei wurzeln maßgeblich in einem Frauenbild, das Frauen eine bestimmte Rolle als „Mütter, Schwestern und Töchter“ zuweist, ihnen „Untertänigkeit“ gegenüber ihrem Ehemann und ggf. dessen Familie abverlangt und ihnen versagt, eigenständig über ihr Leben zu entscheiden.
Dementsprechend besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Klägerin und der gegen sie gerichteten Verfolgung. Die gegen sie gerichtete Verfolgung wäre in dieser Weise nicht denkbar – und aus Sicht der Täter nicht „legitim“ – wenn sie keine Frau wäre. Dies wird auch an den Umständen ihres Einzelfalls deutlich. So berichtete sie etwa, dass die Verfolgungsintensität unmittelbar nach ihrer zivilrechtlichen Scheidung massiv zugenommen habe und sie von ihrem Ehemann und dessen Familienangehörigen SMS bekommen habe, dass Frauen, die sich scheiden ließen, ,,Schlampen“ seien und umgebracht werden müssten.

Bei dem früheren Ehemann und dessen Großfamilie handelt es sich um nichtstaatliche Verfolgungsakteure. Nach der Erkenntnislage und der individuellen Situation der Klägerin ist derzeit nicht davon auszugehen, dass der türkische Staat der Klägerin gegen ihre Verfolgung hinreichend wirksamen Schutz gewähren wird (§ 3c Nr. 3 AsylG).
Wie oben bereits dargelegt wurde, ergibt sich aus den Erkenntnismitteln zwar, dass der türkische Staat Maßnahmen ergriffen hat, um Frauen besser vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen. So sind Frauen und Männer vor dem Gesetz formal weitgehend gleichgestellt. Die Gesetzesvorschriften, die Blutrache- und Ehrenmordtaten betreffen, sind verschärft worden. Es gibt Frauenhäuser und Telefon-Hotlines für Betroffene. Ob diese Maßnahmen, die durch die Politik der türkischen Regierung bzw. der AKP zum Teil wieder konterkariert werden, hinreichend wirksam sind, um Frauen effektiv vor möglichen Misshandlungen zu schützen, lässt sich derzeit nicht pauschal beantworten, sondern bedarf vielmehr einer Würdigung aller konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 19.07.2019 – A 10 K 15283/17 -, Rn. 50, juris m.w.N.; Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 18.12.2014 – 8 A 36/13 -, S. 7, juris).
Maßgeblich ist dabei zunächst, dass die Klägerin bereits in der Vergangenheit mit ihren Versuchen gescheitert ist, in der Türkei wirksamen staatlichen Schutz zu erlangen. Sie sprach dort bereits bei der Polizei in Mersin vor und bekam nach ihren glaubhaften Schilderungen die Antwort, sie solle zu ihrem Ehemann zurückkehren und solle anrufen, wenn es Gewalt gebe. Auch ihr Anwalt in der Türkei zeigte sich ob der Bedrohung durch die Familie ihres damaligen Ehemannes hilflos und verwies sie darauf, im Fall von Gewalt die Polizei zu rufen und riet ihr letztlich dazu, mit Blick auf die zahlreichen ,,Ehrenmorde“ gegen Frauen das Land zu verlassen. Darüber hinaus wurde die Klägerin auch von ihrer Familie in der Türkei – und in Deutschland – immer wieder unter Druck gesetzt, bei ihrem (damaligen) Ehemann zu bleiben bzw. zu diesem zurückzukehren. Insbesondere rief ihr Onkel ihren damaligen Ehemann an, als sie bei ihm Schutz suchte, damit dieser sie bei ihm abholen konnte; darüber hinaus drohte auch ihr Onkel ihr mit Bestrafung, wenn sie nicht zu ihrem damaligen Ehemann zurückkehren sollte.
Allerdings wäre die Klägerin – mit ihren beiden Kindern – bei einer Rückkehr in die Türkei aller Voraussicht nach gerade auch auf die finanzielle und materielle Unterstützung ihrer Familie angewiesen, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen, was ihr aufgrund der beschriebenen Umstände aber nicht zumutbar ist. Frauen werden, wie oben dargelegt, in der patriarchalisch geprägten türkischen Gesellschaft weitgehend diskriminiert (vertiefend Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei, 23.10.2013, S. 17 ff.; vgl. zum Ganzen auch: vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 19.07.2019 – A 10 K 15283/17 -, Rn. 50). Dies gilt insbesondere für den Arbeitsmarkt. Nur jede dritte Frau nimmt am Erwerbsleben teil, was die niedrigste Quote unter den 35 OECD-Ländern darstellt (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Türkei, 28.01.2019, S. 72). Soweit Frauen arbeiten, sind sie überwiegend im Niedriglohnsektor beschäftigt (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Türkei, Arbeitsmöglichkeiten für Frauen, 08.01.2018, S. 1), wobei sie sich dort infolge des Syrienkrieges gegenüber einer hohen Zahl an möglichen anderen billigen Arbeitskräften in Form von Flüchtlingen behaupten müssen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Sozioökonomische Situation rück­kehrender Kurdinnen ohne soziales Netzwerk, 26.11.2015, S. 6).
Dabei weist die Klägerin weitere erschwerende Merkmale auf, die kumulativ zu ihren Lasten wirken. Zum einen verfügt sie lediglich über einen Hauptschulabschluss (aus Deutschland) und keine abgeschlossene Berufsausbildung; ihre Ausbildung als Friseurin konnte sie bisher nicht zu Ende bringen. Zum anderen läuft sie auf dem türkischen Arbeitsmarkt auch aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit Gefahr, diskriminiert zu werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Sozioökonomische Situation rückkehren­der Kurdinnen ohne soziales Netzwerk, 26.11.2015, S. 4 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei, 23.10.2013, S. 18 f.).
Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich die Klägerin um zwei Kleinkinder zu kümmern hat. Dass sie in der Türkei auf staatliche Kinderbetreuungseinrichtungen wird zurückgreifen können, ist unwahrscheinlich. In der Türkei werden 89,6% der Kinder von ihren Müttern betreut. Nur 2,4% der Kinder befinden sich in Kinderbetreuungseinrichtungen (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Türkei, 28.01.2019, S. 72). Sozialhilfe im deutschen Sinne gibt es in der Türkei nicht. Soweit es Programme für mittellose Familien gibt, können diese die in der Türkei übliche Unterstützung durch den Familienverband nur ergänzen, aber nicht ersetzen (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Türkei, 28.01.2019, S. 73, 87 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 03.08.2018, S. 29; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Sozioökonomische Situation rückkehrender Kurdinnen ohne soziales Netzwerk, 26.11.2015, S. 13 ff.). Die Zufluchtsmöglichkeiten in Frauenhäusern werden als unzureichend beschrieben. Im Südosten, der Herkunftsregion der Klägerin, sollen einige Einrichtungen sogar geschlossen worden sein (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Türkei, 28.01.2019, S. 73; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei, 23.10.2013, S. 8 f.).

Der Klägerin steht auch kein interner Schutz nach der Norm des § 3e AsylG zur Verfügung. Es kann von ihr nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich in einem anderen Teil der Türkei niederlässt, in dem sie keine begründete Furcht vor Verfolgung haben muss. Die Klägerin legte glaubhaft dar, dass ihre früheren Versuche, in der Türkei an verschiedenen Orten unterzutauchen (u.a. in Ankara, Mersin und Istanbul) immer wieder scheiterten. Dies dürfte zwar darin begründet sein, dass sie bei Verwandten und Bekannten untertauchte und dies daher über ihr eigenes familiäres Netzwerk immer wieder zu ihrem damaligen Ehemann durchsickerte. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Familienangehörigen ihres Ehemannes die Mittel und Wege hätten, sie in einer anderen Stadt oder gar in einem anderen Landesteil der Türkei aufzuspüren, sofern sie jeden Kontakt zu Verwandten abbräche. Die Klägerin wäre aber, wie oben dargelegt, aller Voraussicht nach innerhalb kurzer Zeit gezwungen, ihre Verwandten um materielle und/ oder sonstige Unterstützung zu bitten, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen, und müsste dabei ernsthaft befürchten, von der Familie ihres Ex-Ehemannes wieder aufgespürt zu werden. […]