STREIT 3/2020
S. 99-109
Der patriarchale Kern im Recht des Nationalsozialismus – am Beispiel von Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisationen und Kindermorden
„Die von einer Frau gewünschte und durchgesetzte Abtreibung – und sei sie noch so brutal und selbstzerstörerisch – stellt so deutlich wie nirgendwo sonst unter Beweis, dass sie diese Macht über Leben und Tod originär besitzt und mit ihrem Willen nutzen kann (…). Sie tritt damit in Konkurrenz zu einer Männergesellschaft, in der sich allein staatliche und wissenschaftliche Institutionen das Recht vorbehalten haben, über Leben und Tod zu entscheiden.“
(Anna B. Bergmann)1
„‚Das Auge, das mich zum Bösen führt‘ (…) zeigt, dass die von Gott gegebenen Funktionen des Leibes in absolutem Gehorsam zu stehen haben.“
(Friedrich von Bodelschwingh, Treysa 1931)2
„Zugleich aber ist der nationalsozialistische Staat gerade kein Polizeistaat, sondern ein völkischer Rechtsstaat.“
(Aus dem Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission 1935)3
Für und gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frauen über ihren Körper
Seit Inkrafttreten des Strafgesetzbuches von 1871 sorgte und sorgt der § 218 StGB und die damit im Zusammenhang stehenden Strafrechtsvorschriften für erregte Diskussionen und Auseinandersetzungen. Parallel dazu wurde über Verhütungsmittel, über die „Sittlichkeit“ und die Rolle von Frauen gestritten. Diese Diskussionen spiegeln wie durch ein Brennglas die jeweilige Stärke und Schwäche der Frauenbewegung ebenso wie die Stärke und Schwäche ihrer Gegner wider.
Absoluter Tiefpunkt in der Geschichte war ausgehend von dem Versuch, die Eigenabtreibungen zu beenden, die Zeit des Nationalsozialismus. Mit Gesetzen, Ausführungsverordnungen, Geheimerlassen, Dienstanweisungen, Druck auf abhängig Beschäftigte und kontrollierenden Melderegelungen, geheimen und willkürlichen Tötungsprogrammen und der entsprechenden öffentlichen Propaganda der NS-Zeit wurde ein Druck aufgebaut, der unzähligen Frauen das Leben kostete, sie in die Konzentrationslager und in die Gaskammern brachte und ihren Alltag maßgeblich beeinflusste. Diese Frauen gehörten nicht nur zu den zur Vernichtung bestimmten Gruppen wie die Jüdinnen, Sinti- und Roma-Frauen und sog. Asozialen. Der NS-Staat als selbsternannter „Männerstaat“ mit seiner strikten Geschlechterhierarchie bedrohte, verfolgte und disziplinierte auch „seine, vorgeblich arischen“, Frauen in einem bisher in der Geschichte nicht bekanntem Umfang. In diesem Aufsatz soll der Frage nachgegangen werden, welche juristischen Vorgaben es gab.
Vor der staatlichen Machtergreifung der NSDAP
In der Frauenbewegung begann die Diskussion über § 218 StGB vor dem ersten Weltkrieg und wurde in den unterschiedlichen Gruppierungen unterschiedlich geführt. Der sozialistische Flügel, vertreten durch Clara Zetkin, war ursprünglich der Meinung, Arbeiterfrauen sollten für die sozialistische Zukunft Kinder gebären. Sie sprach sich in der sog. Gebärstreikdebatte (1913) gegen einen Gebärstreik aus. In der Weimarer Zeit änderte sich diese Position und Arbeiter- und Frauenbewegung gehörten zu den entschiedensten Gegnerinnen des § 218. Vorreiterinnen der Kritik waren die sog. bürgerlichen Frauen wie Camilla Jellinek, die als Vorsitzende der Rechtsschutzkommission des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) als Erste 1908 aus Gründen der Rechtsgleichheit die ersatzlose Streichung des § 218 forderte.4 Ihr Hauptargument war das Recht auf Selbstbestimmung der Frauen. Dieser argumentative Schwerpunkt beherrscht bis in die Gegenwart die politische Debatte, nicht zuletzt weil § 218 StGB auch heute noch von der Rechtswidrigkeit der Abtreibung ausgeht.
Ein weiterer Diskussionsstrang seit Ende des 19. Jahrhunderts verschärfte in der Weimarer Zeit die politischen Auseinandersetzungen, der Aufstieg von „Eugenik“ und „Rassenhygiene“ und die von national-konservativer und völkischer Seite propagierte Trennung von Menschen in „wertvoll“ und „lebensunwert“ und in „Heilbare“ und „Unheilbare“. Hinzukam im Rahmen der Bevölkerungspolitik der Wunsch nach möglichst vielen Kindern, um die Verluste des ersten Weltkrieges auszugleichen. Die Befürworter des Mordes an Behinderten und „Geisteschwachen“ argumentierten wie die beiden Rechts- und Medizinprofessoren Binding und Hoche 1920:5
„Die zweite Gruppe nach denen, die selbst erlöst werden wollen, besteht aus den unheilbar Blödsinnigen – einerlei, ob sie so geboren oder etwa wie die Paralytiker im letzten Stadium ihres Leidens so geworden sind. Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müsste. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke – außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuen Pflegerin.“ (im Orginaltext S. 31)
Das rassistische Credo war „Auslese und Ausmerze“.6
Durch die massenhafte Vernichtung aller Behinderten, der Leistungs- und Geistesschwachen, die als „unnütze Esser“ galten, sollte ein starkes, wehrhaftes deutsches Volk entstehen.
Am 11.3.1927 (RStG 61, S. 242 ff.) hatte das Reichsgericht die Indikation bei Abtreibungen aus medizinischen Gründen für rechtens erklärt. Bei einer Güterabwägung zwischen der Schwangeren und dem Embryo entschied es sich für das Leben der Mutter. Diese Entscheidung wurde wenige Jahre später der entscheidende Auslöser für „rassenhygienische“ und „eugenische“ Indikationen durch Staatseingriffe, die zunehmende Bedeutung der NS-Ärzteschaft und Juristen und ihren sozialen Aufstieg.
1933 – Die Anfänge
Der nationalsozialistische staatliche Machtapparat bündelte ab 1933 die rechtskonservativen und nationalsozialistischen Überlegungen und Forderungen. Bereits am 29.5.1933 (RGBl I, S. 295) wurden §§ 219 und 220 StGB geändert und die „öffentliche Ankündigung und Ausstellung“ von Verhütungsmitteln (§ 219 StGB) und das „Anbieten oder Förderung von Abtreibungen“ (§ 220 StGB) jeweils mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe unter Strafe gestellt. Ärzte wurden allerdings freigestellt, „wenn ihre Mittel zur ärztlich gebotenen Unterbrechung der Schwangerschaft dienen.“7
Außerdem verknüpfte der Gesetzgeber die Abtreibungsfrage mit der Ehegesetzgebung. Die „rassenreine“ Ehe, die den Frauen einen zentralen Platz zuwies, vor allem im Haushalt und als Mutter, aber auch – wenn staatlich erwünscht – in der Erwerbsarbeit, war einer der wichtigsten Schwerpunkte juristischer Aktivitäten. Der zweite Schritt in diese Richtung war das Gesetz zur Verhinderung der Arbeitslosigkeit und zur Förderung der Eheschließung vom 1.6.1933, nach dem die Frauen aus dem Erwerbsleben verdrängt werden sollten und zinslose Ehestandsdarlehen gewährt wurden, sofern die „Eheleute nicht an vererblichen, geistigen oder körperlichen Gebrechen litten“ (§ 1 der 1. DurchführungsVO vom 20.6.1933).8
Der dritte Schwerpunkt wurde das Gesetz zur Sterilisation (Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933, RGBl I S. 529), das am 1.1.1934 in Kraft trat.
Sterilisiert werden konnten Männer und Frauen, bei denen erbkranker Nachwuchs erwartet wurde, und die an angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz, erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwerer erblichen körperlichen Mißbildung und schwerem Alkoholismus litten. Antragsberechtigt waren die Betroffenen, die gesetzlichen Vertreter bei Minderjährigen und Pfleger und Vormünder, außerdem beamtete Ärzte und Anstaltsleiter für die Insassen der Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten oder Strafanstalten. Die „Erblichkeit“ einer Krankheit, ihre Schwere und die „Angeborenheit“, allesamt auch in der NS-Zeit kontrovers diskutierte Kritierien, wurden durch umfangreiche Befragungen über die Vorfahren und Familienverhältnisse und durch ärztliche Gutachten festgestellt.
Zuständig für die Bearbeitung der Anträge waren die Erbgesundheitsgerichte, „in dessen Bezirk der Unfruchtbarzumachende seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Das Erbgesundheitsgericht ist einem Amtsgericht anzugliedern“. Neben dem Amtsrichter gehörten dem Entscheidungsgremium ein beamteter Arzt und ein weiterer Arzt an, „der mit der Erbgesundheitslehre besonders vertraut ist“. Das Verfahren war nicht öffentlich und stellte die „notwendigen“ Ermittlungen im Rahmen von „Kann-Bestimmungen“ an. Die Ärzte waren an ihr Berufsgeheimnis nicht gebunden. Gegen eine negative Entscheidung war die Berufung an die Erbgesundheitsobergerichte möglich.
Gesetz und Realität klafften schnell auseinander. So war die vorgesehene Einwilligung der Betroffenen weitgehend eine Farce. Außerdem wurde der „angeborene Schwachsinn“ häufig gleichgesetzt mit unerwünschten, sog. asozialen Familienverhältnissen und allen Arten von Leistungsschwächen. Durch die unbestimmten Rechtsbegriffe, die unterschiedlichen Fachmeinungen der Ärzte zu Erbkankheiten und durch die unterschiedliche Bereitschaft aller Beteiligten, sich den „rassehygienischen Gründen“ des Gesetzes unterzuordnen, gab es weite, zum Teil exzessive Auslegungen. Nach gegenwärtiger Schätzung wurden 350.000–360.000 Menschen in dafür ausgesuchten Kliniken zwangssterilisiert. Auch die Röntgen- und Radiumkastration und die Entfernung der Keimdrüsen war vorgesehen. Gleichzeitig wurden sog. Erbkarteien angelegt, die wenige Jahre später dazu dienten, Menschen – oft über sog. Zwischenanstalten – in die Gaskammern nach Grafeneck, Hadamar, Pirna-Sonnenstein, Brandenburg, Bernburg oder Hartheim in Österreich zu deportieren und dort zu ermorden. Jüdische Patienten und Patientinnen waren die ersten, die davon betroffen waren. In vielen Heil- und Pflegeanstalten wurden Menschen durch Vergiften, Verhungernlassen und medizinische Experimente getötet. Es sind ca. 200.000–250.000 Menschen, die auf diese Weise ums Leben kamen und deren Ermordung in die Geschichte unter dem verharmlosenden Begriff „Euthanasie“ (guter Tod) einging. Ca. 5.000 Frauen starben an den Zwangssterilisationen. Viele der Frauen waren vor den Deportationen in den Tod bereits zwangssterilisiert worden.
Eine der bekanntesten Frauen ist Dorothea Buck, die mit 18 Jahren eine Psychose erlitt und in der großen Heil- und Pflegeanstalt Bethel bei Bielefeld zwangssterilisiert wurde. Mit ihr wurde vor und nach der Operation nicht gesprochen. Stattdessen hieß es, die Narbe sei eine Blinddarmnarbe. Ihre Eltern hatten ihre Einwilligung gegeben, weil sie an die Aussagen der Theologen und Ärzte, die Operation sei notwendig, glaubten. Sie hat in ihrem Buch „Auf der Spur des Morgensterns“9
eindrucksvoll geschildert, wie sich der erzwungene Verlust, keine Kinder bekommen zu können, auf ihr späteres Leben auswirkte.
Eine andere Betheler Patientin, Lotte Schuster (Ps.), kam 1938 ebenfalls mit 18 Jahren nach Bethel. Dort wurde für sie ein Antrag nach dem Sterilisierungsgesetz gestellt, sie und ihre Eltern verweigerten ihre Zustimmung. Drei Wochen später entschied das Erbgesundheitsgericht – es tagte direkt in der Anstalt – sie sei unfruchtbar zu machen. In der Begründung wird ihr Verhalten als „Gefühlskälte“ und „Rücksichtslosigkeit gegenüber Anderen“ geschildert. Obwohl „Wahnvorstellungen, Denkstörungen und Sinnestäuschungen nicht nachweisbar seien“, wurde „manische Depression“ von dem Leitenden Arzt Werner Villinger diagnostiziert und sie wurde sterilisiert. 1946 versuchte sie, Schadenersatzansprüche durchzusetzen und stellte Strafantrag, vergebens.10
Aber Widerstand war auch in der NS-Zeit möglich. Marga Meusel, eine Sozialfürsorgerin und Leiterin des evangelischen Bezirkswohlfahrtsverbandes der Inneren Mission in Berlin, sprach sich Ende 1934 in einer Denkschrift besorgt über die Judenverfolgungen und die Sterilisationen aus. Friedrich von Bodelschwingh, der Anstaltsleiter von Bethel, riet ihr, Werner Villinger zu vertrauen, der sich mit „großer Sorgfalt und innerstem Verständnis diesen zarten und schwierigen Fragen widmet.“11
In Bethel wurden ca. 1.600 Frauen und Männer zwangssterilisiert. Es war Villinger, der sich für eine „Umkehr der Beweislast bei Epileptikern“ aussprach und seine Patientinnen und Patienten als Leitender Arzt der Anstalt bewusst täuschte:12
„Ich sage ihm, du weißt ja, dass du nicht ganz gesund bist, du kannst nur entlassen werden, wenn dieser Eingriff durchgeführt wird. Ich lasse ihn dann den Antrag unterschreiben und schreibe selbst nachher hinein ‚angeborener Schwachsinn‘. Wenn das Urteil kommt, gebe ich es ihm nicht zu lesen.“ (Bock S. 272)
Wolfram Schäfer schreibt über Villinger:13
„Es galt für ihn die grobe Faustregel, dass die Erblichkeit der sog. Fallsucht immer dann anzunehmen ist, wenn ‚exogene‘ Ursachen nicht nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht werden können.“ (S. 198)
In ihrer Habilitationsschrift „Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik“ hat Gisela Bock 1986 den patriarchalen Kern der Zwangssterilisationen herausgearbeitet:14
„In Bezug auf Frauen war also der Kern der Nationalsozialistischen Geburtenpolitik der Antinatalismus. Im übrigen war der Rassenwahn auch ein Geschlechterwahn.“ (S. 465) (…) Die neue medizinische Indikation schloß aus, dass eine Frau selbst über ihren Gesundheitszustand urteilte. (…) Manche, die als „Kinder des Vertrauens“ bejubelt wurden, waren tatsächlich Kinder der Angst.“ (S. 160)
Damit widerspricht sie der auch heute noch weit verbreiteten Tendenz, die „pronatalistischen“ Aspekte, wie die Verleihung von Mutterkreuzen und Ehestandsdarlehen, die selbstverständlich nur für „rassenreine“ Frauen galten, in den Vordergrund zu stellen. Auch die Behandlung der (unerfüllten) Kinderwünsche von Frauen wurde scheinbar ernst genommen. So setzten sich Mediziner wie Franz Hubert Bardenheuer15 für hormonelle, psychische, medizinische und operative Methoden ein, um „das im Krieg zu erwartende Nachwuchsproblem“ und die „ständig wachsende Sehnsucht nach Kindersegen“ zu lösen. Unerfüllter Kinderwunsch sei als „somatische (= körperliche) Schwäche der Frau“ aufzufassen. (S. 136) Diese Behandlungen standen ebenfalls unter dem Vorbehalt, nur völkisch wertvollen Frauen zu helfen.
1935/1936 – Die destruktiven Weichen in staatliche Zwangsabtreibungen und in den Tod werden gestellt
1935 ist ein entscheidendes Jahr für die Rechtsentwicklung in der NS-Zeit. Die Gesetze gegen die jüdische Bevölkerung im Rahmen der sog. Nürnberger Gesetze waren der Beginn einer tödlichen Entwicklung für alle Jüdinnen und Juden. Es begannen – vorerst noch geheime – Kriegsvorbereitungen. In Berlin tagte eine vom Reichsjustizminister Franz Gürtner einberufene und prominent zusammengesetzte Strafrechtskommission. Am 26.6.1935 wurde das Zwangssterilisationsgesetz verschärft und ein neuer § 10a, die Verbindung zwischen Abtreibungsrecht und Zwangssterilisationen, eingeführt (RGBl I, S.773). Er lautete:
„1. Hat ein Erbgesundheitsgericht rechtskräftig auf Unfruchtbarmachung einer Frau erkannt, die zur Zeit der Unfruchtbarmachung schwanger ist, so kann die Schwangerschaft mit Einwilligung der Schwangeren unterbrochen werden, es sei denn, dass die Frucht schon lebensfähig ist oder die Unterbrechung der Schwangerschaft eine ernste Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Frau mit sich bringen würde.
2. Als nicht lebensfähig ist die Frucht dann anzusehen, wenn die Unterbrechung vor Ablauf des sechsten Schwangerschaftsmonats erfolgt.“
Damit wurde der Übergang zur sog. eugenischen Indikation geregelt. Der Standardkommentar zum Zwangssterilisationsgesetz schrieb:16
„Ein A b w e i c h e n von dem Grundsatz, daß die Schwangerschaftsunterbrechung nur aus gesundheitlichen Gründen gerechtfertigt ist, erschien hinsichtlich der Schwangerschaftsunterbrechung in solchen Fällen notwendig, in denen infolge der Erbkrankheit der Mutter mit einer solchen erbkranken Nachkommenschaft zu rechnen ist“. (S. 81 ff.)
Das ergebe sich in „logischer Verfolgung der Gedankengänge, die dem Gesetz zur Verfolgung erbkranken Nachwuchses zugrunde liegen“ und bedeute nur die natürliche Weiterentwicklung der begonnenen Linie (S. 259). Das Wort „Frau“ in Absatz 1 umfasse die eheliche wie die uneheliche Mutter. Viele verstanden das Abtreibungsverbot, das historisch immer auch christlich begründet wurde, nunmehr als Abtreibungsgebot:17
„Wir haben die Pflicht der unverändert treuen Erfüllung aller staatlichen Anordnungen und Gebote (…). In Hinblick auf die Verhütung erbkranken Nachwuchses dürften sich unsere Anstalten und Einrichtungen durch gewissenhafte Erfüllung auszeichnen.“ (Centralausschuss der Inneren Mission)
Die ursprüngliche Kann-Bestimmung des Sterilisationsgesetzes wurde damit zur patriotischen Pflicht, die angebliche Freiwilligkeit zum Zwang.
1935 hatte die Amtliche Strafrechtskommission auch empfohlen, auf die Einwilligung bei Schwangerschaftsabbrüchen ganz zu verzichten.18
Sie berief sich dabei auf die „heroische Mutter“, die trotz Lebensgefahr und ärztlichem Rat ihr Kind zur Welt bringen wolle, die also der Abtreibung widersprach. Die Gesetzesänderung 1935 und die Ausführungsverordnungen zum Zwangssterilisationsgesetz zeigen eine schleichende Verschiebung der ohnehin schwachen rechtsstaatlichen Elemente und eine zunehmende Brutalisierung der NS-Politik. Zum Bruch mit der bisherigen Politik kam es durch die 4. Verordnung zum Zwangssterilisationsgesetz vom 18.7.1935 (RGBl I, S. 1035).19
Sie trat am 1.10.1935 in Kraft. Jetzt war nicht mehr von einer „nicht lebensfähigen Frucht“ die Rede, sondern die 4. VO enthält die Erlaubnis zu Spätabtreibungen und den bergang zu Tötungen im Geburtszeitraum und zur Säuglings„euthanasie“:
„Artikel 2 – Der Unterbrechung der Schwangerschaft im Sinne des § 14 des Gesetzes (medizinisch-eugenische Indikation, B.D.) steht die Tötung eines in der Geburt befindlichen Kindes20 gleich.“
In der 4. VO heißt es in § 5 Abs. 2:
„Der Anrufung der Gutachterstelle bedarf es nicht, wenn die Unfruchtbarmachung dadurch bewirkt wird, daß erkrankte Teile der Geschlechtsorgane entfernt werden.“
§ 14 der 4. VO beschreibt den Umfang der medizinischen Indikation u.a. bei unheilbarer Krankheit und regelt die Kostentragungspflicht der Krankenkassen. Das Reichsinnenministerium ermächtigte den Reichsärzteführer, die Gutachterbestellung und deren Gebührensätze umzusetzen und Richtlinien für die inhaltliche Interpretation zu erstellen. Das geschah durch die 1936 erschienenen „Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen“, hrsg. von der Reichsärztekammer.21 Sie wurden Adolf Hitler gewidmet und interpretierten die 4. VO durch nationalsozialistische Ärzte, die darin das Tor zur „Einleitung einer künstlichen Fehlgeburt“ (= Spätabtreibungen und „Tötungen eines in der Geburt befindlichen Kindes“) weit öffneten und legitimierten. Nun definierte die Reichsärztekammer auch den Begriff des „Schwangerschaftsabbruches“ in einer Fußnote neu:
„Eine Unterbrechung der Schwangerschaft, die nach Vollendung der 32. Schwangerschaftswoche zur Abwendung einer ernsten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren vorgenommen wird und die Geburt eines lebenden Kindes bezweckt (Einleitung einer künstlichen Fehlgeburt) fällt nicht unter die Vorschriften des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 26.6.1935 (RGBl I S.773) und der 4. VO zur Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 18.7.1935 (RGBl I, S. 1035).“ (Fußnote Richtlinien S. 12)
Da Abtreibungen nach § 218 und Kindstötungen (§ 216 a.F. StGB) nach wie vor strafbar waren und die Tötungsdelikte nach §§ 211 ff. StGB weiter galten, wurden mit der 4. VO und deren Umsetzungsermächtigungen die Straftatbestände, wenn sie staatlich erwünscht waren, einfach wegdefiniert.
Der Reichsärzteführer regelte die Einzelheiten der Gutachterbestellung nach der 4. VO (Richtlinien S. 14 ff.). Die Ärzte behielten sich das Recht vor, über die Gutachterstellen selbst zu entscheiden. Sie konnten auch über die Kosten für die Eingriffe mitbestimmen. Anzeigepflichten gab es jetzt nur noch bei Abtreibungen bis zur 32. Schwangerschaftswoche (Art. 12 der 4. VO). Damit wurden die Einwilligungsregelungen und die Anzeigepflichten bei Spätabtreibungen und prä- und perinatalen Tötungen abgeschafft. Nationalsozialistische Ärzte und die von ihnen bestellten Gutachter und Gutachterstellen hatten – unter der Tarnung durch das Zwangssterilisationsgesetz – statt der Frauen selbst die Verfügungsgewalt über das Leben und seinen Beginn erhalten. Sie konnten ohne jede Kontrolle in die Schwangerschaft „künstlich“ eingreifen, z.B. um riskante Medizinexperimente durchzuführen und um größere Einblicke in die Vorgänge während der Schwangerschaft und der Geburt zu erhalten. Ziel war es, den „Frauenleib“ – endgültig – „zum öffentlichen Ort“22 zu machen. Es gab auch eine neue Sprachregelung: Abtreibungen ab der 32. Woche hießen „Totgeburten“. Im sog. prä- und perinatalem Zeitraum wurde ebenfalls von „Totgeburten“ gesprochen. Vor der 32. Woche hießen Abtreibungen „Fehlgeburten“ oder „Frühgeburten“. Der Unterschied zwischen den Spätabtreibungen und den prä- und perinatalen Tötungen und den Lebendgeburten ist heute in amtlichen Sterbe- und Friedhofslisten dadurch erkennbar, weil den bei der Geburt noch lebenden Kindern Namen gegeben wurden. Mit diesen verschleiernden Bezeichnungen wurden sprachlich auch die Grenzen zur Abtreibungspraxis der Weimarer Zeit verwischt. Es war nicht mehr deutlich, ob es sich um gewollte Eigenabtreibungen oder um künstliche Beendigungen der Schwangerschaft durch NS-Ärzte handelte. Eine Diakonisse, die 1944 in dem Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ in Bethel gearbeitet hatte, konnte auch Jahrzehnte später nicht vergessen, was sie dort erlebt hatte:
„Die Kinder wurden eingeliefert (…) und auf einmal fingen sie an zu krampfen, schrieen ganz laut und nach ein paar Tagen starben die Kinder. Einen Sonntag erinnere ich mich, sind zehn Kinder gestorben! Zehn Säuglinge, das müssen sie sich mal vorstellen! Die Mütter wurden benachrichtigt, die standen alle unten im Flur, und dann ging es dann: Ihr Kind ist auch gestorben? Das war ganz schrecklich für uns (…) wenn wir sehen, ein Kind nach dem anderen fängt an zu krampfen. Und wir wussten, das stirbt gleich (…) Wir konnten noch ein Kind nach dem anderen schnell nottaufen.“23
Der NS-Grundsatzkommentar zu Artikel 2 wiegelte 1936 noch ab und beschwichtigte:
„Diese Bestimmung bedeutet lediglich die Legalisierung eines bereits bestehenden Zustandes (…). Durch die Fortschritte der ärztlichen Kunst ist heute die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs auf eine geringe Anzahl von Fällen beschränkt.“24 (S. 299)
Wenige Jahre später hieß es schon deutlicher:
„Für die künstliche, ä r z t l i c h gebotene Unterbrechung einer Schwangerschaft wie für eine Operation, für die das Kind in der Geburt zerstückelt wird, ist rechtlich die Einwilligung der Schwangeren belanglos. Sie hat wohl das Recht, in bestimmten Grenzen über ihren eigenen Körper zu verfügen, hat es aber nicht über das Leben ihres Kindes.“25 (S. 26)
Und 1943 bekräftigte ein Lehrbuch zum Ärzterecht:26
„Anträge aus eugenischer Indikation gehen die Gutachterstelle nichts an.(…) Einleitung einer Frühgeburt (nach Vollendung der 32. Schwangerschaftswoche) gilt nicht als Schwangerschaftsunterbrechung. Sie bezweckt die Geburt eines lebenden Kindes, das später ja unter größeren Gefahren hätte geboren werden können.“ (S. 52) „(…) Unproduktiv wird eine allzuweitgehende Fürsorge, wenn sie Kranken zugute kommt, die nach der ganzen Art ihrer Erkrankung im Staate nichts leisten können, z.B. bei hochgradig Schwachsinnigen und Idioten.“ (S. 71)
Friedrich Schaffstein, Mitglied der amtlichen Strafrechtskommission 1935, führte aus:27
„Auch eine solche überdurchschnittliche Gefährdung ihres Lebens und ihrer Gesundheit muß die Schwangere im Interesse ihrer Mutterpflichten gegenüber dem deutschen Volk und dem werdenden Kind billigerweise ertragen.“ (S. 118)
Angeblich der „Gesundheit“ der deutschen Frau und Mutter und ihrer Kinder zuliebe, war es nunmehr zulässig, Schwangere einer riskanten Operation zu unterziehen, damit sie kein „lebensunwertes Kind“ zur Welt brachten. Schwangere und Mütter handelten nach der NS-Logik unverantwortlich, wenn sie entweder trotz der Risiken für sich und den Nachwuchs zu sehr an dem Kind hingen und die Geburt wollten, oder im Gegenteil nur auf ihre Eigeninteressen achteten. Mit dieser „Falle“ auf Kosten der Frauen hatte sich der NS-Staat auch ein neues medizinisches Handlungsfeld für chirurgische Experimente eröffnet. Man erfand eine „nationalsozialistische Lösung“, die scheinbar der Mutter u n d dem Kind dienen sollte, in Wahrheit jedoch die „Auslese und Ausmerze“ in den Schwangerschafts- und Geburtszeitraum vorverlegte und einen „medizinischen Fortschritt“ zu Lasten von Frauen ermöglichte. Da in der Bevölkerung noch von massenhaften Selbstabtreibungen der Frauen ausgegangen wurde, hatten die hier vorgestellten Regelungen offensichtlich auch die Funktion, Laien und unerfahrenem medizinischem Personal zu suggerieren, dass Spätabtreibungen, riskante Operationen und Tötungen im Geburtszeitraum auf vorangegangene „freiwillige“ Abtreibungen der Frauen zurückzuführen und medizinisch unumgänglich waren. Damit waren a l l e Frauen, die krank waren und/oder sich auffällig verhielten, nicht nur die Frauen in den Heil- und Pflegeanstalten, von Zwangssterilisationen, Zwangsabtreibungen und Tötung ihrer Kinder und der Einweisung in Tötungskliniken und Heil- und Pflegeanstalten bedroht. Was unter „unheilbarer Krankheit“ zu verstehen ist, interpretierten die Richtlinien weit, um zu verhindern, dass „erbkranke“ Mütter potentiell „erbkranke Kinder“ bekamen und aufzogen. Da mangelnde Einwilligungspflicht immer auch mangelnde Aufklärungspflicht bedeutete, ist davon auszugehen, dass die Schwangeren und Mütter bewusst getäuscht wurden. Die Geheimhaltungspflichten dienten ebenfalls diesem Zweck. Die Strafe für die Verletzung der Geheimhaltungspflicht war Gefängnis bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Rudolf Boeckh, langjähriger Bethelarzt und seit 1936 ärztlicher Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Neuendettelsau, erklärte 1939:28
„Wenn wir beispielsweise die Schwangerschaft unterbrechen, so töten wir (…) ein noch nicht Menschwesen (…). Erfolgen solche Geburten in Krankenhäusern, Kliniken, Gebäranstalten kann nach einem bestimmten Modus mit Einwilligung der Eltern der Versuch der Erhaltung eines solchen Lebens, das auch womöglich nach dem Recht noch nicht einmal Mensch ist, dem Absterben überlassen werden (sog. Liegenlassen ohne Versorgung, B.D.). Rechtlich schwieriger ist die Frage, wenn das Kind zur Welt gekommen ist, also auch nach dem Recht ein Mensch ist. Aber auch dann erscheint es mir angebracht, wenn mit Einwilligung der Eltern unter Zuziehung des Amtsarztes oder einer beamteten Person das Leben nicht durch künstliche Mittel krampfhaft erhalten bleibt. Die Erfahrung lehrt, daß auch die seelischen Bindungen zwischen Eltern und Kindern erst beginnen, wenn etwa durch Stillen oder sonstigen Aufwand an Mühe, Sorgfalt, Angst und Mühe, das Kind über die ersten Tage hinweggebracht ist.“
Nationalsozialistische Ärzte – auch in kirchlichen Anstalten – hatten die juristischen Botschaften verstanden, selbst wenn sie wie Bockh scheinbar noch an der formal-juristischen Einwilligung festhielten.
Der letzte nationalsozialistische Baustein im Jahr 1936 war ein Geheimerlass Heinrich Himmlers vom 10.10.1936 zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung, durch den der Kampf gegen die „auch heute noch hohe Zahl von Abtreibungen, die einen schweren Verstoß gegen die weltanschaulichen Grundsätze des Nationalsozialismus darstellen“, mit Hilfe einheitlicher Richtlinien und Erfassungen forciert werden sollte. Er gründete eine „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“. Zuständig für die Erfassung waren die örtlich zuständigen Kriminalpolizeibehörden.29
Ebenfalls 1936 wurde auch die reichsweite „Befehls- und Handlungskette“ aus- und aufgebaut. Die Kanzlei des Führers in der Tiergartenstraße 4 in Berlin (T4) war ursprünglich als Beschwerdestelle bei Zwangssterilisationen zuständig und entwickelte sich zur Tötungszentrale. 1936 begann dort Hans Hefelmann (1906–1986) seine Arbeit und war verantwortlich für die Fachabteilung zur Säuglings- und Kinder„euthanasie“.30
Nach der 4. VO war die ausführende Institution das Reichsinnenministerium, das wiederum die Reichsärzteschaft, die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands und einzelne Ärzte und Kliniken mit der Durchführung beauftragte. Für Bethel – einer NSDAP-Hochburg – gehe ich davon aus, dass die rechtlichen Vorgaben, auch für Spätabtreibungen und Tötungen um den Geburtszeitraum genutzt wurden. Im Betheler Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ stieg die Zahl der toten Säuglinge, zu denen auch „Totgeburten“ gerechnet wurden, von 28 Todesfällen 1933 über 46 Todesfällen 1934 auf 74 Todesfälle 1935 und 99 Todesfälle 1936 an,31
in einem Krankenhaus, das 1929 als „modernste Kinderklinik des deutschen Reiches“ eingeweiht worden war.
In der Folgezeit wurden die Regelungen über die selbstgewollte Abtreibung von Frauen und Gewerbetreibenden durch weitere Verordnungen vom 9.3.1943 und vom 18.3.1943 bis zur möglichen Todesstrafe verschärft. Sie galt dann, „wenn der Täter dadurch die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt hat“ (§ 2 der VO zur Durchführung der VO zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft vom 18.3.1943, RGBl I, S.169 ff.). Die Zuchthausstrafe wurde wieder eingeführt. Ein neuer § 226b StGB bestrafte außerdem alle mit Zuchthaus, die „in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen die Zeugungs- oder Gebärfähigkeit vorsätzlich oder nachhaltig zerstörten.“ (Art. 2 der VO vom 18.3.1943). Viele Frauen, die anderen bei Abtreibungen geholfen hatten, wurden in das Konzentrationslager Ravensbrück zwangseingewiesen. Der NS-Staat praktizierte eine scheinrechtlich abgesicherte, extrem frauenfeindliche Doppelmoral, bei der sich eigene staatlich praktizierte Zwangsabtreibungen und -sterilisierungen in der Propaganda gegen selbstbestimmte Eigenabtreibungen und mit scheinbarer Fürsorge für schwangere Frauen mischten. Er führte auch neue Strafvorschriften „zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft“ ein. Ein Beispiel:
„Wer einer von ihm Geschwängerten gewissenlos die Hilfe versagt, deren sie wegen der Schwangerschaft oder der Niederkunft bedarf, und dadurch Mutter und Kind gefährdet, wird mit Gefängnis bestraft.“ (§ 170 c StGB in der V0 vom 18.3.1943 (RGBl 1943 I, S. 169 ff.)
Ab 1938/39 – Das Massenmorden von Säuglingen und Kindern
1938/39 ist der Übergangszeitraum zum Massenmord an Säuglingen, Kleinkindern, Jugendlichen und Erwachsenen in den Heil- und Pflegeanstalten, in den Gaskammern und – nach deren Schließung – direkt in Kliniken und Heil- und Pflegeanstalten über den Geburtszeitraum hinaus. Ab 1938/39 wurde intensiv der Krieg vorbereitet und diente als Vorwand für neue Massenmorde. Die damit verbundene Auflösung und Zerstörung menschlicher Beziehungen und die tiefen Einschnitte in die Intimsphäre und das Leben der Bevölkerung zeigten sich durch die neuen Bestimmungen zu den Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisationen und den „Euthanasie“-Regelungen. Sie sind ein wichtiger Bestandteil des Ehegesetzes vom 6.7.1938 (RGBl 1938, S. 807) und setzen die schleichende Pathologisierung von Frauen fort. Eine Eheschließung war aus „Gründen der Volksgesundheit“ verboten, eine geschlossene Ehe konnte aus diesen Gründen nichtig oder aufhebbar sein und geschieden werden.
„§ 48 EheG Verweigerung des Fortpflanzung
Ein Ehegatte kann Scheidung begehren, wenn der andere sich ohne triftigen Grund beharrlich weigert, Nachkommenschaft zu erzeugen oder zu empfangen, oder wenn er rechtswidrige Mittel zur Verhütung der Geburt anwendet oder anwenden lässt.“
„§ 50 EheG Auf geistiger Störung beruhendes Verhalten
Ein Ehegatte kann Scheidung begehren, wenn die Ehe infolge eines Verhaltens des anderen Ehegatten, das nicht als Eheverfehlung betrachtet werden kann, weil es auf einer geistigen Störung beruht, so tief zerrüttet ist, dass die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden kann.“
In ihrer vorzüglichen Dissertation „Das kontrollierte Paar, Ehe und Sexualpolitik im Nationalsozialismus“ hat Gabriele Czarnowski als Politologin und Germanistin das Zustandekommen der Normen und ihre Auswirkungen detailliert untersucht. So stiegen die Ablehnungen von Ehestandsdarlehen wegen „mangelnder Eignung als Ehepartner“ bei den Frauen von 300 im Jahr 1935 auf 2.889 in 1941, während der Anteil der Männer geringer war (Gesamtanzahl zwischen 1935 und 1941: 43.986 Ablehnungen, davon 26.397 bei Frauen und 17.596 bei Männern).32
Ebenso lesenswert und informativ sind für die Weimarer Zeit die Bücher der Historikerin Cornelia Usborne, „Frauenkörper – Volkskörper“,33
und der Historikerin und Soziologin Magdalene Heuvelmann „Auf dem Weg zur Abschaffung der weiblichen Mutterschaft?“.34
Alle drei Bücher beleuchten den Weg der Normierung zu einem neuen, nationalsozialistischen Frauen- und Mutterbild und werden kaum in der NS-Forschung zitiert und gewürdigt.
Zum Massenmord an Säuglingen und Kleinkindern fehlten nur noch die weitergehenden staatlichen Ermächtigungen. Sie begannen mit dem Geheimerlass des Reichsministers des Inneren vom 18.8.1939 (IV b 3088/39 – 1079 Mi)35
mit der Meldeverpflichtung für alle Hebammen und niedergelassenen Ärzte und Krankenhausärzte, alle mit „schweren angeborenen Leiden wie Idiotie und Mißbildungen jeder Art“ geborenen Säuglinge zu melden. Der Erlass galt ursprünglich für Kinder unter drei Jahren und wurde später auf Kleinkinder und Jugendliche ausgedehnt. Für die Entgegennahme der Anträge waren die örtlichen Gesundheitsämter zuständig. Die Formulierung „Mißbildungen j e d e r A r t“ erweiterte den inhaltlichen Handlungsraum faktisch auf alle bei der Geburt unerwünschten Kinder. Dem Erlass folgten schon bald Meldebögen des Reichsministeriums des Inneren, das weiterhin nach Weisungen der T4 arbeitete, und ausführliche Befragungen nach Familienverhältnissen, Allgemeinverhalten der Säuglinge, Krämpfen, körperliche Entwicklung des Kindes etc. enthielten.36
Am 31.8.1939, einen Tag vor Kriegsbeginn, wurde eine neue Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Ehegesundheitsgesetzes erlassen (RGBl 1939 I, S.1560). Sie beschränkte die Zwangssterilisationen und stellte die entsprechenden Verfahren vor den Erbgesundheitsgerichten ein. Der Staat konzentrierte sich nunmehr auf die Tötungen. Daraufhin nahmen Zwangssterilisationen deutlich ab, wurden allerdings bis zum Kriegsende weiter durchgeführt. Ausdrücklich ausgenommen von diesen Einstellungen regelte § 5 Abs. 1:
„Unfruchtbarmachungen, Schwangerschaftsunterbrechungen und Entfernung der Keimdrüsen gemäß § 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses werden durch diese Verordnung nicht berührt.“
Damit wurden die Abtreibungsregelungen in § 10a des Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses in Verbindung mit der 4. VO von 1935, der Übergang zur Säuglings- und Kinder„euthanasie“, noch einmal bestätigt. In Fortsetzung der rechtlichen Regelungen seit 1935 waren jetzt sowohl Spätabtreibungen, prä- und perinatale Tötungen, als auch der Mord an Säuglingen direkt in Kliniken und Kinderheimen erlaubt.
Während sie dort absolut im Geheimen getötet wurden, sollten die nach dem Geheimerlass vom 18.8.1939 gemeldeten Kinder ab drei Jahren über die Gesundheitsämter der T4 mitgeteilt und von einem Gremium von drei Ärzten nachbegutachtet werden. Der oberste Gutachter war Werner Catel, Professor für Kinderheilkunde in Leipzig, dessen Lehrbuch zur Kinderheilkunde von 193937
ausführlich auf eine genaue Unterscheidung zwischen heilbaren und nicht heilbaren, in seiner Sprache „gesunden“ und „schwachen/abartigen“ Säuglingen, eingeht und dem Prinzip von „Auslese und Ausmerze“ folgt. Die Tötungen in den Kinderheimen und -kliniken wurden bereits in der NS-Zeit totgeschwiegen, ihre Zahl und die Tötungsorte sind bis heute weitgehend unerforscht, die Akten der T4 wurden vernichtet. Zusätzlich wurden in den sog. Kinderfachabteilungen, gedacht für Kinder über drei Jahren, ca. 5.000–10.000 Kinder und Jugendliche über drei Jahren ermordet.38
Am 1.9.1939, datiert auf den Kriegsbeginn, folgte ein von Hitler unterzeichnetes formloses Ermächtigungsschreiben für die Kinder- und Erwachsenen„euthanasie“. Es galt in vielen Kliniken und Heil- und Pflegeanstalten nunmehr als „Rechtsgrundlage“. Der NS-Staat propagierte den „Krieg nach außen und den Krieg nach innen.“ Ärzte und Ärztinnen, die nicht „an der Front“ waren, ebenso wie Krankenschwestern, Hebammen, Fürsorgerinnen („Volkspflegerinnen“), die NS-Frauenschaft und Schwangerschaftberatungsstellen wurden gezielt für den „Vernichtungsfeldzug nach innen“ geschult und darauf ideologisch vorbereitet, Satzungen angepasst und Führungsspitzen ausgetauscht. 1941 drohte ein Rundschreiben des Reichsinnenministeriums an:39
„(…) dass bei Verweigerung der Anstaltsunterbringung gegebenenfalls für sie (die Eltern) oder das Kind später wirtschaftliche Belastungen eintreten können, so dass unter Umständen geprüft werden müsse, ob nicht in der Zurückweisung des Angebots (einer Anstaltsunterbringung) eine Überschreitung des Sorgerechts zu erblicken ist.“
Die schon zitierte Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft vom 9.3.1943 wurde „vom Ministerrat für die Reichsverteidigung mit Gesetzeskraft“ erlassen. Bei den Säuglings- und Kindermorden nach dem perinatalen Zeitraum wiederholte sich das juristische Handlungsmuster der Doppelmoral: Frauen und ihre HelferInnen wurden bei Abtreibungen und Kindstötungen bestraft, während NS-Täter und Täterinnen ohne Angst vor Strafverfolgung töten konnten. Den handelnden Ärzten, Juristen und Anstaltsleitungen wurden von der T4 Straffreiheit zugesichert.
Die schon 1933/34 verankerte Geheimhaltungspflicht galt nach wie vor. In den Friedhofslisten von Bonn wurde bei „Totgeburten“ statt des Begräbnisortes der Vermerk „zu klinischen Zwecken“ aufgenommen. Das kann nur eine anschließende Überführung in die Pathologie bedeuten. Die Todesursachen wurden verschleiert. Da 1940 ein geplantes „Euthanasiegesetz“ gescheitert war, markiert der Kriegsbeginn den Beginn einer großangelegten Aktion zur Massenvernichtung, die nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für die Mütter, ihre Kinder und alle Angehörigen katastrophal endete. Sie bauten auf den rechtlichen Regelungen bis 1936 auf und schafften neue Handlungsspielräume zur Massentötung.
Aber wie ließen sich derartige Massenmorde begründen?
Der Chefarzt der Kinderklinik in Bethel, Fritz von Bernuth (1890–1949), schrieb 1940 in einem Leitfaden für den Kursus der Säuglings- und Kinderschwestern:40
„Die Rassenfrage will ich hier nur kurz streifen. Jeder hat Gelegenheit gehabt, die jüdischen Zersetzungserscheinungen in den letzten Jahrzehnten im deutschen Volk zur Genüge selbst zu beobachten.“ (S. 58)
„Es ist ausgerechnet worden, daß nach vier Generationen ein Drittel des deutschen Volkes schwachsinnig sein würde, wenn man nicht dagegen einschreitet.“ (S. 56)
Und weiter:
„Im Gesetz (Sterilisationsgesetz) wird nicht von vererbbarem, sondern von angeborenem Schwachsinn gesprochen. Damit fallen auch all die Schwachsinnsformen unter das Gesetz, die etwa bei der Geburt durch eine Geburtsschädigung erworben sind. Der Schwachsinn dieser Menschen im strengen Sinne ist nicht erblich, aber sie fallen deswegen mit unter das Gesetz, weil sie nicht in der Lage sind, Kinder großzuziehen.“ (S. 56)
Karl Brandt (1904–1948, hingerichtet), der oberste Beauftragte Hitlers für die „Euthanasie“ und Koordinator zwischen dem militärischen und zivilem Gesundheitswesen, wurde im Nürnberger Ärzteprozess gefragt, warum man mit den Säuglingen und Kindern angefangen habe. Er antwortete:41
„Weil man in der Frage der Kinder vermeiden wollte, dass sie zeitlich, noch auch wegen der Familienschwierigkeiten usw. sich weiterentwickelten. Es sollte erreicht werden, dass diese Mißgeburten möglichst bald, nachdem sie auf der Welt sind, erfasst und getötet werden sollten.“
Der Blick in die Praxis
Der Leitende Arzt für das Gesamtärztegremium in Bethel, Gerhard Schorsch, schrieb noch 1950: „Bei uns sterben die Hälfte aller Kinder und Jugendliche vor der Pubertät.“42
Seit 2012 steht Bethel im Verdacht, für den Tod von Tausenden von Säuglingen und Kleinkindern verantwortlich zu sein.43
Bethel war und ist sowohl eine große Heil- und Pflegeanstalt als auch der Ort für die von den Bethelstiftungen getragenen Krankenhäuser, darunter in der NS-Zeit das Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“, das mit ca. 80 Betten (der Hälfte aller Betten) auf Säuglinge unter einem Jahr und Frühgeburten spezialisiert war. Inzwischen wurden die amtlichen Sterbeurkunden zwischen 1933 und 1950 von 3.602 Säuglingen gefunden, 80% von ihnen starben im ersten Lebensjahr; 1939 starben 191 Säuglinge, 35,08 % aller Verstorbenen in den ersten drei Tagen und 28,27 % im ersten Monat; 1942 starben 194 Säuglinge, davon 42,78 % in den ersten drei Tagen und 23,20 % im ersten Monat.44
Die Forschungen zeigen, dass die Säuglinge mit „Missbildungen“, wie Hasenscharte, Wolfsrachen, Down-Syndrom etc. (122) alle getötet wurden. Alle eingewiesenen Neugeborenen und Säuglinge mit der Diagnose „Frühgeburten“ (insgesamt 387 von 1933 bis 1945) starben, diejenigen mit der Diagnose „Ernährungstörungen“ (53) und „Lebensschwäche“ (63) bereits im ersten Lebensjahr nach ihrer Einweisung.
Hinzu kamen Spätabtreibungen und Todesfälle im Geburtszeitraum auch in der chirurgischen Abteilung des Frauenkrankenhauses Gileads in Bethel. Bethel – rassistisch, völkisch und nationalsozialistisch geprägt – hatte in Zusammenarbeit mit der T4 und dem Reichsinnenministerium eine „Säuglingsfachabteilung“ und war die legitimierte Gutachterstelle für den Regierungsbezirk Minden, so das Ergebnis meiner Forschungen. Die protestantische Orientierung an Römer 1345
erklärt im Zusammenhang mit der NS-Rechtslage und der rassistischen Gesinnung diese katastrophale Entwicklung. Die wenigen Vergleichsuntersuchungen aus anderen Städten und aus der Zeit vor 1933 belegen, dass die Mehrheit der Totgeburten und Säuglinge als zu schwach, angeblich nicht heilbar und „erbkrank“ bereits „präventiv“ getötet wurden.
Häufig zeigen auch die noch überlieferten „Euthanasie“-Krankenakten aus der NS-Zeit den engen Zusammenhang zwischen Ehepolitik, Rollenbildern, Abtreibungs- und Tötungspraxis und den Rechtsvorschriften. Im „Euthanasie“-Aktenbestand des Bundesarchivs (R 179) von Frauen, die aus der Caritas-Anstalt Branitz/Oberschlesien deportiert und die in Pirna-Sonnenstein in der Gaskammer 1941 ermordet wurden,46 wird in der Sprache von NS-Akten von den ausschließlich männlichen Ärzten berichtet:
Amalie Werner (1872–1941) hatte fünf lebende Kinder. Von neun waren vier gestorben. Sie war verwitwet und wurde als ordentlich, still und zurückgezogen geschildert. Als sie „das Wirtschaftsgeld nicht mehr zusammenhalten kann“, wurde sie eingewiesen und wollte immer wieder weglaufen, „weil sie ihre Kinder jammern hörte.“ Sie starb, ohne sie wieder gesehen zu haben.
Maria Ziaja (1910–1941) wurde nach einer Fehlgeburt in die Anstalt zwangseingewiesen, „zur Anstellung von Heilversuchen gegen Verletzung der Schamhaftigkeit und Unsauberkeit“.
Anna Wylezich (1887–1941) kam in die Anstalt und blieb dort, weil sie „aggressiv gegenüber ihrem Ehemann wurde.“ Er wurde ihr Vormund.
Susanna Ziel (1911–1941), Friseuse, hatte „kein Interesse für den Haushalt und gab sich lieber mit Männern ab. Sie bändelte mit jedem an, trieb sich herum und brachte Männer mit in die Wohnung.“ Von ihrem Stiefvater wurde sie geschlagen. Sie wurde 1936 zwangssterilisiert.
Elisabeth Prohofskys (1897–1941), Stubenmädchen, verlor ihre Mutter, als sie ein halbes Jahr alt war. Sie war – damals unheilbar – geschlechtskrank (Lues). Nach der Ansteckung wurde nicht gefragt. Ihr Vater war auch hier ihr Vormund.
Karoline Obstroy (1899–1941), Schnitterin, hat ein Kind von ihrem Schwager, ist „heiter, redet viel, singt und betet“. Diagnose: Schizophrenie.
Gertrud Hanschke (1912–1941) sei „ohne jede gesunde Initiative“, sie wurde vor ihrer Deportation zwangssterilisiert.
Johanna Morawitz (1894–1941), im 5. Monat schwanger, wird von Angehörigen in die Anstalt gebracht. Ihr Ehemann habe sie misshandelt. Sie „laufe gelegentlich fort und kümmere sich nicht um die Wirtschaft.“ In der Anstalt bekommt sie eine kleine Tochter. Was mit dem Kind geschehen ist, wird nicht erwähnt. Der Ehemann ist ihr Vormund.
Emma Thomalla (1906–1941) tänzelt durch die Flure, will nicht dableiben, weil sie zu „ihrem Stefan“ will. Sie prahlt, sie könne Auto fahren, denn das „müsse heute jedes moderne Mädchen können.“
Wer hat um sie getrauert?
„Das Private ist politisch“ – Die Lehren
Die hier vorgestellten Rechtsvorschriften und Anweisungen ermöglichten die staatlich legitimierten Abtreibungen, Sterilisationen und Morde. Im Strafrecht, Eherecht und Zwangssterilisationsrecht miteinander verzahnt und verschachtelt, waren sie geprägt von den widersprüchlichen, fast undurchschaubaren Prinzipien ‚Geltung und Ausnahme‘, den rigiden Strafverfolgungsvorschriften bei Eigendelikten der Frauen und von Geheimhaltung bei gleichzeitiger Erlaubnis für die nationalsozialistische Tötungspolitik. Die Rechtsnormen schließen aus, dass die massenhaften Todesfälle auf harmlosere Ursachen wie Seuchen, Kriegsereignisse oder den oft zitierten Zeitgeist zurückgeführt werden können. Sie hatten nicht zuletzt die Funktion, Frauen durch Recht zu schwächen, zu disziplinieren und sie an den NS-Staat zu binden.
Gleichzeitig sollte die neue „nationalsozialistische, deutsch-arische Frau“ geschaffen, ihre Rolle neu definiert und sie an die Machtinteressen angepasst werden. Der Normierungsprozess erfolgte auch durch die unbestimmten Rechtsbegriffe und Kann-Bestimmungen. Sie ermöglichten eine weite, den NS-Staat unterstützende destruktiv-tödliche Auslegung und Politik, eröffneten jedoch gleichzeitig auch widerständige Interpretationsspielräume durch Mitgefühl und Empathie. Diese Gefühle konnten auch in der NS-Zeit nicht völlig unterdrückt werden. Viele Frauen entzogen sich den Zumutungen durch Heirat, bei der sie ihren Ehemännern folgten, oder durch gewollte Versetzungen.
Zu einer Spirale der Gewalt konnte es kommen, weil nationalsozialistische Kräfte seit Ende des ersten Weltkrieges ihre Ziele konsequent und rücksichtlos umsetzten. Dazu gehörte als zentrales Handlungselement auch eine Frauenpolitik, die alle Frauen im Gegensatz zur Weimarer Zeit wieder gefügiger machen und sie zum Schweigen bringen sollte. Entgegen den eigenen Bekundungen war der NS-Staat kein „Rechts“staat, sondern ein Staat, der rechtliche Strukturen benutzte, um sie – mit den Mitteln von Täuschung und Manipulation – in ihr Gegenteil zu verkehren und zu pervertieren.
Die menschenfeindliche Politik endete nicht 1945, auch wenn die Besatzungsbehörden Abtreibungen bei Vergewaltigungen zuließen. Oft waren die gleichen Gutachter, die in der NS-Zeit Zwangsabtreibungen und Kindstötungen zu verantworten hatten, nunmehr Gutachter für die Entscheidungen, ob Frauen abtreiben durften. Nach 1944/1945, insbesondere nach Vergewaltigungen auf der Flucht oder von zurückkehrenden Wehrmachtssoldaten mehrten sich die Anträge von Frauen auf Unterbrechung der Schwangerschaft. In Bielefeld/Bethel haben die ärztlichen Gutachter fast alle entsprechenden Anträge abgelehnt und den Frauen unterstellt, sie würden die zuständigen Behörden täuschen.47
Sie erstellten selbst bei brutalen Vergewaltigungen keine befürwortenden Gutachten und hielten die Beschreibungen der Frauen für übertrieben.
Auch das tiefe Schweigen über eigene Erfahrungen wurde in den Familien, dem Bekanntenkreis, der Nachbarschaft und in der Öffentlichkeit fortgesetzt. Viele zwangssterilisierte Frauen, die überlebten, schämten sich ihr Leben lang für das Etikett „erbkrank“, viele waren traumatisiert. Der brutale körperliche Eingriff des NS-Staates in alle weiblichen Intimbereiche der Müttergeneration und die Fortsetzung der Frauenverachtung in den 50er und 60er Jahren brachten in der 68er-Frauenbewegung eine Gegenwehr hervor, die die Deutungshoheit über das eigene Leben und den eigenen Körper zurück erobern wollte. Der Umgang mit den §§ 218 ff. StGB war und ist dabei eine Schlüsselfrage. Die Erfahrungen aus der NS-Zeit zeigen, wie weit die Doppelmoral in einem faschistischen System gehen und die weibliche Intimsphäre, die unter demokratischen Bedingungen geschützt werden muss, zum Tötungs- und Experimentierfeld für skrupellose Ärzte und Juristen werden kann.
Seit Geltung der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigungsgarantie in Art. 3 Abs. 2 GG, auch in Verbindung mit Art. 1 GG, sollte es keinen Zweifel mehr daran geben, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frauen in allen körperlichen Belangen zum Kernbestand der Verfassung gehört. Gleichberechtigung ist ohne dieses Selbstbestimmungsrecht nicht denkbar.
- Anna B. Bergmann, Von der „unbefleckten Empfängnis“ zur „Rationalisierung des Geschlechtslebens“, in: Johanna Geyer-Kordesch, Annette Kuhn (Hrsg.), Frauenkörper – Medizin – Sexualität, Düsseldorf 1986, S. 127 ff. ↩
- In Treysa tagten 1931 Vertreter der Inneren Mission zur Frage der Zwangssterilisationen, u.a. auch Friedrich von Bodelschwingh (1877-1946), ab 1910 Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Bethel. ↩
- Hrsg. von Franz Gürtner, Reichsjustizminister, Berlin 1936, S. 274. ↩
- Abgedruckt in: Marielouise Janssen-Jurreit, Frauen und Sexualmoral, Frankfurt/Main 1986, S. 178 ff. ↩
- Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920, abgedruckt in: Anneliese Hochmuth, Spurensuche, Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die v.Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929-1945, Bethel-Verlag 1997, S. 171 ff. ↩
- Frauen zwischen Auslese und Ausmerze, beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, Heft 14, Köln 1985. ↩
- Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag WD 7 – 3000 – 159/17, Entstehungsgeschichte des § 219 a StGB, 2017. ↩
- Thilo Ramm, Das nationalsozialistische Familien und Jugendrecht, Heidelberg 1984 S. 17. ↩
- Sophie Zerchin (Pseudonym für Dorothea Buck), Auf der Spur des Morgensterns, Ein Erlebnisbericht, München 1999. ↩
- Zu Bethel: Barbara Degen, Bethel in der NS-Zeit – Die verschwiegene Geschichte, Bad Homburg 2014. ↩
- Brief von Bodelschwinghs an Marga Meusel vom 13.12.1934, Hauptarchiv Bethel Akten 37/296, Akte Eugenik 1934-1937, 2/38-145. ↩
- Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Studien zur Rassenpolitk und Frauenpolitik, Opladen 1986. ↩
- Wolfram Schäfer, „Bis endlich der langersehnte Umschwung kam… “ – Anmerkungen zur Rolle des Marburger Psychiaters Werner Villinger in der NS- und Nachkriegszeit, Marburg 1991. ↩
- Gisela Bock, a.a.O., Fn.12. ↩
- Franz Hubert Bardenheuer, Die Unfruchtbarkeit der Frau, ihre Ursache und Behandlung einschließlich der künstlichen Befruchtung, Berlin 1944. ↩
- Arthur Gütt/Ernst Rüdin/Falk Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 nebst Ausführungsverordnungen, 2. Auflage, München 1936. ↩
- Centralausschuss der Inneren Mission 1935, in: Anneliese Hochmuth a.a.O, S. 20. ↩
- Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission a.a.O., S. 117. ↩
- Abgedruckt in: Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen, hrsg. von der Reichsärztekammer, bearbeitet von Hans Stadler, München 1936, S. 9 ff. ↩
- In der medizinischen NS-Literatur waren der prä- und der perinatale Zeitraum 7–10 Tage vor und nach der Geburt. ↩
- Richtlinien für Schwangerschaftsunerbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen, hrsg. von Hans Stadler, München 1936. ↩
- Barbara Duden, Der Frauenleib als öffentlicher Ort, Vom Mißbrauch des Begriffs Leben, München 1994; Esther Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht, Zur Sozialgeschichte der Gerichtsmedizin, Darmstadt 1988. ↩
- Interview Claus Melter, Forschungsgruppe Fachhochschule Bielefeld 2018. ↩
- Gütt/Rüdin/Ruttke, a.a.O., zu § 10 a und der 4.VO zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. ↩
- F. Pietrusky/Max de Crinis, Gerichtliche Medizin, Band 15 der Handbücherei für den öffentlichen Gesundheitsdienst, Berlin 1938. ↩
- Berthold Mueller/Kurt Walcher, Gerichtliche und soziale Medizin, Ein Lehrbuch für Studenten und Ärzte, München 1944. ↩
- Friedrich Schaffstein, Angriffe auf Rasse und Erbgut, in: Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission a.a.O., S. 112 ff. ↩
- Hans Rößler, Ein neues Dokument zur „Euthanasie“-Diskussion in Neuendettelsau 1939, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte, Heft 57/1988, S. 87 ff. ↩
- Wikipedia, abgerufen am 20.5.2020. ↩
- Barbara Degen, Die toten Säuglinge von Bethel (1933-1950) – Versuch einer Erklärung, in: Claus Melter (Hrsg.), Krankenmord im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ in Bethel in der NS-Zeit?, Weinheim Basel 2020, S. 107 ff.; zu Hans Hefelmann und der Arbeit der T4: Thomas Vormbaum (Hrsg.), „Euthanasie“ vor Gericht, Die Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes beim OLG Frankfurt/M. gegen Dr. Werner Heyde u.a. vom 22. Mai 1962, Berlin 2005. ↩
- Zählung des Hauptarchivs Bethel 2012, in: Barbara Degen, a.a.O. Fn. 10, S. 28/29. ↩
- Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar, Ehe und Sozialpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991, S. 224. ↩
- Cornelia Usborne, Frauenkörper – Volkskörper, Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik, Münster 1994. ↩
- Magdalene Heuvelmann, Auf dem Weg zur Abschaffung der weiblichen Mutterschaft? Deutschsprachige akademische Gynäkologie 1920 bis 1939, Frankfurt/Main 1999. ↩
- Abgedruckt in: Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Ausgabe Oktober 1997, S. 80/81. ↩
- Abgedruckt in: Ernst Klee a.a.O. S.296/297. ↩
- Werner Catel, Die Pflege des gesunden und kranken Kindes, Zugleich ein Lehrbuch der Ausbildung zur Säuglingspflege und Kinderkrankenschwester, Leipzig 1939. ↩
- Marc Burlon, Die „Euthanasie“ an Kindern während des Nationalsozialismus in den zwei Hambuger Kinderfachabteilungen, PDF-Datei im Internet, abgerufen am 5.10.2019. ↩
- Rundschreiben IV b 1981/41 vom 20.9.1941, abgedruckt in: Barbara Degen, Bethel in der NS-Zeit – die verschwiegene Geschichte, Bad Homburg 2014, S. 23/24. ↩
- Fritz von Bernuth, Leitfaden für den Kursus der Säuglings- und Kinderschwestern am Kinderkrankenhaus der Westfälischen Diakonissenanstalt „Sarepta“ in Bethel bei Bielefeld, Bethel-Verlag 1940. ↩
- Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses (Neuausgabe), Frankfurt/Main 1983, S. 211. ↩
- In einem Aufsatz von Gerhard Schorsch, Hauptarchiv Bethel 2/33-461 Personalakte Schorsch. ↩
- Zum aktuellen Stand der Forschung: Barbara Degen, Bethel in der NS-Zeit – Die verschwiegene Geschichte, 2014 a.a.O. Fn. 10; Karsten Wilke, Das Betheler Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ 1929-1950, Annäherung an die Geschichte eines Kinderkrankenhauses im Kontext von Nationalsozialismus und Krieg, in: Matthias Benad/Kerstin Stockhecke/Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.), Beiträge von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Psychiatriereform, Bethels Mission (4), Bielefeld 2016, S.45 ff.; Forschungsgruppe Claus Melter und Studierende, Fachhochschule Bielefeld 2017 – 2019; Barbara Degen, Die toten Säuglinge von Bethel – Versuch einer Erklärung, 2020 a.a.O, Fn. 30. ↩
- Karsten Wilke a.a.O., S.84/85; vgl. auch Forschungsgruppe Melter a.a.O. und Claus Melter (Hrsg.) u.a., Krankenmorde im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ in Bethel in der NS-Zeit? Weinheim Basel 2020. ↩
- Lutherbibel, Der Brief des Apostels Paulus an die Römer, 13, 1-2 lautet: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt¸ jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegensetzt, wird dem Gericht verfallen.“ ↩
- Barbara Degen, Leuchtende Irrsterne – Das Branitzer Totenbuch, „Euthanasie“ in einer katholischen Anstalt, Frankfurt/Main 2005. ↩
- Stadtarchiv Bielefeld, Akte Schwangerschaftsunterbrechung 1.1.1945 – 31.12.1946, Gesundheitsamt 200, 276. ↩