STREIT 2/2021
S. 85-93
„Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten“ - Zusammenfassende Analyse des Gutachtens zum 3. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung
Einleitung
Am 26.1.2021 hat die Sachverständigenkommission1
des Dritten Gleichstellungsberichts (3. GlB) ihr Gutachten „Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten“2
an Bundesministerin Giffey übergeben. Der Auftrag für den 3. GlB lautete „Welche Weichenstellungen sind erforderlich, um die Entwicklungen in der digitalen Wirtschaft so zu gestalten, dass Frauen und Männer gleiche Verwirklichungschancen haben?“ Seit Frau Merkel 2005 Bundeskanzlerin wurde, ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass in jeder Legislaturperiode ein „Bericht zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ zu erstellen ist. Dieser besteht zum einen aus Sachverständigengutachten im Auftrag der Bundesregierung unter dem Dach des „Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS)“, zum anderen aus einer Stellungnahme der Bundesregierung, die mittlerweile auch eine Bilanz zur Umsetzung vorhergehender Gleichstellungsberichte enthält. Der 1. GlB3
erschien im Jahr 2011, der 2. GlB4
folgte 2017. Nachdem im 1. GlB eine selbstbestimmte Erwerbsbiographie mit Lebensverlaufsperspektive und im 2. GlB die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit Berichtsgegenstand waren, ist nun die Digitalisierung Thema für diese Legislaturperiode. Für den 3. GlB wird das BMFSFJ die Ressortabstimmung zur Stellungnahme der Bundesregierung einleiten und dann das Gutachten voraussichtlich im Mai 2021 dem Kabinett vorlegen.5
Die politische Wirkmacht der Gleichstellungsberichte zeigt sich schon darin, dass die Leitidee des 2. GlB – nämlich die politische Ermöglichung gleicher Verwirklichungschancen6
– verbunden mit seiner deutlichen Aufforderung, dafür eine gleichstellungspolitische Perspektive auf Digitalisierung einzunehmen,7
als Fragestellung für den 3. GlB dient. Gleichstellungspolitische Leitbilder zu malen und in politische Handlungsempfehlungen zu konkretisieren, ist taugliches politisches Mittel und hat neben konkreten Gesetzesinitiativen8
auch zu gleichstellungspolitischen Verpflichtungen im letzten Koalitionsvertrag geführt, die aktuell mit der Gründung einer „Bundesstiftung für Gleichstellung“9
umgesetzt werden und so Gleichstellungspolitiken auch institutionell fest im politischen Machtgefüge verankern.
Überblick und Aufbau des Gutachtens zum 3. GlB
Kernaussage des aktuellen Gutachtens ist eine schlichte Erkenntnis, die die Vorsitzende der Sachverständigenkommission bei Übergabe wie folgt auf den Punkt brachte: „Die Digitalisierung öffnet ein Gelegenheitsfenster.“10
Das Gutachten ist eine klare Absage an die vagen Hoffnungen, durch mehr digitale Kommunikation (Homeoffice, flexiblere Arbeitsbedingungen), durch mehr Zeiteffizienz in digitalen Erwerbsarbeitsprozessen mit datengestützten Entscheidungen (existenzsichernde Erwerbsarbeit trotz verkürzter Arbeitszeit), werde sich in puncto Gleichstellung allein aufgrund des technischen Fortschrittes etwas verbessern.11
Das ist nichts Neues, Gleichstellung musste immer und muss eben auch in der digitalen Transformation hart erkämpft werden. Das Gutachten stellt fest, dass sich durch die Digitalisierung aktuell ein umfassender Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft vollzieht, der nicht ungenutzt bleiben sollte für die Durchsetzung gleichstellungspolitischer Ziele – dieses „Gelegenheitsfenster“ ist offen. Es müsse aber Einfluss genommen werden auf die Rahmenbedingungen dieser sich formierenden digitalen Gesellschaft, anderenfalls drohe eine digitale Abwärtsspirale, die teilweise schon eingesetzt habe. Dabei gehen Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit verloren, ausgelöst durch digitalisierte Anwendungen, die Verschärfungen bei strukturellen Barrieren, Geschlechterstereotypisierung, Diskriminierung und Gewaltbetroffenheit nach sich ziehen.
Alle Erkenntnisse des aktuellen Gutachtens fußen auf den ersten beiden Gleichstellungsberichten und setzen deren Politikverständnis und Politikanalysen immer als Prämisse für die weiteren hier gegebenen politischen Handlungsempfehlungen voraus.
Die notwendigen gleichstellungspolitischen Weichenstellungen listet das Gutachten anhand einer einprägsamen Metapher auf, nämlich anhand eines Zwiebelmodells.12
Die „Zwiebel“ wächst auf einem „Nährboden“, bestehend aus gleichstellungspolitischen Strukturen und Instrumenten. Sie besteht aus vier Schichten. Ihr Kern im Inneren ist die „Digitalbranche“. Darunter versteht das Gutachten Unternehmen, die Informations- und Kommunikationstechnik entwickeln und herstellen (IKT-Branche). Dieser Kern wird umschlossen von der Schicht „Digitalwirtschaft“. Das sind Unternehmen, die digitaltechnisch basierte Geschäftsmodelle entwickelt haben (z.B. Crowdworking-Plattformen), also neue Geschäftsmodelle, die ohne Digitaltechnik nicht realisierbar sind. Darum schließt sich die nächste Schicht der „digitalisierten Wirtschaft“, wobei ein Unternehmen schon als digitalisiert gilt, wenn es einen Computer im Einsatz hat. Der Begriff „digitalisierte Wirtschaft“ umfasst also die gesamte Privatwirtschaft, wobei sich die Anwendung von Digitaltechnik in den Unternehmen rasant ausbreitet und Digitalisierungen immer noch erst am Anfang stehen. Die äußere Schicht der Zwiebel ist die „digitalisierte Gesellschaft“.
Das Gutachten gliedert sich in drei Teile. Teil A stellt das Zwiebelmodell vor und bringt die digitaltechnische Transformation mit Gleichstellungspolitik und ihren Zielen in Zusammenhang. Teil B führt das Zwiebelmodell im Einzelnen aus und enthält den Großteil der Handlungsempfehlungen getrennt nach den einzelnen Bereichen. Teil C bringt die aktuell bestehenden bzw. zu nutzenden gleichstellungspolitischen Strukturen und Instrumente des „Nährbodens“ noch einmal mit weiteren Handlungsempfehlungen auf den Punkt.
Die von der Politik eingeforderten Weichenstellungen verlangen viel. Es lassen sich verschiedene Kernaussagen zusammenfassen.
Kernaussagen des 3. GlB
Der soziotechnische Ansatz
Das Gutachten fordert die Politik auf, grundsätzlich sicherzustellen, dass die digitale Transformation immer mit einem soziotechnischen Ansatz13
gestaltet wird. Ein soziotechnischer Ansatz sieht technische Prozesse, wie z.B. automatisierte oder datengestützte Entscheidungen, zwingend in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Das bedeutet nicht weniger, als dass das Gutachten politisch einen echten Paradigmenwechsel beim Technikverständnis einfordert. Bisher auch in der Politik allein anerkannt ist ein Technikverständnis, welches Technik als neutral und in sich rational betrachtet und technische Lösungen und Machbarkeiten gerade unabhängig von Gesellschaft oder sozialen Faktoren bewertet wissen will.14
„Digitalisierung“ erscheint so den von ihr Betroffenen als „unausweichlich, alternativlos“. Außerdem wird versucht, inhaltliche gesellschaftliche Probleme, die eigentlich verhandelt gehören (z.B. die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeiten), „technisch“ zu lösen. Diese Trennung von technischer und sozialer Welt verhindert, dass soziale Wertungen (z.B. Geschlechterstereotype, Problembewusstsein) der die Technik entwickelnden Personen sichtbar gemacht werden. Insgesamt bleiben in herkömmlichen Entwicklungsprozessen von z.B. Software die sozialen Anteile von Technologien sowohl was die Problemlösungsdefinition als auch was die sozialen Technikfolgen anbetrifft ausgeblendet.
Bei einem soziotechnischen Ansatz dagegen müssen politische Rahmenbedingungen, Interessen und Einflussnahme beteiligter Organisationen und Wertvorstellungen beteiligter Personen sowie soziale, ökonomische und ökologische Folgen des Technikeinsatzes mitbedacht werden und zwingend in Entscheidungen über Entwicklung, Förderung und Anwendung von Technologie einfließen. Mit einem solchen Ansatz fordert das Gutachten komplett neue Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Technik, die in Unternehmen der Privatwirtschaft ebenso wie in staatlichen Einrichtungen sicherzustellen wären. Ein soziotechnischer Ansatz kann laut Gutachten dann auch gewährleisten, dass die digitale Transformation von Prozessen in ihrer intersektionalen Verschränktheit erkennbar wird und nicht nur der Faktor Geschlecht, sondern auch weitere Faktoren von Ungleichbehandlung in der Gesellschaft berücksichtigt werden können.
Algorithmenbasierte Diskriminierung
Spezifische Probleme für die Geschlechtergerechtigkeit infolge der Datengetriebenheit15
digitalisierter Prozesse sieht das Gutachten unter zwei Gesichtspunkten. Zum einen passiere Diskriminierung, wenn geschlechtsbezogene Daten nicht als relevant erkannt werden. Dadurch blieben Personen und ihre Lebenswirklichkeiten unsichtbar, (algorithmenbasierte) Entscheidungen benachteiligen sie entsprechend. Zum anderen könnten geschlechtsbezogene Daten oder auch nur Proxies (Ersatzdaten, anhand derer auf Geschlecht geschlossen wird) dort Relevanz entfalten, wo sie kein Entscheidungskriterium sein dürfen und diskriminierende Effekte verursachen. Datenschutz einerseits zu gewährleisten und andererseits durch aktive Datenerhebungen in digitalisierten Auswertungszusammenhängen Teilhabe für alle transparent sicherzustellen seien die zwei wesentlichen Aufgaben digitaler Technikgestaltung. Ob Digitalisierungsprozesse eher ein Risiko oder eine Chance für Gleichstellung seien, hänge damit weniger ab von Technikwissen als vielmehr von sozialem Wissen.
Konsequent verlangt das Gutachten von der Bundesregierung, einen nationalen Aktionsplan „Soziotechnischer Innovationsstandort Deutschland“ zu entwickeln, digitale Hochrisikotechnologien (z.B. im Bereich Personal) zu beschränken und zwingend immer Technikfolgenabschätzungen aus soziotechnischer Perspektive sicherzustellen.
Neudefinition des Digital Gender Gap
In einer digitalisierten Gesellschaft gilt „Daten sind Macht“. Kontrolle über Datengenerierung und ihre Interpretation zu haben, die Entwicklung und den Einsatz datenverarbeitender Technologie gestalten zu können sowie schlicht Zugang zu dieser Technologie zu haben, entscheidet über das Maß an Teilhabe in dieser Gesellschaft. Mit dem Digital Gender Gap16
besteht dabei ein neuer Bias zwischen den Geschlechtern zu Lasten von Frauen und diskriminierungsgefährdeten Personen. Das ist bereits bekannt. Das Gutachten fordert hier, das bisherige Verständnis dieses digitalen Bias zu erweitern.
Der Digital Gender Gap ergibt sich bisher aus der Betrachtung von vier Faktoren: Zugang zu Digitalisierung (Geräteausstattung, Internet), Nutzungsdauer digitaler Anwendungen, digitale (Anwendungs-)Kompetenz und Aufgeschlossenheit für digitale Anwendungen. Diese Messfaktoren für den sog. Digitalisierungsgrad von Personen müssen laut Gutachten um den Gesichtspunkt der Ressourcen wie Zeitsouveränität, Raumsouveränität und um informationelle Selbstbestimmung ergänzt werden. Denn ein Fehlen dieser Ressourcen sei neben der rein technischen Verfügbarkeit von Geräten und praktischen Anwendungskenntnissen ein Hauptgrund für einen niedrigen Digitalisierungsgrad. Das werde bisher aber nicht damit im Zusammenhang gesehen. Auch hier zeigt sich die Bedeutung der bisher vernachlässigten „soziotechnischen Perspektive“.
Digitalisierungsbezogene Kompetenz im Bildungsbereich
Einen weiteren Paradigmenwechsel verlangt das Gutachten im Hinblick auf das herkömmliche Verständnis von Digitalkompetenz im Bildungsbereich. Digitale Kompetenz wird allgemein so verstanden, dass eine Person in der Lage ist, digitale Technik einzusetzen, sie zu bedienen. Diese Bedienkompetenz ist das, was als Ausbildung, als Weiterbildung von den Menschen im Moment eingefordert wird, um in einer digitalisierten Gesellschaft, auf einem Arbeitsmarkt 4.0, mithalten zu können. Aber das reicht laut Gutachten eben nicht und führt schon gar nicht zu gleichen Verwirklichungschancen für alle. Denn Voraussetzung für Teilhabe in einer digitalisierten Gesellschaft sei ein Kompetenzerwerb, der über das Bedienen hinausgehe und zu einem bewussten und selbstbestimmten Umgang mit der Digitalisierung als solcher führe. In einer digitalisierten Gesellschaft müsse Politik allen Menschen die Chance eröffnen, sich mit digitalen Technologien zu entwickeln und mithilfe digitaler Medien selbst zu reflektieren. Weiterhin sei es unverzichtbar für gleiche Verwirklichungschancen, sich in digitalen Räumen sowohl verständigen als auch abgrenzen zu können. Digitalisierung verändere also nicht nur die Art der benötigten Kompetenz (Bedienkompetenz), sondern auch die Art und Weise von Kompetenzerwerb überhaupt. Das Gutachten spricht daher von digitalisierungsbezogener Kompetenz statt von Digitalkompetenz und fordert damit eine soziotechnische Perspektive auch für den Bildungsbereich ein.
Mit einem solchen erweiterten Kompetenzverständnis sieht das Gutachten Möglichkeiten, in der digitalen Transformation Verwirklichungschancen geschlechtergerechter zu gestalten, wenn bei der Vermittlung dieser digitalisierungsbezogenen Kompetenzen auch Genderkompetenz mit einbezogen werde und sich die Kompetenzvermittlung auf den gesamten Lebensverlauf erstrecke. Dafür müsse jedoch digitalisierungsbezogene Genderkompetenz zunächst einmal als Qualifizierung von Lehrkräften in allen Bildungsbereichen implementiert werden. Das ist die Einforderung einer Revolution im gesamten Bildungsbereich und eine vernichtende Absage an alle bisherigen Bemühungen, Digitalisierungsstrategien im Schul-, Aus- und Weiterbildungswesen zu realisieren. Schlicht gesagt reicht es eben nicht für eine Verbesserung des Digitalisierungsgrades und Teilhabe an digitalen Lebenswelten, Kindern und Lehrer*innen – teilweise noch von Google oder anderen Unternehmen gesponserte – Tablets ins Klassenzimmer zu stellen und für zwei Schulstunden einen vom Unternehmen dafür mitgesponserten oder ehrenamtlichen Fachinformatiker vorbeizuschicken.
Digitale Grundversorgung
Das Gutachten fordert die Politik auf, einen Verhaltenskodex für soziale Medien zu entwickeln und eine wissenschaftlich fundierte und zivilgesellschaftlich begleitete unabhängige Kommission zum Thema Anonymität versus Identifikation im digitalen Raum einsetzen. Weiter fordert das Gutachten, Infrastrukturen zu schaffen, die mit Datenschutz und IT-Sicherheit konform gehen, und schlägt der Politik vor, in eine gemeinwohlorientierte, geschlechtergerechte sowie intersektionalitätsbewusste Plattform digitaler Grundversorgung und politischer Partizipation zu investieren.
Leerstelle Gleichstellung
Betreffend die gleichstellungspolitischen Strukturen und Instrumente lässt sich eine weitere Kernaussage zusammenfassen und in schlichte Worte kleiden, nämlich die „Leerstelle Gleichstellung“ in der bisherigen Politik, ausdrücklich eingeschlossen dabei die bisherige Digitalpolitik. Das Gutachten analysiert in Teil C sehr überzeugend, dass im Bereich Gleichstellung politisch sehr wenig zusammengedacht wurde, was in einer „digitalisierten Gesellschaft“ zwingend zusammengehört. Das Gutachten stellt fest, dass die Politik die schon im 2. GlB angemahnte gleichstellungsorientierte Gesetzesfolgenabschätzung weiterhin vernachlässigt und auf Leerformeln17
reduziert. Aber immerhin gibt es diese theoretisch schon. Anders sieht es im Bereich Technikfolgenabschätzung aus, diese sei, soweit überhaupt vorhanden, aktuell vollkommen genderblind. Genderblind sei auch die aktuelle Umsetzungsstrategie der Bundesregierung „Digitalisierung gestalten“. Und da auch in der Haushaltspolitik Gleichstellungskompetenz komplett ignoriert werde – als wären die wissenschaftlichen Arbeiten zum Gender Budgeting nie geschrieben worden – verschärfe die Politik aktuell mit ihren genderblinden digitalisierungsbezogenen Investitionen den Digital Gender Gap eher noch als ihn abzubauen. Der brandneuen „Gleichstellungsstrategie“ der Bundesregierung fehle es an überprüfbaren Zielvorgaben und an finanziellen und personellen Ressourcen.
Das Gutachten fordert die Politik auf, ihre Digitalisierungsstrategien mit Gleichstellungsstrategien und Haushaltspolitiken konsequent zu verschränken und in der Bundesstiftung für Gleichstellung einen Arbeitsbereich Digitalisierung zu etablieren. Das ist nichts anderes, als endlich ein konsequentes Gender Mainstreaming18
einzufordern.
Zu den 101 Handlungsempfehlungen im Einzelnen
Teil B des Gutachtens konkretisiert die Kernaussagen anhand des Zwiebelmodells von innen nach außen in vier Kapiteln. Die „Digitalbranche“ und die „Digitalwirtschaft“ werden in den ersten zwei Kapiteln vorab speziell angesprochen, um dann für die „digitalisierte Wirtschaft“- also allgemein für die Privatwirtschaft – passende Handlungsempfehlungen geben zu können und schließlich gesamtgesellschaftlich ausgerichtete Handlungsempfehlungen für eine „digitalisierte Gesellschaft“ auszusprechen. Mit mehreren „Corona im Fokus“-Kästen ist auch die Pandemiesituation in das Gutachten eingearbeitet worden.
Frauenförderung in der Branche der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT)
So findet sich die Forderung nach einem „soziotechnischen Innovationsstandort Deutschland“ und der „Beschränkung von digitaler Hochrisikotechnologie“ im ersten Kapitel „Digitalbranche“ eingebettet in drei Themen: Technikgestaltung, Zugang/Verbleib in der IKT-Branche und IKT-Unternehmensgründungen. Sie werden analysiert jeweils mit dem Fokus auf Geschlechtergerechtigkeit. Als Handlungsempfehlungen finden sich dort weiter Forderungen, rechtlich verbindliche Standards für diskriminierungsfreie IT-Systeme zu setzen und diese Standards auch bei Vergabe öffentlicher Aufträge und in Forschung und Lehre zu etablieren. Mit dem „GERD-Modell“19 wird ein konkreter Prozess für die Implementierung eines geschlechtergerechten Projektmanagements in der Softwarebranche vorgestellt und die Implementierung vergleichbarer Prozesse eingefordert (sog. fix-the-company-Ansatz). Frauen in dieser Branche insbesondere auch als IKT-Gründerinnen seien zu fördern und Gründungskapital sei geschlechtergerecht zu vergeben, wobei erst einmal geschlechtsbezogene Daten zu erheben sind. Hier findet sich aber auch ein erster Kasten „Corona im Fokus“, der vor einem Anstieg prekärer weiblicher Notgründungen in die „digitale Soloselbstständigkeit“ warnt.
Plattformarbeiten
Der Schwerpunkt im zweiten Kapitel zur „Digitalwirtschaft“ liegt auf den geschlechtsbezogenen Auswirkungen der Vermittlung von Arbeit über Plattformen. Die Politik sei vor allem gefordert, den rechtlichen Status von Plattformarbeitenden zu klären und sicherzustellen, dass sich nicht erneut eine Sackgasse für Frauen im Lebensverlauf auftue, wie es schon die Teilzeitarbeit war und ist. Bei der Plattformarbeit existiert das neue Phänomen der sog. Reputationssysteme, die sich als eine Art algorithmisch gesteuertes in die Plattform implementiertes Personalbewertungssystem vorstellen lassen, welches die Auftragsvergaben steuert und für die Plattformarbeitenden intransparent ist. Die DSGVO gibt keinen Anspruch auf Herausgabe solcher Reputationsdaten, da sie als Auswertungsdaten nur Daten der Plattformen sind. Das Gutachten befürchtet Lock-In-Effekte, da nach diesen Daten bewiesene Qualifikationen nicht in den regulären Arbeitsmarkt mitgenommen werden können. Im Ergebnis sei solche Plattformarbeit kein Vereinbarkeitsmodell, sondern ein Ausbeutungsmodell, das Sorgebelastete ausnutze. Ein Exkurs zu Pflegearbeiten in der Plattform-Ökonomie (Care-Gig-Working) verweist auf die Forderungen des 2. GlB. Notwendig seien geschlechtsbezogene Datenerhebungen zur Plattformarbeit. Außerdem schlägt das Gutachten vor, Plattformarbeitende in den Anwendungsbereich des AGG einzubeziehen (§ 6 I 1 neue Nr. 3 AGG bzw. einen § 6 III AGG neu). Weiter seien soziale Absicherungen, Interessenvertretungen, Entgeltgleichheit sowie Diskriminierungs- und Gewaltschutz auf den Plattformen sicherzustellen.
Digitalisierte Wirtschaft
Frauenförderung
Die meisten Handlungsempfehlungen beziehen sich auf die „digitalisierte Wirtschaft“, wobei der Schwerpunkt wie im 2. GlB auf der Vereinbarkeitsproblematik liegt. Da es hier eine Fülle gut bekannter ungelöster Probleme bei Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit gebe,20
müsse jetzt genau beobachtet und politisch evaluiert werden, wie sich digitale Tools in den Unternehmen auf diese Probleme auswirkten. Dafür brauche es entsprechende geschlechtsspezifische Forschung – digitalisierungsbezogene Arbeitsforschung sei um Geschlechterfragen, geschlechtsbezogene Arbeitsforschung um Digitalisierungsfragen zu erweitern. Auch hier fehle momentan die soziotechnische Perspektive. Nur wenn genderkompetent gestaltet, könnten Tätigkeitsbeschreibungen und Arbeitsbewertungsverfahren, Reformen beim Entgelttransparenzgesetz, bei Berichtspflichten und betrieblichen Prüfverfahren positive Effekte auf Geschlechtergerechtigkeit haben.
Der fehlende soziotechnische Ansatz zeige schon schädliche Auswirkungen auf Erwerbsarbeit, z.B. bei der technikbegeisterten Entwicklung von Pflegerobotern, die in der Praxis eingesetzt eher Mehrarbeit für die Pflegeberufe bedeuten. In einem zweiten „Corona im Fokus“-Kasten fordert das Gutachten hier eindringlich die Neubewertung der frauendominierten Pflegeberufe, die sich als systemrelevant, aber hochgradig unterbezahlt erwiesen haben. Nach der Coronakrise sei ein Digitalisierungsschub, gefördert mit reichlich Steuermitteln, auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten, dessen erhoffte positive Effekte für Erwerbschancen bei weiterer Missachtung soziotechnischer Perspektiven insbesondere Frauen voraussichtlich wieder ausschließen werden.
Kompetenzen und Kompetenzerwerb
Als nächstes folgt das Thema Bildung, betitelt als „Anforderungen an Kompetenzen und Kompetenzerwerb“. Hier gibt es u.a. eine Tabelle,21 die die vom Gutachten eingeforderten digitalisierungsbezogenen Genderkompetenzen für Lehrkräfte auflistet. Neben der Kernforderung nach digitalisierungsbezogener Kompetenz statt Digitalkompetenz und ergänzender Genderqualifizierung fordert das Gutachten hier flankierend noch, alle Phasen des Lebensverlaufs bei der Kompetenzvermittlung einzubeziehen und dabei Weiterbildungsstrategien um Gleichstellungsziele zu erweitern, die soziotechnische Perspektive schon im Schulfach Informatik zu vermitteln, geschlechtergerechte Open Educational Resources22 (OER) zur Verfügung zu stellen und gemeinwohlorientierte Angebote für entsprechende Kompetenzvermittlung zu fördern.
Algorithmen und Personalauswahl
Beim folgenden Thema „Algorithmen und Personalauswahl“ konkretisiert sich die Aufforderung, Hochrisikotechnologien notfalls zu verbieten. Den Einsatz algorithmischer Systeme bei Personalauswahlprozessen sieht das Gutachten aufgrund des Diskriminierungspotentials als besonders kritisch. Das seien „Anwendungen mit unvertretbarem Schädigungspotential“ i.S. des Gutachtens der Datenethikkommission.23 Hier helfe auch das AGG wenig, es handele sich bei den Auswirkungen solcher Systeme um opferlose Diskriminierungen. Konkret fordert das Gutachten, § 11 AGG um einen zweiten Absatz zu erweitern, der zur Durchführung von Datenschutzfolgeabschätzungen verpflichtet. Weitergehende Forschungen und Schulungen für Betriebs- und Personalräte werden gefordert, Transparenz sei sicherzustellen, der Datenschutz zu stärken und ein Verbandsklagerecht einzuführen.
Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit
Im weitaus umfangreichsten vierten Thema „Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit“ stellt sich dann die Kernfrage, nämlich ob sich eine geschlechtergerechtere Verteilung im Carebereich mit digitalen Mitteln besser erreichen lässt oder nicht. Der 2. GlB hatte den Gender Care Gap24
entwickelt und mit diesem Indikator gezeigt, wieweit unbezahlt geleistete Sorgearbeiten zu Lasten von Frauen gehen. Das Gutachten hatte zu Analysezwecken mit dem Gender Care Share25
einen weiteren Indikator entwickelt. Er beziffert prozentual den Anteil, den Frauen an der unbezahlten Sorgearbeit innerhalb eines gemischtgeschlechtlichen Paarhaushaltes leisten.26
Auch hier sind die Frauen mehr belastet. Homeoffice führe dabei nicht automatisch zu gleichberechtigter Verteilung von Sorgearbeit. Hier gelte es sehr differenziert hinzusehen, das Gutachten analysiert die Erfahrungen während der Corona-Pandemie detailliert. Das Gutachten definiert statt Homeoffice lieber den weit präziseren Begriff „mobile Arbeit“, das seien „alle arbeitsvertraglichen Tätigkeiten, die zeitweise oder regelmäßig außerhalb der betrieblichen Arbeitsstätte durchgeführt werden“. Effekt der Digitalisierung sei neben der mobilen Arbeit auch eine vermehrte private Nutzung sozialer Medien am Arbeitsplatz, die von beiden Geschlechtern für ein sog. „Switchen“ (Erledigung privater Aufgaben vom Arbeitsplatz aus) eingesetzt werden. Verbote privater Kommunikation am Arbeitsplatz seien hier in einer digitalisierten Gesellschaft keine Lösung mehr. Zeitkonflikte bei der Entgrenzung von Beruflichem und Privatem, sog. „Work to family-conflict“, möchte das Gutachten über die Herstellung einer „digitalen Souveränität“ lösen und weniger durch die in der digitalisierten Gesellschaft überholte strikte Trennung von beruflicher und privater Sphäre.
Zur Vereinbarkeitsproblematik in der digitalisierten Wirtschaft formuliert das Gutachten Fragen, aus denen politische Handlungsempfehlungen abgeleitet werden: Welche Spielräume gibt das Arbeitsrecht, speziell auch bei der Arbeitszeit, um den Arbeitsort vereinbarkeitsfreundlich zu gestalten? Und wie lässt sich ein vereinbarkeitsfreundliches Arbeitszeitmanagement gesundheitsförderlich gestalten? Als Handlungsempfehlung findet sich hier ein ausformulierter § 611b BGB neu, der „Rechtsanspruch auf Mobile Arbeit“. Flankiert wird er durch die schon im 2. GlB erhobene Forderung nach einem Wahlarbeitszeitgesetz, jetzt zusätzlich noch versehen mit der Forderung nach einem weiteren Rechtsanspruch auf vereinbarkeitsfreundliche Arbeitsorganisation (§ 611c BGB neu). Darum gruppieren sich weitere Handlungsempfehlungen, wie die Freiwilligkeit mobiler Arbeit zu sichern, aber auch umfassende Forderungen zur Sicherstellung von Gesundheitsschutz, Datenschutz, Diskriminierungsschutz und nach steuerlichen und sozialrechtlichen begleitenden Maßnahmen.
Digitalisierte Gesellschaft
Digitale Medien
Im Kapitel zur „Digitalisierten Gesellschaft“ zeigt das Gutachten am deutlichsten auf, wie in der Gleichstellungspolitik schon durchaus bekannte, oft benannte Probleme (benachteiligende Stereotype, fehlender Gewalt-und Diskriminierungsschutz, private Überwachungsszenarien) durch die Totalität digitaler Technik noch einmal eine Verschärfung erfahren. Zuerst werden Geschlechterstereotype in sozialen Medien analysiert. Die Ergebnisse sind alarmierend. Soziale Medien seien Orte der Normierung statt Orte der Vielfalt. Diskriminierung bei den Empfehlungsalgorithmen und innerhalb der Produktionskulturen (z.B. ein 50 %iger Gender Pay Gap zu Lasten von Influencerinnen) sowie digitale Gewalt kennzeichnen diese neue digitale Welt und reproduzieren hegemoniale Machtstrukturen. Hier findet sich die Kernforderung nach einem Verhaltenskodex für soziale Medien. Weitergehend seien Vorbilder und Positivbeispiele zu fördern, Produktionskulturen zu verändern, Medienbildung und Schutzmechanismen auszubauen und Empfehlungsalgorithmen zu prüfen, zu regulieren und zu kennzeichnen.
Digitale Gewalt
Dann folgt eine Analyse zur digitalen Gewalt. Vorab stellt das Gutachten fest, dass hier die Istanbul-Konvention beim Gewaltschutz von Frauen eine Leerstelle enthalte. Zwar verwende sie schon einen weiten Gewaltbegriff, der auch digitale Gewalt und private Gewalt im häuslichen Bereich umfasse. Der Begriff häusliche Gewalt beziehe dort aber noch nicht den digitalen Raum ein, was aufgrund der einsetzenden Smart-Home-Technologien notwendig sei,27
da soziale Medien Raumbarrieren durchbrechen.
Digitale Gewalterfahrungen untergliedert das Gutachten nach Frey28
in vier Bereiche, die sich überlagern und verstärken können: Politik und Ehrenamt, Erwerbsarbeit und Öffentlichkeit, sozialer Nahraum sowie öffentlicher Raum als solcher. In allen vier Bereichen seien Verwirklichungschancen zurzeit durch geschlechtsbezogene digitale Gewalt massiv eingeschränkt. Diese treffe nicht nur Frauen, sondern alle Menschen, die stereotyp „wie Frauen“ angesprochen und diskriminiert würden. Eine Trennung zwischen analoger und digitaler Gewalt werde dabei zunehmend schwierig, digitale Gewalt sei insgesamt eine neue Qualität von Gewalt. Auch wohne neuen digitalen Techniken neben Schutzqualitäten immer zugleich auch die Möglichkeit neuer Gewaltanwendung inne (digitales Monitoring in Pflege oder auf nächtlichen Heimwegen könne zugleich für Überwachung und Stalking nutzbar sein).
Technikverbote böten keine Lösung. Es fehle insgesamt an Daten und Forschung. Das Gutachten selbst setzt hier mit seinen detaillierten Analysen bereits neue Standards. Es fordert eine neue Bewusstseinsbildung und Offenheit für weitere paradigmatische Umbrüche bei diesem Thema. Um das Dilemma zwischen Täter*innenschutz und Datenschutz aufzulösen, brauche es „eine wissenschaftlich fundierte und zivilgesellschaftlich begleitete Auseinandersetzung“. Dazu erhebt das Gutachten seine Kernforderung nach dem Einsetzen einer „Kommission zum Thema Anonymität versus Identifikation im digitalen Raum“. Konkret fordert das Gutachten auch, das NetzDG zu reformieren, Plattformbetreibende mehr in die Pflicht zu nehmen, Opferschutz zu stärken sowie Arbeitsschutz im Blick auf digitale Gewalt mit Hilfe des AGG und durch eine Reform bei den Impressumspflichten zu verbessern.
Forschungsmaßnahmen, wie hybride Verfahren zur Aufdeckung von Hate Speech, Prävalenz- und Dunkelzifferstudien aus intersektionaler Perspektive seien notwendig, Indikatoren für Erfassung und Monitoring digitaler Gewalt seien zu entwickeln und ein Schutzschirm zu etablieren. Des Weiteren seien Kompetenzen und Strukturen bei Polizei-, Strafverfolgungs- und Ordnungsbehörden sowie in der Justiz aufzubauen. Die soziotechnische Perspektive sei bei Technikentwicklungen konsequent einzunehmen, um geschlechtergerechte, partizipative technische Lösungen als Maßnahmen gegen digitale Gewalt nutzen zu können, hier insbesondere Smart-Home-Technologien zu überprüfen, Cyberstalking zu bekämpfen und gewaltfreie Gamingkulturen zu entwickeln. Das bereits eingeführte Upskirting-Verbot sei zu evaluieren und evtl. zu erweitern.
Daten und Grundrechte
Beim letzten Thema von Teil B „Daten und Grundrechte“ wird die Situation von Menschen in einer digitalisierten Welt analysiert. Zugang zu und Nutzung digitaler Technologien müssten mit Schutzmaßnahmen einhergehen, denn digitale Selbstoffenbarungen geschähen regelmäßig durch Unkenntnis. Eine effektive informationelle Selbstbestimmung – also eine „digitale Souveränität“ über den Umgang mit den eigenen Daten – sei nur mit hoher technischer Expertise und hohem Ressourceneinsatz möglich. Hier bestünden informationelle Machtasymmetrien. Ein Schutzkonzept, das digitale Souveränität ermöglichen will, könne daher nicht nur auf Transparenz setzen. Es müssten „prozedurale Sicherheiten“ gewährleistet werden.29 Und diese seien nur zu gewährleisten, wenn eine digitale Infrastruktur mit Datenverarbeitungen besteht, die weder komplett verstaatlicht noch komplett vermarktlicht ist. Hier steht die Kernforderung nach einer staatlichen „Plattform digitaler Grundversorgung“. Die Empfehlungen der Datenethikkommission seien gleichstellungsorientiert umzusetzen und Institutionen zur Wahrung von Datenschutz und IT-Sicherheit für Diskriminierungsaspekte zu sensibilisieren. Auf die ePrivacy-Verordnung sei entsprechend einzuwirken.
Querschnittsaufgaben
In Teil C findet sich die Forderung nach einem „Arbeitsbereich Digitalisierung“ in der Bundesstiftung für Gleichstellung und nach einer ressortübergreifenden Gleichstellungsstrategie für die digitale Transformation. Weiter seien digitalisierungsrelevante Gremien geschlechterparitätisch zu besetzen und Ressourcen für die Koordination gleichstellungspolitischer Querschnittsaufgaben im BMFSFJ zur Verfügung zu stellen. In der Haushaltspolitik seien Strukturen für die gleichstellungsorientierte Vergabe öffentlicher Mittel zu entwickeln. Die gleichstellungsorientierte Perspektive sei bei der Gesetzesfolgenabschätzung zu „stärken“ und in Technikfolgenabschätzungen neu zu integrieren sowie in den daran beteiligten Institutionen und Verfahren strukturell zu verankern.
Leerstellen des Gutachtens
Die Legal Tech-Branche
Eine auffällige Leerstelle im Gutachten ist das Thema Legal Tech. Dabei hat Legal Tech bereits Marktanteile in der digitalisierten Wirtschaft und befindet sich mit seinen digitalen Geschäftsmodellen zur Realisierung bisher brachliegender subjektiver Rechte (Diskriminierungsschutz), also zur Rechtsmobilisierung im Privatrecht, durchaus in einem gleichstellungsrelevanten, die Verwirklichungschancen von Frauen mitbestimmenden Bereich. Zugleich fordert es die Justizsysteme mit Massenverfahren heraus. Frauen sind von Legal Tech nicht nur als Rechtsuchende, sondern auch als Subjekte in Sachverhalten, die durch das sog. „digitizing“ für KI-Rechenmodelle ausrechenbar gemacht werden, von Legal-Tech-Anwendungen spezifisch betroffen. Die sog. Asozialität von Legal-Tech (wo subjektive Rechtsmobilisierung sozial wünschenswert wäre, ist sie für die Legal-Tech-Anbieter wirtschaftlich nicht lukrativ) trifft wahrscheinlich insbesondere Frauen.
Die „MINT-Förderung“
Eine weitere Leerstelle findet sich bei den Ausführungen zur MINT-Förderung. Das Gutachten befürwortet die schon bestehenden politischen Bemühungen, Mädchen möglichst früh und Frauen insgesamt zu ermutigen, MINT-Berufe, insbesondere auch in der IKT-Branche, zu ergreifen. Zwar fordert das Gutachten die Aufnahme von Sozioinformatik und interdisziplinären Inhalten bei technischen Fächern. Konsequent weitergedacht stellt der soziotechnische Ansatz aber doch eigentlich herkömmliche MINT-Frauen-Förderprogramme in ein neues Licht. So sollte von Frauen nicht gefordert werden, dass sie ihre beruflich selbstgewählten Präferenzen aufgeben und sich an – ihrer Sozialisierung gerade nicht entsprechende – MINT-Berufe anpassen. Genau das wird aber auch im Gutachten von Frauen gefordert. Dabei ist es gerade die Stärke des Gutachtens, dass es von der IKT-Branche und von Unternehmen insgesamt verlangt, sich in der digitalen Transformation zu ändern und sich geschlechtergerechten Standards anzupassen. Dementsprechend müssten die Unternehmen Berufschancen für – typischerweise weibliche – Berufsprofile wie z.B. Sozialwissenschaften aufmachen und eine interdisziplinäre gender- und diskriminierungssensible Personal- und Kompetenzausstattung nachweisen. Kurz, kein neues Softwareprodukt mehr ohne Supervisions-Zertifikat. Mit kompletten Umetikettierungen und Inhaltsänderungen von MINT-Studiengängen in Richtung mehr soziologische und gesellschaftswissenschaftliche Inhalte, die die technischen Kenntnisse sozusagen nur noch nebenbei mit vermitteln, konnten Frauen auch bereits erfolgreicher für solche Studiengänge angesprochen und motiviert werden.30 Und es würde „die Technik“ gesellschaftlich deutlich an den ihr gebührenden – nämlich einen nur dienenden – Platz verweisen.
Sexistische Werbung
Leider nicht aufgenommen wurde die rechtspolitische Forderung nach einem Verbot sexistischer Werbung,31 die bei der Erstellung eines Verhaltenskodex für soziale Medien jedenfalls untersucht gehört.
Desiderata für einen 4. GlB
Das Gutachten schaut mehrfach über den Tellerrand des Berichtsauftrags „Weichenstellungen in der digitalen Wirtschaft“ hinaus, indem es nicht nur die Wirtschaft als solche, sondern die gesamtgesellschaftliche Situation von Frauen in der digitalen Transformation in den Blick nimmt und dazu Forderungen stellt. Das überzeugt auch, da beides untrennbar miteinander verknüpft ist. Gerade bei der wichtigen Frage der Entgeltgleichheit wird aber leider kein gesamtgesellschaftlicher Blick geworfen, der auch makroökonomische Zusammenhänge benennt. Es ist eher nicht realistisch, dass Entgelte für Frauen nach oben angepasst werden. Forderungen nach Grundeinkommen, auch feministisch-ökonomische Analysen und die Neuausrichtung bei und Kritik an den ökonomischen Wissenschaften überhaupt werden im Gutachten gar nicht angesprochen. Insgesamt fehlt im Gutachten die Perspektive auf Care-Ökonomie als Wirtschaftsfaktor, der diesen Bereich nicht nur als unbezahlte Arbeit neben der Erwerbsarbeit erscheinen lässt. Hoffnungen, dass „Frau und Mann“ im Erwerbssektor gleichberechtigt Geld verdienen können, haben sich bisher nicht erfüllt. Vereinbarkeitsszenarien fußen oft auf Selbstausbeutung oder „finanzialisierten Haushalten“, die in einem Rechts- und Sozialstaat unerwünschte Ausbeutungsstrategien im privaten Bereich fortsetzen. 32 Die Frage nach einer geschlechtergerechten Gesellschaft und dafür notwendige Haushaltspolitiken und Investitionen in Infrastrukturen und staatliche Daseinsvorsorge stellt sich in dieser makroökonomischen Perspektive nochmal anders (freie Mobilität, frei verfügbare öffentliche Dienstleistung im Sinne z.B. einer SmartCity, mehr „Allmenden“ im öffentlichen Raum etc.). In diese Richtung hätten zumindest erste Handlungsempfehlungen lauten können. Es ist zu hoffen, dass der 4. Gleichstellungsbericht diese weitergehenden Fragestellungen angehen wird.
Fazit
Das Gutachten bietet sehr gute Argumentationshilfen in allen gegenwärtigen digitalpolitischen Diskussionen und benennt dabei unangenehme Wahrheiten. Sprachlich formuliert es elegant in geschlechtergerechter stets inklusiver und die intersektionale Perspektive benennender Art und Weise. Der Text ist sehr gut lesbar und beweist damit, dass geschlechtergerechte Sprache keine Frage der grammatikalischen Sprachästhetik, sondern schlicht sprachliche Kompetenz ist.
Nach diesen Analysen sollte sich Gleichstellungspolitik nicht mehr durch vermeintlich vorrangige „Sachzwänge“ oder „Finanzierungsvorbehalte“ ausblenden lassen. Zu hoffen ist, dass sich die politisch Verantwortlichen nicht durch reaktionäre biologistische Überzeugungen beeinflussen lassen – eine Attitüde, die leider momentan aufgrund der Radikalisierungstendenzen in den digitalisierten Öffentlichkeiten wieder häufiger zu finden ist.
- Geschlechterparitätisch besetzt unter Vorsitz von Prof. Dr. Aysel Yollu-Tok mit Prof. Dr. Miriam Beblo, Prof. Dr. Claude Draude, Prof. Dr. Thomas Gegenhuber, Prof. Dr. Stephan Höyng, Prof. Dr. Katja Nebe, Dr. Caroline Richter, Prof. Dr. Hendrik Send, Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann, Prof. Dr. Timm Teubner, Dr. Stefan Ullrich, siehe auf www.dritter-gleichstellungsbericht.de, dort S. 10. ↩
- Sachverständigenkommission für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (2021) „Digitalisierung geschlechtergerecht gestalten“ – Gutachten für den dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, Berlin, Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht, Download unter www.dritter-gleichstellungsbericht.de/de/topic/73.gutachten.html. ↩
- „Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf“ Erster Gleichstellungsbericht, hrsgg. vom BMFSFJ, Berlin 2011 www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/erster-gleichstellungsbericht-neue-wege-gleiche-chancen-80428. ↩
- Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, hrsgg. vom BMFSFJ, Berlin 2017 www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/zweiter-gleichstellungsbericht-der-bundesregierung-122402. ↩
- Hintergrundinformationen und Aktualisierungen unter: www.dritter-gleichstellungsbericht.de. ↩
- Der Ansatz gleicher Verwirklichungschancen nach Amartya Sen fordert, formale Wahlmöglichkeiten bei Lebensentwürfen durch strukturelle Rahmenbedingungen so zu begleiten, dass für die Menschen eine echte Chance besteht, ihre Wahl zu realisieren. Der Ansatz war im 1. und 2. GlB als Leitidee für Gleichstellung verankert und noch erweitert worden und entspricht so der heutigen Interpretation der besonderen Gleichheitssätze in Art. 3 GG, siehe Gutachten, a.a.O. Fn. 2, S. 19. ↩
- A.a.O. Fn. 5, S. 215/216. ↩
- Z.B. Reformen des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (allerdings nicht die vom BVerfG gestoppte aus konservativen Parteikreisen initiierte Reform zum sog. Betreuungsgeld) und des Pflegezeitgesetzes, Einführung von Entgelttransparenzgesetz und Führungspositionengleichberechtigungsgesetz. ↩
- Siehe dazu auf www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/bundestag-beschliesst-errichtung-einer-bundesstiftung-gleichstellung--176922. ↩
- Bericht zur Übergabe am 26.1.2021 siehe auf www.dritter-gleichstellungsbericht.de/. ↩
- Technik(leicht)gläubigkeit war schon immer von emanzipatorischenHoffnungen getragen. Von elektrischen Haushaltshilfen, die nur zu einer enormen Verdichtung bei hauswirtschaftlichen Arbeiten und nicht zur Entlastung von Frauen geführt haben, bis zum „Cyborg-Manifest“ haben sich solche Hoffnungen nie erfüllt: statt im Internet den Faktor Geschlecht zu überwinden, werden Frauen durch die epidemische digitale Gewalt auch im analogen Raum verstärkt auf ihre Geschlechterrolle zurückverwiesen. ↩
- Schematische Darstellung des „Zwiebelmodells“ siehe a.a.O., Fn. 2, S. 17. ↩
- Die Idee ist nicht neu, eine soziotechnische Perspektive wurde schon lange vor der Digitalisierung eingenommen. Im Bergbau der 1950er Jahren existierte schon die Erkenntnis: „Erfolg hängt davon ab, wie Technik als soziotechnisches System funktioniert – nicht einfach als ein technisches System mit ersetzbaren Individuen, die hinzugefügt werden und sich anpassen müssen“, siehe dazu auf https://de.wikipedia.org/wiki/Soziotechnisches_System (Zugriff 20.04.2021). Weiterentwickelt wurde der Ansatz in der feministischen Naturwissenschafts- und Technikforschung bis hin zur Sozioinformatik. Das Gutachten bezieht sich ausdrücklich auf Forschungen von Enid Mumford und nennt viele weitere Quellen, siehe a.a.O., FN 2, S. 20. ↩
- Sehr gut erklärt im Gutachten als die „Ich-Methodology“ männlicher weißer Software-Entwickler, die sich selbst und ihre white-male Erfahrungswelt als stellvertretend für alle „User“ der von ihnen entwickelten Software ansehen, siehe a.a.O., Fn. 2, S. 33 ff. ↩
- Datengetriebenheit meint, dass eine „mathematische Übersetzung“ von allem erfolgt. Die Welt als solche berechenbar zu machen und in Zeichen zu formalisieren, bedeute aber immer einen Informationsverlust. Wertungsentscheidungen sind nicht ausrechenbar, nur unterstützbar. Ein datengetriebenes Entscheidungssystem kann nie „Verantwortung“ übernehmen. Siehe dazu a.a.O., Fn. 2, S. 21 ff. u. S. 34 ff. ↩
- Der Digital Gender Gap stellt geschlechtsbezogene Unterschiede beim Digitalisierungsgrad von Frauen und Männern fest. Frauen erreichen einen deutlich geringeren Digitalisierungsgrad als Männer. Dabei gilt auch hier, dass es neben Geschlecht auf weitere soziodemografische Aspekte wie Bildung, Alter, Vermögen etc. ankommt. Näheres auf der Website der Initiative D21 e.V. https://initiatived21.de/, insbesondere die vom Verein herausgegebene Publikation „Digital Gender Gap“ auf https://initiatived21.de/publikationen/digital-gender-gap/ (Zugriff 20.04.2021). ↩
- Die Gesetzesfolgenabschätzung sei nicht mehr als ein standardisierter Textbaustein, der lautet: „Auswirkungen auf die Gleichstellung von Männern und Frauen sind nicht erkennbar.“ Siehe dazu mit weiteren Nachweisen a.a.O., Fn.2, S. 154. ↩
- Das Gutachten vermeidet diesen in der Politik mittlerweile schon „verbrannten“ Begriff allerdings konsequent, er taucht auf den 157 Seiten nur einmal indirekt als Zitat aus der „Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien“ auf, in der er immerhin verankert ist. ↩
- Gender Extended Research and Development Model (GERD), bei dem die Gestaltungslogiken der Entwicklungsabteilungen (sog. R&D) in der IT-Branche mit Konzepten aus den Gender Studies verschränkt werden, Erläuterungen und schematische Darstellung siehe a.a.O., Fn. 2, S. 38/39. ↩
- Hier verweist das Gutachten ausdrücklich auf den 2. GlB zurück, a.a.O., Fn. 2, S. 80. ↩
- A.a.O., Fn. 2, S. 85. ↩
- Open Educational Resources (OER) sind Bildungsmaterialien jeglicher Art und in jedem Medium, die unter einer offenen Lizenz veröffentlicht werden, verantwortet vom DIPF/Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Informationen auf https://open-educational-resources.de. ↩
- Gutachten der Datenethikkommission der Bundesregierung, Berlin 2019 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/it-digitalpolitik/gutachten-datenethikkommission.html (Zugriff 20.04.2021). ↩
- A.a.O., Fn. 4, S. 95 ff. ↩
- A.a.O., Fn. 2, S.103 ff. ↩
- Frauen übernehmen 66 % der im Haushalt notwendigen Arbeiten, wobei auch kinderlose Haushalte mit einbezogen waren. Dabei wurden Alleinerziehende und gleichgeschlechtliche Paare insgesamt nicht erfasst, siehe Fn. 2, S. 103. ↩
- A.a.O. Fn.2, S. 124 ff.; auch Stelkens, „Smarte Gewalt – Digitalisierung häuslicher Gewalt im Internet of Things“ in: STREIT 1/2019, S. 3 ff., www.streit-fem.de und Stelkens „Mit dem Smart-Meter-Gateway öffnet das BSI Tür und Tor für häusliche Gewalt“ in: STREIT 1/2021, S.31 ff., www.streit-fem.de. ↩
- Frey „Geschlecht und Gewalt im digitalen Raum. Eine qualitative Analyse der Erscheinungsformen, Betroffenheiten und Handlungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung intersektionaler Aspekte“, Expertise auf: www.dritter-gleichstellungsbericht.de/; siehe dazu auch Stelkens „Digitale Gewalt und Persönlichkeitsrechtsverletzungen“ in: STREIT 4/2016, S. 147 ff., www.streit-fem.de. ↩
- Das Gutachten bezieht sich hier auf die Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, die im Zusammenhang mit materiell-rechtlichem Grundrechtsschutz Schutzkonzepte einfordern, die den geringen und ineffektiven Selbstschutz der Grundrechtssubjekte bei ihrer informationellen Selbstbestimmung ausreichend berücksichtigen, sich nicht nur in Transparenzhinweisen erschöpfen dürfen, sondern weitere institutionelle und verfahrensmäßige Sicherungen gewährleisten müssen, a.a.O., Fn. 2, S. 142 ff. mit weiteren Nachweisen. ↩
- Z.B. reiner Frauenstudiengang „Informatik und Wirtschaft“ an der HTW Berlin, siehe https://fiw.htw-berlin.de/; siehe dazu auch die Initiative GEWINN „GEnderWissenINformatikNetzwerk“, die die Erkenntnisse der Gender Studies in die Studien- und Berufswelt der IKT-Branche hineintransportieren will, www.gender-wissen-informatik.de/projekt; weitgehend unbekannt ist, dass Computerprogrammierung ursprünglich ein reiner Frauenberuf war, siehe dazu Frink „Researcher reveals how „computer Geeks“ replaced „Computer Girls“ auf https://gender.stanford.edu/news-publications/gender-news/researcher-reveals-how-computer-geeks-replaced-computer-girls (Zugriffe 20.04.2021). ↩
- Völzmann „Spießigkeit oder Geschlechtergerechtigkeit? – für ein Verbot sexistischer Werbung“ in: STREIT 2/2016, S. 51 ff., www.streit-fem.de. ↩
- Immer noch lohnend dazu die Tagungspublikation der Friedrich-Ebert-Stiftung „Antworten aus der feministischen Ökonomie auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise“ 2009 auf http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06753-20091109.pdf (Zugriff 20.04.2021). Die Corona-Krise macht diese Überlegungen wieder aktuell. ↩