STREIT 2/2021

S. 83-84

BFH, §§ 138 Abs. 1, 143 Abs. 1 FGO, § 5 AO, EStG, § 25 SGB 10

Einsichtsrecht in die Kindergeldakten

1. Die Akteneinsicht in Kindergeldsachen nach dem EStG richtet sich nach der AO; insoweit besteht ein Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung.
2. Bei der Abwägung der Interessen des Einsichtssuchenden und der Familienkasse ist zu berücksichtigen, dass der Verwaltungsaufwand regelmäßig geringer ist als in Steuersachen, dass in elektronischer Form geführte Kindergeldakten leichter zu duplizieren sind als Papierakten und dass elektronisch geführte Akten durch die Gewährung von Akteneinsicht keinem erhöhten Integritäts- oder Verlustrisiko ausgesetzt sind.

Beschluss des BFH vom 03.11.2020 – III R 59/19 

Aus den Gründen:
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Mutter der Kinder D. und R. Sie bezog für diese bis Januar 2014 Kindergeld.
Mit Schreiben vom 17.11.2017 beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) Einsicht in die Kindergeldakte. Die Familienkasse teilte ihnen dazu am 07.02.2018 mit, dass dem Antrag auf Akteneinsicht nicht entsprochen werden könne. Am 16.03.2018 beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin, ihnen die Akte in ausgedruckter Form zu übersenden. Die Familienkasse lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 09.04.2018 ab. Den Einspruch der Klägerin vom 09.05.2018 wies die Familienkasse am 28.05.2018 als unbegründet zurück. Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 06.11.2018 als unbegründet ab. […]
II.
[…]
1. Seit der Übernahme des Kindergeldrechts in das Einkommensteuerrecht zum 01.01.1996 richtet sich das Verwaltungsverfahren allein nach der Abgabenordnung --​AO-​- (Senatsurteil vom 19.11.2008 –III R 108/06, BFH/NV 2009, 357, unter II.2.). Dies gilt, obwohl dem Kindergeld eine Doppelfunktion zukommt. Es dient gemäß § 31 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) der verfassungsrechtlich gebotenen steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes einschließlich des Bedarfs für Betreuung und Erziehung und Ausbildung und, soweit das Kindergeld hierfür nicht erforderlich ist, nach § 31 Satz 2 EStG der sozialrechtlichen Förderung der Familie (vgl. hierzu Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.06.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl. I 2004, 2570, unter C.II.1. am Ende; Senatsurteil vom 25.07.2019 – III R 34/18, BFHE 265, 487, Rz. 30).
a) Die AO enthält – ​anders als andere Verfahrens­ordnungen wie z.B. § 29 des Verwaltungsverfahrensgesetzes und § 147 der Strafprozessordnung – keine Regelung, nach der ein Anspruch auf Akteneinsicht besteht. Ein solches Einsichtsrecht ist weder aus § 91 Abs. 1 AO noch aus § 364 AO abzuleiten. Allerdings steht dem während eines Verwaltungsverfahrens um Akteneinsicht nachsuchenden Steuerpflichtigen oder seinem Vertreter ein Anspruch auf eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung der Behörde zu (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH – vom 23.02.2010 – VII R 19/09, BFHE 228, 139, BStBl. II 2010, 729, Rz. 11). […]
Der Gesetzgeber hat ein allgemeines Akteneinsichtsrecht im Steuerverwaltungsverfahren für nicht praktikabel gehalten, weil diesem Gesichtspunkte des Schutzes Dritter und das Ermittlungsinteresse der Finanzbehörden sowie der Verwaltungsaufwand der Finanzbehörde entgegenstünden, die vor jeder Akteneinsicht zu prüfen hätte, ob ein Geheimhaltungsinteresse Dritter beeinträchtigt sein könnte und dann das gesamte Kontrollmaterial, behördeninterne Vermerke und Anweisungen und Ähnliches aus den Akten zu entfernen hätte (BTDrucks. 7/4292, S. 24 f.). […]
b) Einsichtsgesuche in Kindergeldakten sind nicht nach anderen Grundsätzen zu behandeln als Akteneinsichtsgesuche, die in gewöhnlichen steuerlichen Verwaltungsverfahren gestellt werden.
Der Gesetzgeber hat bei der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs durch Kinderfreibeträge und Kindergeld in den §§ 67 ff. EStG einige Sonderregeln verfahrensrechtlicher Art für das Kindergeld geschaffen. Ein Akteneinsichtsrecht ist darin nicht normiert, obwohl die allgemeinen sozialrechtlichen Vorschriften (§ 25 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch), denen das Verwaltungsverfahren in Kindergeldsachen bis zur Neuregelung unterlag, ein solches im Sozialverwaltungsverfahren grundsätzlich vorsehen.
Somit sind die Interessen des Einsichtssuchenden und die der Familienkasse gegeneinander abzuwägen. Diese Belange können anders gelagert sein als in gewöhnlichen steuerlichen Verwaltungsverfahren, so dass die Abwägung häufiger zur Gewährung von Akteneinsicht führen mag. Insbesondere dürften sich in Kindergeldakten seltener als in gewöhnlichen Steuerakten Kontrollmitteilungen oder Prüfhinweise sowie Daten von und Informationen über Dritte befinden, die durch das Steuergeheimnis geschützt werden. […] Auch sind die inzwischen in elektronischer Form geführten Kindergeldakten leichter zu duplizieren als Papierakten, sie stehen damit trotz Akteneinsicht ohne zeitliche Einschränkungen für die Fallbearbeitung zur Verfügung und unterliegen keinem durch die Gewährung von Akteneinsicht erhöhten Integritäts- oder sogar Verlustrisiko.
2. Die Familienkasse hat das ihr eingeräumte Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Sie hat zwar – ​wie die Einspruchsentscheidung vom 28.05.2018 zeigt – erkannt, dass kein in der AO geregelter Akteneinsichtsanspruch der Klägerin besteht, es ihr jedoch nicht verwehrt ist, im Einzelfall nach ihrem Ermessen Akteneinsicht zu gewähren. Die Familienkasse ist bei der Entscheidung aber davon ausgegangen, dass die Klägerin keinerlei berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht habe. Sie ist daher in eine Interessensabwägung überhaupt nicht eingetreten. Da nach den Umständen des Einzelfalls die Belange der Klägerin, namentlich die Sprachbarriere, das Fehlen von Unterlagen zum Kindergeldverfahren und das Erfordernis, anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, die Interessen der Familienkasse jedoch deutlich überwogen, war von einer Ermessensreduzierung auf null auszugehen, und es bestand ein Anspruch der Klägerin auf Einsicht in die Kindergeldakte.
Die Familienkasse hat gänzlich unberücksichtigt gelassen, dass die Klägerin geltend gemacht hatte, der deutschen Sprache nur begrenzt mächtig und mit dem Verwaltungsverfahren hinsichtlich des Kindergeldes überfordert gewesen zu sein. Auch der Vortrag, die Klägerin verfüge nicht mehr über Unterlagen oder Informationen zum Stand der Kindergeldangelegenheit, fand keinen Eingang in die Entscheidung. […]
3. Angesichts der vorgenannten Umstände kann es im Streitfall hier auch dahinstehen, ob Art. 15 der Datenschutzgrundverordnung über das Auskunftsrecht hinaus ein Recht auf Einsicht in die Steuerakten begründet.