STREIT 3/2023
S. 128-129
Empfehlungen für eine Reform des Familien- und Familienverfahrensrechts unter Berücksichtigung von häuslicher Gewalt (Auszug)
Vorbemerkungen
Eine Reform des Sorge-, Umgangs- und Unterhaltsrechts wird seit einigen Jahren intensiv diskutiert. Nunmehr ist eine Modernisierung des Familienrechts auch im aktuellen Koalitionsvertrag festgehalten. Der Deutsche Verein weist ausdrücklich darauf hin, dass bei den anstehenden Diskussionen um eine umfassende Reform des Familienrechts und Familienverfahrensrechts insbesondere auch auf die Fälle zu schauen ist, in denen aus unterschiedlichen Gründen die gemeinsame Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung nicht im Sinne des Kindeswohls ist oder nicht verwirklicht werden kann. Dabei ist vor allem die Situation von Elternteilen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, und deren Kinder in den Blick zu nehmen. In der deutlichen Mehrzahl der angezeigten Fälle von häuslicher Gewalt sind die Opfer weiblich. Häufig handelt es sich bei häuslicher Gewalt auch um geschlechtsspezifische Gewalt.1
(…)
Der aktuelle Koalitionsvertrag enthält zu diesem Thema Folgendes: „Wenn häusliche Gewalt festgestellt wird, ist dies in einem Umgangsverfahren zwingend zu berücksichtigen.“2
Inwieweit dies ausreichend ist, um den Gewaltschutz und die Bedarfe der von häuslicher Gewalt betroffenen Personen und deren Kinder angemessen zu berücksichtigen, kann durchaus hinterfragt werden. Welche Maßnahmen aus Sicht des Deutschen Vereins notwendig sind, ist Gegenstand der vorliegenden Empfehlungen. (…)
7. Empfehlungen
Unter Zugrundelegung und im Ergebnis dieser Ausführungen formuliert der Deutsche Verein folgende Empfehlungen, die bei anstehenden Reformbestrebungen im Bereich des Familien- und Familienverfahrensrechts zu berücksichtigen sind:
In familiengerichtlichen Auseinandersetzungen um die elterliche Sorge ist in Fällen häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt davon auszugehen, dass eine verantwortungsvolle Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge in der Regel nicht möglich ist. Dies ist insbesondere dann nicht möglich, wenn
(vormals) gewaltbelastete Strukturen und Dynamiken fortwirken (Kontrolle, Drohung, Ängstigung, Unterdrückung, Herabwürdigung),
Belastungen beim gewaltbetroffenen Elternteil und/oder dem Kind fortwirken (z.B. Angst, Traumatisierung, Stresssymptome vor, während oder nach Kontakten) oder
eine ausreichende Senkung des Konfliktniveaus mithilfe einer Bearbeitung auf der Beziehungsebene für einen Teil nicht zumutbar oder in angemessener Zeit nicht erfolgversprechend ist.
Dabei kann es keine Einigungspflicht oder eine Pflicht zu gemeinsamer Beratung geben. Insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt ist eine Verschärfung des Einigungsgebots nach § 1627 Satz 2 BGB3 fehl am Platz.4
Die Regelvermutung des § 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB zur Kindeswohldienlichkeit des Umgangs mit beiden Elternteilen findet in Fällen häuslicher Gewalt keine Anwendung. Dies sollte im Rahmen einer gesetzlichen Regelung klargestellt werden.
In Fällen häuslicher Gewalt ist der Umgang mit dem gewaltausübenden Elternteil in der Regel auszuschließen oder einzuschränken. Bei einer zu treffenden Entscheidung sind die Rechte und der Schutz des Kindes und des gewaltbetroffenen Elternteils zu berücksichtigen. Dies sollte im Rahmen einer gesetzlichen Regelung klargestellt werden.
Solange die Gefahr der Gewaltausübung gegen den betroffenen Elternteil und/ oder das Kind oder die Gefahr einer erneuten schweren psychischen Belastung besteht, sollte kein (auch kein begleiteter) Umgang stattfinden.
In Fällen häuslicher Gewalt sollten eine Gewaltverzichtserklärung, die Verantwortungsübernahme und die Teilnahme an einem fachspezifischen Beratungsangebot und/oder einem sozialen Trainingskurs durch den gewaltausübenden Elternteil Voraussetzungen für Umgang sein.
Fälle häuslicher Gewalt stellen im Rahmen des § 156 FamFG eine Ausnahme vom Gebot der Hinwirkung auf ein Einvernehmen der Beteiligten dar. Eine entsprechende ausdrückliche Ergänzung sollte in § 156 FamFG aufgenommen werden.
Um unerwünschte Rückschlüsse auf den Aufenthalt des gewaltbetroffenen Elternteils und des Kindes zu vermeiden, sollte auch im Rahmen des § 152 FamFG ein Wahlgerichtsstand geschaffen werden (vgl. § 211 Nr. 1 FamFG).
Im Hinblick auf die kindgerechte Gestaltung der Verfahrensabläufe des familiengerichtlichen Verfahrens sollte nach Ansicht des Deutschen Vereins die bestehende Forschungslücke geschlossen werden.
Der Deutsche Verein hält die Systematisierung von Erkenntnissen zu Rechtspraxis und Begutachtung in familienrechtlichen Verfahren im Kontext häuslicher Gewalt durch entsprechende Datenerhebung und -auswertung für dringend erforderlich.
Die hinreichende Sensibilisierung und Qualifizierung sämtlicher beteiligter Professionen ist sicherzustellen. Dies erfordert u.a. eine entsprechende (stärkere) Themensetzung im Rahmen von quantitativ und qualitativ angemessenen Fortbildungsangeboten als auch die Berücksichtigung dieses Themas in Ausbildung und Studium der beteiligten Professionen.
Empfehlungen (DV 16/21) verabschiedet vom Präsidium am 20.09.2022
Download unter: www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2022/dv-16-21_reform-familienrecht.pdf
Hinweis der Redaktion:
Diese Empfehlungen des Deutschen Vereins e.V. enthalten detaillierte Ausführungen zu Reformbedarfen im Familienrecht und Familienverfahrensrecht sowie Hinweise zur Rolle und den Aufgaben des Jugendamtes.
Zur Thematik siehe zuletzt auch: Sabine Heinke: Auswirkungen der Istanbul-Konvention auf die familiengerichtliche Amtsermittlung in Sorge- und Umgangssachen, STREIT 2/22, S. 52-62; Sabine Heinke, Barbara Steiner: Probleme bei der Durchsetzung von Gewaltschutzanordnungen – Vorschläge für eine Anpassung des Vollstreckungsverfahrens im Sinne der Istanbul-Konvention, STREIT 2/23, S. 51-61.
- Art. 3d Istanbul-Konvention definiert „geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“ als Gewalt, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft. ↩
- (Fn. 8) Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP vom 7.12.2021, S. 102. ↩
- (Fn. 87) Vgl. Thesenpapier der Arbeitsgruppe „Sorge- und Umgangsrecht, insbesondere bei gemeinsamer Betreuung nach Trennung und Scheidung“ vom 29.10.2019. https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/102919_Thesen_AG_SorgeUndUmgangsrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (20.19.2022). ↩
- (Fn. 88) Vgl. bereits Empfehlungen des Deutschen Vereins für eine Reform des Sorge-, Umgangs- und Unterhaltsrechts vom 24.11.2020, www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2020/dv-04-20_reform-sorgerecht.pdf (20. September 2022). ↩