STREIT 3/2023

S. 124-127

VG Regensburg, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG

Flüchtlingseigenschaft für Mädchen wegen Gefahr der Genitalverstümmelung in Äthiopien und Somalia

1. Unbeschnittenen Mädchen/jungen Frauen droht sowohl in Äthiopien als auch in Somalia Genitalverstümmelung.
2. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht aufgrund der Angewiesenheit auf die Clanstruktur ethischer Somalis in Äthiopien auch dann nicht, wenn die Eltern die Genitalverstümmelung ablehnen.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des Bayerischen VG Regensburg vom 13.10.2022, RN 16 K 19.32175

Zum Sachverhalt:
[…] Die Klägerin ist […] Tochter einer äthiopischen Staatsangehörigen somalischer Volkszugehörigkeit und eines somalischen Staatsangehörigen, der der Volksgruppe der Tumaal angehört. […] Die Mutter der Klägerin ist im Rahmen der Anhörung zu ihrem eigenen Asylantrag […] auch zu der Praxis der Genitalbeschneidung befragt worden. Diesbezüglich trug sie vor, dass sie im Falle der Rückkehr nach Äthiopien Angst habe, dass ihre Tochter vergewaltigt oder beschnitten werde. Außerdem sei der Vater der Tochter in den Augen ihrer Familie nicht würdig. Danach gefragt, wie sie zu dem Thema der Beschneidung stünde, erklärte die Mutter der Klägerin, dass sie diese total ablehne, sie habe die Erfahrung selbst durchgemacht. Ihren Ehemann gehe das Thema nichts an, er habe dazu nichts zu sagen, er bestimme das bei ihrer Tochter nicht. Ihre eigene Mutter erkläre die Beschneidung mit der Tradition, ohne Beschneidung könne eine Frau nicht heiraten. Das sei eine falsche Sitte. […] Die Großmutter der Klägerin vertrete zudem die Auffassung, eine Beschneidung sei Voraussetzung für die Ehefähigkeit einer Frau und entspräche der Tradition. Im Falle der Unterstützung durch die Familie wäre die Klägerin damit der Gefahr der Beschneidung ausgesetzt. […]

Aus den Gründen:
[…] Die Klage ist zulässig und begründet. […] Unter Zugrundelegung der dargestellten Anforderungen droht der unbeschnittenen Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sowohl in Äthiopien (nachfolgend a)) wie auch in Somalia (nachfolgend b)) Verfolgung i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 4 AsylG in Gestalt der Genitalverstümmelung infolge der Tradition der Beschneidung (FGM), ohne dass insoweit die Möglichkeit des internen Schutzes nach § 3e AsylG eröffnet ist. […]

a) Im vorliegenden Fall droht der Klägerin in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Genitalverstümmelung.
aa) Die Erkenntnislage stellt sich hinsichtlich der Beschneidung in Äthiopien, insbesondere in der Region Somali, wie folgt dar:

Die weibliche Genitalverstümmelung ist in Äthiopien seit 2005 strafbar und wird mit Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bestraft. Die Regierung sowie äthiopische und internationale Organisationen führen Kampagnen zur Abschaffung der Genitalverstümmelung durch.
Die äthiopische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, schädliche traditionell oder kulturell bedingte Praktiken, wie etwa die Genitalverstümmelung bei Frauen oder Kinder- und Zwangsehen bis zum Jahre 2025 endgültig abzuschaffen (AA, Ad-hoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, vom 18.01.2022, Stand Dezember 2021, Seite 16).
Zur Verbreitungsrate der Genitalverstümmelung gibt es unterschiedliche Angaben. Nach dem aktuellen Bericht des Auswärtigen Amtes habe sich die Zahl der Neuverstümmelungen inzwischen auf zwischen 25 und 40 % der Mädchen verringert, sei aber nach wie vor mit großen regionalen Unterschieden weit verbreitet (AA, Ad-hoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, vom 18.01.2022, Stand Dezember 2021, Seite 16).

Laut dem Länderreport des BAMF beläuft sich die Prävalenzrate der weiblichen Genitalverstümmelung in ganz Äthiopien auf 65 % und sei seit zwei Jahrzehnten rückläufig (BAMF, Länderreport 51 Äthiopien, FGM, Stand 04/2022, Seite 6).

Das Ausmaß des Rückgangs in der Zahl beschnittener Mädchen und Frauen ist regional unterschiedlich. Laut UNICEF verzeichnen die Region Oromia und die Hauptstadt Addis Ababa den stärksten prozentuellen Rückgang, während es in den Regionen Afar, Solali, Southern Nations, Nationalities and Peoples` Region (SNNPR) und Gambela kaum Veränderungen gegeben habe (ACCORD, Anfragenbeantwortung vom 30.03.2020, Seite 2). Neben dem Alter lassen sich auch in den verschiedenen Regionen Unterschiede hinsichtlich der Verbreitung von FGM ausmachen.

Zum Zeitpunkt der letzten Erhebung im Jahr 2016 weisen die östlichen Regionen Afar und Somali ein besonders hohes Vorkommen mit 91,2 % respektive 98,5 % auf.
Im an diese Regionen angrenzenden Staat Somalia herrscht eine extrem hohe Verbreitungsrate von 99,2 %. Richtung Osten und Westen Äthiopiens nimmt die Verbreitung mit 24,2 % in Tigray (Nordäthiopien) und 33 % in Gambela (Westäthiopien) stark ab. Mit Hinblick auf die ethnische Zugehörigkeit lassen sich ebenfalls Unterschiede ausmachen. Von allen weiblichen Befragten im Jahr 2016 gaben 55 an, der Ethnie der Afar anzugehören, wovon 98,4 % mitteilten, einer FGM unterzogen worden zu sein. Ähnlich hohe Prozentsätze lassen sich bei den Somali (98,5 % bei 220 Befragten) feststellen (BAMF, Länderreport 51 Äthiopien, FGM, Stand 04/2022, Seite 9). Die hohe Verbreitungsrate an durchgeführten Beschneidungen in der Region Somali bzw. innerhalb der Ethnie der Somali wird auch durch andere Erkenntnismittel bestätigt (vgl. EUAA, Female Genital Mutilation/Cutting in Ethiopia, May 2022, Seite 37; ACCORD, Anfragenbeantwortung vom 30.03.2020, Seite 2; UK Home Office, Country Policy and Information Note Ethiopia: Background Information, September 2020, Seite 38).

Eine weitere Studie, die sich mit der Verbreitung von FGM in der Fafan-Zone in Somali auseinandersetzt, beobachtet zwar insbesondere in urbanen Gebieten leichte Veränderungen der durchgeführten FGM-Typen hin zu weniger schweren Formen. Auch wächst das Bewusstsein gegenüber gesundheitlichen Risiken.
Dennoch wird die Praxis weiterhin angewendet. Auch der Infibulation wird nach wie vor ein hoher Stellenwert zugeschrieben und weibliche Gemeindemitglieder sind einem hohen sozialen Druck ausgesetzt. Sie müssen bei der Verweigerung einer FGM soziale Isolation und den Ausschluss von religiösen Aktivitäten befürchten (BAMF, Länderreport 51 Äthiopien, FGM, Stand 04/2022, Seite 12).

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Rate der Beschneidung in der Region Somali weiterhin extrem hoch ist und dort kaum ein Wandel hin zur Abkehr von der Tradition der Beschneidung wahrzunehmen ist.

bb) Die Eltern der Klägerin haben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass sie sich im vorliegenden Einzelfall diesem gesellschaftlichen Druck beugen müssten und auch unter persönlicher Ablehnung der Durchführung einer Beschneidung gezwungen wären, die Klägerin beschneiden zu lassen bzw. dies nicht verhindern könnten. So hat die Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass jeder beschnitten sei und auch für sie die Beschneidung etwas Normales gewesen sei, als sie noch in Äthiopien gelebt habe.
Erst in Deutschland habe sie gemerkt, wie schädlich eine Beschneidung sei. Sie hat außerdem erklärt, dass ihre Tochter auch gegen ihren Willen und in Abwesenheit beschnitten werden würde, weil es die Ehre des Clans beschmutzen würde, wenn ihre Tochter nicht beschnitten sei. Der Vater der Klägerin, der getrennt von ihrer Mutter befragt worden ist, hat im Wesentlichen dieselben Gründe vorgetragen. […]

Der Vortrag der Eltern, dass jeder beschnitten sei und eine Beschneidung als normal angesehen würde, bestätigt sich in der oben dargestellten Erkenntnislage.
In der Region Somali liegt die Verbreitung der Beschneidung bei knapp 100 %, ein Rückgang oder ein Wandel in der Einstellung ist im Gegensatz zu anderen Regionen Äthiopiens kaum erkennbar. Damit ist es nachvollziehbar, dass die Beschneidung der Klägerin von der Familie bzw. dem Clan erwartet und gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt wird.
Im vorliegenden Fall ist es außerdem nachvollziehbar, dass sich die Eltern im Falle der Rückkehr nach Äthiopien in einer besonderen Drucksituation befinden, der sie sich nicht entziehen können.
Die Klägerin und ihrer Familie gehören zur Volksgruppe der Somali bzw. sind Somalier. In dieser ethnischen Gruppe hat die Unterstützung durch das Clanwesen bzw. durch die somalische Community und Familie eine besondere Bedeutung. Der soziale Kontext ist für ethnische Somalis sehr wichtig (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Äthiopien vom 22.12.2020 (a-11426-v2), Seite 1). Ethnische Somalis sind bereits aufgrund ihrer Sprache und der fehlenden kulturellen Überschneidung in Äthiopien von anderen ethnischen Gruppen isoliert und können sich langfristig nur in Gebieten aufhalten, die somalisch geprägt sind (vgl. ACCORD, a.a.O., Seite 2).
Dieser Clan oder die somalische Community stellt das soziale Netzwerk dar und leistet Unterstützung (vgl. ACCORD, a.a.O., Seite 6).

Unter Berücksichtigung dessen ist es nachvollziehbar, dass die Eltern der Klägerin faktisch zu einer Beschneidung ihrer Tochter gezwungen wären, wenn dieser eine Beschneidung der Klägerin erwartet und sie im Falle der Nichtdurchführung nicht mehr von den Vorteilen der Zugehörigkeit zu dem Clan profitieren könnten.

cc) Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG verwiesen werden. Die Stadt Addis Abeba wäre hinsichtlich einer drohenden Genitalverstümmelung kein sicherer Landesteil. So wäre es für die Familie der Klägerin grundsätzlich möglich, nach Addis Abeba zurückzukehren. Allerdings finden sich auch hier wieder die oben beschriebenen Clanstrukturen. Denn dort leben ethische Somalis in einem Stadtteil, der „Little Mogadishu“ genannt wird.
Das Clanwesen spielt auch in Addis Abeba eine Rolle in jedem Lebensbereich, etwa bei Geschäftsbeziehungen, beim Heiraten und auch in politischen Dingen (vgl. ACCORD, a.a.O., Seite 2f.).
Eine Rückkehr nach Äthiopien an einen Ort, an dem sich keine Clanstrukturen finden, ist der Klägerin bzw. ihrer Familie nicht zumutbar.
Ob es dem Ausländer zumutbar ist, sich an einem Ort als interne Schutzalternative niederzulassen, bedarf jeweils der Prüfung unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. § 3e Abs. 2 AsylG, Art. 8 Abs. 2 QRL). Zu den zu berücksichtigenden Umständen gehören objektive Gesichtspunkte, darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, und subjektive Umstände, wie etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biographischer Hintergrund, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, die Fähigkeiten, Ausbildung und Berufserfahrung des Ausländers, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen und Netzwerken am Ort des internen Schutzes, die Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprachen sowie ggf. die Volkszugehörigkeit (VGH BaWü, U. v. 29.11.2019 A 11 S 2376/19- juris Rn. 36f.).

In wirtschaftlicher Hinsicht scheidet die Zumutbarkeit grundsätzlich nur und erst dann aus, wenn das zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum auf einfachem Niveau nicht mehr erreichbar ist, d.h. wenn die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen am Ort der inländischen Fluchtalternative weder durch eine ihm zumutbare Beschäftigung noch auf sonstige Weise gewährleistet ist (BVerwG, B. v. 13.7.2017 1 VR 3.17 u.a. NVwZ 2017, 1531 Rn. 114 ff.).
Davon ist vorliegend auszugehen.
Selbst wenn anzunehmen wäre, dass der Vater der Klägerin als somalischer und nicht als äthiopischer Staatsangehöriger zusammen mit der Klägerin, ihrer Mutter und den beiden am 06.06.2020 und 07.06.2022 geborenen Brüdern nach Äthiopien zurückkehren würde, ist davon auszugehen, dass das existenzielle Minimum der Familie nicht gewährleistet wäre.
Wenn sich die Familie der Klägerin außerhalb einer somalischen Community aufhalten müsste, um den Zwängen, die mit der Clan-Struktur einhergehen, zu entgehen, dann könnte sie auf kein soziales oder verwandtschaftliches Netzwerk zurückgreifen und würde bei der Sicherung ihres Existenzminimums keine Unterstützung erhalten. Der Vater der Klägerin wird aber alleine nicht in der Lage sein, das Existenzminimum für die fünfköpfige Familie sicherzustellen. Er hat die Schule in Somalia bis zur achten Klasse besucht und von seinem Bruder das Schneiderhandwerk gelernt. In der Bundesrepublik Deutschland hat der Vater der Klägerin zwar ebenso Berufserfahrung gesammelt, die er sich zunutze machen kann. Allerdings wird die Erwerbstätigkeit, die er vor dem Hintergrund seiner Berufsausbildung und der erworbenen Berufserfahrung ausüben kann, nicht genügen, um die fünfköpfige Familie zu ernähren und für sie eine Unterkunft zu finden.
Die Mutter der Klägerin wird außerdem nicht nennenswert zu dem Unterhalt der Familie beitragen können. Sie hat die Schule unregelmäßig über etwa sieben Jahre besucht und keine Berufsausbildung.
In Äthiopien hat sie als Kosmetikerin gearbeitet. Zum einen kann auch sie vor dem Hintergrund ihrer Schul- und Berufsausbildung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, die ausreichen würde, eine fünfköpfige Familie zu ernähren. Zum anderen hat das Ehepaar drei betreuungsbedürfte Kinder, sodass ein Ehepartner mit der Kinderbetreuung gebunden sein und keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können wird.

Wenn die Familie der Klägerin außerhalb einer somalischen Community und außerhalb der familiären Strukturen leben muss, kann sie auch keine Unterstützung bei der Kinderbetreuung oder durch das Zur-Verfügung-Stellen einer Unterkunft erhalten. Dazu kommt noch die bereits dargestellte schwierige soziale Lage ethnischer Somali in Äthiopien, die die Gründung einer neuen Existenz außerhalb der somalischen Community zusätzlich erschwert. Nach alledem ist davon auszugehen, dass das Existenzminimum der Klägerin und ihrer Familie in einem sicheren Landesteil, fernab somalischer Clanstrukturen und verwandtschaftlicher Netzwerke, nicht gewährleistet wäre.

b) Der Klägerin droht in Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Genitalverstümmelung.

In Somalia herrscht, wie bereits dargestellt, eine besonders hohe Beschneidungsrate von 99,2 % (BAMF, Länderreport 51 Äthiopien, FGM, Stand 04/2022, Seite 9). Aufgrund der dort ebenfalls bestehenden Clanstrukturen ist auch in Somalia davon auszugehen, dass die Eltern, auch wenn sie persönlich keine Beschneidung der Klägerin befürworten, dem faktischen Zwang unterliegen würden, die Klägerin beschneiden zu lassen.
[…] Der Klägerin steht in Somalia keine Möglichkeit der innerstaatlichen Schutzalternative offen, § 3e AsylG. Unabhängig von der Frage, ob es für die Klägerin dort überhaupt einen sicheren Landesteil gibt, müsste die Familie der Klägerin in jedem Fall in einen Landesteil zurückkehren, in dem sie losgelöst von dem Clansystem leben könnte.
Dann wäre aber, ohne jegliches unterstützendes Netzwerk, das Existenzminimum der Klägerin und ihrer Familie nicht sichergestellt. Dies hat bereits das Bundesamt in dem streitgegenständlichen Bescheid vom 23.09.2019 festgestellt und deshalb ein Abschiebungsverbot im Hinblick auf Somalia festgestellt. […]
Nach alledem ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und der Klage stattzugeben. […]