STREIT 3/2018

S. 130-138

Endlich Staatsbürgerinnen! – 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland

Es war am 12. November 1918, als im Zuge der deutschen Novemberrevolution, die das Ende des Kaiserreiches einleitete, die provisorische deutsche Regierung in Form des Rates der Volksbeauftragten in einer Erklärung „An das deutsche Volk!“ verkündete, dass zukünftig „alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften (…) nach dem gleichen, geheimen, direkten Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen“ sind.1 Mit diesen knappen Sätzen hatte das Männergremium des Rates der Volksbeauftragten2 eine große Wahlrechtsreform auf den Weg gebracht, die im Reichswahlgesetz vom 30. November 1918 noch einmal festgeschrieben wurde. Sie beinhaltete nicht nur die Senkung des Wahlalters von 25 auf 20 Jahre und die Verankerung des Verhältniswahlrechts, sondern führte eben auch – wie es auf den ersten Blick fälschlicherweise scheinen könnte – ‚einfach so‘ das Frauenwahlrecht ein.
Damit hatten die Frauen in Deutschland endlich, fünfzig Jahre später als die Männer, ein gleiches Staatsbürgerrecht erlangt, und erst damit war das Wahlrecht, das für Männer auf Reichsebene 1869 eingeführt worden war, ein wirklich ‚allgemeines’ Wahlrecht geworden. Für die Frauen stellte die Proklamation ihres Wahlrechts „eine übergangslose Erhebung aus gänzlicher politischer Rechtlosigkeit zu voller staatsbürgerlicher Freiheit“ dar, wie Marie Stritt, eine führende Frauenrechtlerin der Zeit, mit gutem Grund feststellte.3 Denn zuvor waren sie politisch völlig unmündig gewesen, Jahrhunderte lang waren es ausschließlich Männer, die das politische Zusammenleben einseitig aus ihrer männlichen Sicht prägten und gestalteten; Frauen als Geschlechtsgruppe waren von einer politischen Partizipation weitgehend ausgeschlossen. Denn sie hatten nicht nur kein Wahlrecht, sondern in einigen Bundesländern des Wilhelminischen Kaiserreiches waren bis 1908 Vereinsgesetze in Kraft, die Frauen ausdrücklich untersagten, sich politisch zu betätigen. War eine Frau Mitglied in einem Verein, der politische Themen behandelte, konnte dieser Verein verboten werden. Das bedeutete aber auch, dass Frauen nicht Mitglied in einer politischen Partei werden konnten – was den Ausschluss von Frauen aus der Politik noch einmal beförderte, denn sie konnten noch nicht einmal als Parteimitglieder Einfluss auf die Parteiprogramme nehmen.
Die staatsbürgerliche Gleichberechtigung stellte deshalb den bis dahin größten politischen Erfolg für die Frauen dar, der nicht nur von Frauenrechtlerinnen wie Marie Stritt als „eine Weltenwende für die deutschen Frauen“ und ein „Erlebnis von überwältigender Wucht und Größe” bejubelt wurde.4 Gleichzeitig war die Proklamation des Frauenwahlrechtes aber auch nichts anderes als die Beseitigung eines Skandals: Schließlich gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eine mehr als hundertjährige Geschichte bürgerlicher Gesellschaften in Europa, die Staatsbürgerrechte aber, die mit den ersten Repräsentativverfassungen und Grundrechtsgewährleistungen im frühen 19. Jahrhundert entstanden, galten nur für Männer. Frauen – und damit mehr als die Hälfte der Bevölkerung – entbehrten dagegen alle fundamentalen Rechte – und dies, obwohl das Frauenwahlrecht ein Menschenrecht ist und die unabdingbare Verwirklichung und Voraussetzung demokratischer Verhältnisse.

Einführung des Frauenwahlrechts im internationalen Vergleich
Deutschland gehörte weltweit zu den ersten Ländern, die das Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene eingeführt haben; im Unterschied zu Deutschland wurde dies allerdings in einer Reihe der anderen Länder zunächst nur in eingeschränkter Form getan.5 Dort wo das Stimmrecht für Frauen mit als erstes verwirklicht wurde, stand dies in Zusammenhang mit der Stärkung des nationalen Selbstbestimmungsrechts und den großen Umbrüchen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.
Die historische Vorreiterrolle nahm Neuseeland ein, das bereits 1893 den Frauen das aktive Wahlrecht zugestand, das passive allerdings erst 1919. In Australien durften ab 1908 Frauen wählen und gewählt werden – allerdings nur die weißen.6 Im Jahr 1906 führte Finnland nicht nur als erstes europäisches Land das Frauenwahlrecht ein, sondern tat dies auch als weltweit erstes in uneingeschränkter Form. 1907 räumte dagegen Norwegen den Frauen lediglich ein Wahlrecht nach Besitzzensus ein, d.h. es wurde 300.000 Frauen aus den oberen und mittleren Gesellschaftsschichten das Recht, zu wählen und zu kandidieren zugesprochen; 1913 wurde dann das volle Frauenwahlrecht in die Verfassung aufgenommen. Diesem Beispiel folgte Dänemark 1915, während Island ab diesem Jahr nur Frauen über 40 Jahren das Wahlrecht zugestand, alle anderen mussten noch bis 1920 warten. 1917 wurde in den Niederlanden das passive Frauenwahlrecht eingeführt, erst zwei Jahre später auch das aktive. In Russland erhielten die Frauen dagegen 1917, nach der Februarrevolution, das uneingeschränkte Wahlrecht, ebenso in Estland.
Am Ende des Ersten Weltkrieges 1918 proklamierten neben Deutschland auch Lettland, Luxemburg, Österreich und Polen das Frauenwahlrecht. In Groß Britannien und Irland durften ab 1918 lediglich Ehefrauen, weibliche householders und Universitätsabsolventinnen über 30 Jahre wählen und gewählt werden, erst ab 1928 dann alle britischen Frauen über 21. In den nächsten Jahren erhielten auch die Frauen in der Tschechoslowakei, der Ukraine und in Weißrussland (1919), in Schweden und Litauen (1921), der Republik Irland (1922), in Spanien (1931) und der Türkei (1934) ihre vollen Staatsbürgerinnenrechte. Ein eingeschränktes Frauenwahlrecht gab es in Belgien, wo es ab 1919 nur Mütter und Witwen ‚gefallener‘ Soldaten wahrnehmen durften (volles Wahlrecht erst ab 1948), sowie in Portugal, wo ab 1931 nur Frauen mit einer höheren Bildung ihre Staatsbürgerinnenrechte wahrnehmen durften und dies erst 1975 auch allen anderen Frauen zugestanden wurde.

In Europa sollte es noch bis 1984 dauern, bis die Frauen endlich überall die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie die Männer hatten. Die Nachzügler-Staaten waren: 1944 Frankreich; 1945 Bulgarien, Jugoslawien, Ungarn; 1946 Albanien, Italien, Rumänien; 1947 Malta; 1948 Belgien; 1952 Griechenland; 1960 Zypern; 1962 Monaco; 1971 Schweiz;7 1973 Andorra; 1975 Portugal und als Schlusslicht schließlich 1984 Liechtenstein, nachdem zuvor in zwei „Volks“abstimmungen (1971 und 1973) der Männer die Einführung noch abgelehnt worden war.
Ende 2007 hatten noch immer 6 der weltweit 194 Staaten kein volles nationales Wahlrecht für Frauen eingerichtet.8 Dies sind Bhutan, Brunei, Katar, Libanon, Saudi Arabien sowie der Staat Vatikanstadt.

Der lange Kampf um das Frauenwahlrecht
Auch wenn die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland durch „die große Flut“ der Novemberrevolution so „betäubend rasch” erfolgte, dass es der bereits erwähnten Frauenrechtlerin Marie Stritt erschien, als habe „die Zeit Siebenmeilenstiefel“ an,9 kann es nicht nur als Ereignis im November 1918 verstanden werden. Dieses Datum stellt lediglich eine Etappe auf dem Weg zur Demokratie in Deutschland dar. Das Frauenwahlrecht ist den Frauen keineswegs vom Himmel geradewegs in den Schoß gefallen als Geschenk von revolutionären sozialdemokratischen Männern, sondern seine Geschichte muss als Prozess begriffen werden, der mehr als hundert Jahre zuvor begann und in dem lange und heftig um dieses Recht gekämpft wurde. Und dieser Kampf soll im Folgenden skizziert werden.
Um ein Recht einfordern zu können, muss frau erst einmal verstehen, dass sie überhaupt auch ein Recht hat und diese Idee findet sich – getragen von einer größeren Gruppe der Bevölkerung – vor allem in der Französischen Revolution.
„Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ hieß es hier, von „Schwesterlichkeit“ war allerdings nicht die Rede und obwohl auch Frauen die Revolution massiv unterstützten, wurden sie von den männlichen Revolutionären nicht als politisch gleichberechtigt wahrgenommen. Deshalb veröffentlichte die für ihre selbstbewussten Forderungen bekannte Revolutionärin und Schriftstellerin Olympe de Gouges am 14. September 1791 die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“,10 die in ihrem Aufbau die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ imitierte, die bereits 1789 verabschiedet worden waren. Darin forderte sie die Gleichheit der Geschlechter bei der Gesetzgebung und eine Mitwirkung der Frauen im Parlament. Olympe de Gouges überlebte ihre Schrift gerade einmal um knapp zwei Jahre. 1793 wurde sie auf der Guillotine hingerichtet und danach für fast 150 Jahre vergessen.
Durchsetzen konnten sich diese ersten grundlegenden Gleichberechtigungsforderungen im frühen 19. Jahrhundert zwar nicht, aber die Idee einer politischen und auch gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Geschlechter war in der Welt und konnte in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr vollständig unterdrückt werden.
In Deutschland waren Forderungen nach einer gleichberechtigten Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben dann in der ersten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts laut geworden, und zwar im Umfeld der sogenannten deutschen Revolution von 1848, der liberalen, bürgerlich-demokratischen und nationalen Einheits- und Unabhängigkeitserhebung, die ein einheitliches Deutsches Reich anstrebte. In der verfassungsgebenden Nationalversammlung, die in der Paulskirche der damals freien Stadt Frankfurt am Main stattfand, waren Frauen lediglich als Zuhörerinnen auf der sogenannten ‚Damengalerie‘ zugelassen. Aus Empörung veranstalteten Frauen nicht nur immer wieder eine ‚Katzenmusik‘ mit Trillerpfeifen, Topfdeckeln und dergleichen vor der Paulskirche, sondern forderten neben dem Recht auf Bildung und Berufstätigkeit auch die Möglichkeit zu einer aktiven Teilnahme am öffentlichen Leben. Dies manifestierte sich auch in der von Louise Otto (später Otto-Peters) von 1849 bis 1952 herausgegebenen Frauen-Zeitung, in der sie für die Frauen u.a. „das Recht der Mündigkeit und Selbständigkeit im Staat“ einklagte.11 Doch auch diese Rufe verhallten letztendlich unerhört. Die Revolution wurde niedergeschlagen.
Den dünnen Faden der Frauenstimmrechtsforderungen nahmen dann in den nächsten Jahrzehnten einzelne kühne Vorreiterinnen wieder auf. So in den 1870er Jahren die Schriftstellerin Hedwig Dohm, eine der wortgewaltigsten und scharfzüngigsten Denkerinnen ihrer Zeit. In ihrem Werk „Der Frauen Natur und Recht“ aus dem Jahr 1876 setzte sie ein Fanal für das Wahlrecht. Darin äußerte sie die Befürchtung: „Man wird uns auf das Frauenwahlrecht warten lassen bis zum jüngsten Tag und sich inzwischen auf das Gottesgericht berufen, welches die Frau durch den Mangel eines Bartes als unpolitisches Wesen gekennzeichnet hat.“ Deshalb forderte sie die Frauen zum Handeln auf: „Will die deutsche Frau, das immermüde Dornröschen, ewig schlafen? (…) Erwachet, Deutschlands Frauen, wenn Ihr Grimm genug habt, Eure Erniedrigung zu fühlen und Verstand genug, um die Quellen Eures Elends zu erkennen. Fordert das Stimmrecht, denn über das Stimmrecht geht der Weg zur Selbständigkeit und Ebenbürtigkeit, zur Freiheit und zum Glück der Frau. Ohne politische Rechte seid Ihr, Eure Seelen mögen von Mitleid, Güte und Edelsinn überfließen, den ungeheuersten Verbrechen gegenüber, die an Eurem Geschlecht begangen werden, machtlos.“12
Spätestens mit diesen Äußerungen der großen Schriftstellerin Hedwig Dohm war das Thema Frauenstimmrecht weiter in die Öffentlichkeit vorgedrungen, allerdings – und das ist wichtig zu bedenken – fehlte es in Deutschland immer noch an einer Möglichkeit, gemeinsam und organisiert für das Wahlrecht zu kämpfen. Und hier betritt nun die organisierte Frauenbewegung die Bühne der Geschichte.

Ihr Beginn lag in Deutschland im Jahr 1865 und ihre Keimzelle war die Gründung des ersten reichsweit agierenden Frauenvereins, des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF), der von Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt in Leipzig gegründet wurde. Ihm folgten schnell hunderte weitere Frauenvereinsgründungen nach. Im Zentrum des Interesses dieser ersten Frauenvereine stand zunächst die bürgerliche (Frauen-)Bildung, denn in der mangelnden Ausbildung von Frauen wurde zu Recht eines der größten Probleme der Frauenemanzipation, aber auch des gesamten Frauenlebens erkannt. Der Zugang zu einer eigenständigen Berufsmöglichkeit für Frauen aus dem Bürgertum stand deshalb am Beginn der bürgerlichen Frauenbewegung. In den nächsten Jahrzehnten wuchs sie rasant und wie in jeder anderen sozialen Bewegung auch entwickelten sich bald verschiedene Flügel, nämlich ein gemäßigter und ein radikaler, die sich durchaus widersprechende Ansätze verfolgten.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte die bürgerliche Frauenbewegung dann vier große Arbeitsfelder entwickelt: Neben den Forderungen nach einer verbesserten Mädchen- und Frauenbildung inklusive der Öffnung der Universitäten und einer eigenständigen Erwerbs- und Hausarbeit, stand die Frage nach einer neuen Sittlichkeit im Raum, worunter der Kampf gegen die Reglementierung der Prostitution verstanden wurde, und schließlich wurde auch der Ruf nach einer eigenständigen politischen Partizipation, sprich dem Wahlrecht, immer lauter.
Ab Mitte der 1890er Jahre verfassten einige der damaligen Protagonistinnen beider Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung wichtige Schriften für ein Frauenstimmrecht. So sprach sich 1896 Helene Lange, eine der damals so genannten ‚Führerinnen‘ der Frauenbewegung und Vertreterin des gemäßigten Flügels, die sich ansonsten vor allem für eine Mädchenschulreform stark engagierte, für das Frauenwahlrecht aus. Sie wandte sich explizit gegen die immer noch aufrechterhaltene „Fiktion, (…) daß die Männer zugleich die Interessen der Frauen wahren.“13 Stattdessen kann – so Lange – nur „die Frau der Frau“ helfen, denn „so wenig ein Stand für den anderen, so wenig auch ein Geschlecht für das andere eintreten kann“. Daraus folgt für sie: „Erst durch das Frauenstimmrecht wird das allgemeine Stimmrecht zu etwas mehr als eine reine Redensart.“14 Für eine baldige Verwirklichung ihrer Forderung sah sie allerdings wenig Chancen, denn die öffentliche Meinung stehe noch nicht auf Seiten des Frauenstimmrechtes.
Auch eine andere wichtige Protagonistin der Frauenbewegung, Minna Cauer, die den radikalen Flügel repräsentierte und ansonsten wenig einig war mit den Vorstellungen von Helene Lange, formulierte 1899 eine ähnliche Einschätzung. Sie schrieb: „Die deutschen Frauen wollen als Staatsangehörige im deutschen Reiche gelten und alle Pflichten, welche von ihnen gefordert werden, erfüllen. Dazu bedürfen sie der Rechte als Bürgerinnen.“15 Sie setzte auf einen „Kampf um das Recht“ und war sich sicher: „Die Sache erfordert jetzt Zusammenarbeit von Männern und Frauen.“16 Nur dann, wenn die Frauen es schafften, auch die Männer von der Notwendigkeit des Frauenwahlrechtes zu überzeugen, nur dann gäbe es eine realistische Chance auf die Einführung des weiblichen Bürgerrechts – so Minna Cauer.

Aber waren denn die Männer überhaupt schon reif für ein Engagement für das Frauenstimmrecht? Hierauf eine einfache Antwort zu geben verbietet sich, denn es gab – wie heute auch – sowohl Männer, die die Frauenbewegung unterstützten, als auch solche, die sie bekämpften. Unter denjenigen, die sich bereits vor 1900 für das Frauenwahlrecht einsetzten, standen an erster Stelle SPD-Mitglieder.
Die SPD war zu dieser Zeit die erste und lange Zeit einzige Partei, die das Frauenstimmrecht in ihr Wahlprogramm aufnahm. 1891 wurde auf Drängen vor allem von Clara Zetkin als Vertreterin der proletarischen Frauenbewegung im Erfurter Programm das allgemeine, gleiche, direkte Wahl- und Stimmrecht für alle über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts gefordert. 1895 dann stellte August Bebel im Deutschen Reichstag den ersten Antrag auf Einführung des Frauenwahlrechtes – erwartungsgemäß ohne Erfolg.
Um das Frauenstimmrecht zu erreichen, gingen die Sozialistinnen ganz eigene Wege und schufen sich einen jährlichen Propagandatag, den auch wir heute noch kennen, nämlich den Internationalen Frauentag, den wir immer am 8. März begehen. Offiziell ins Leben gerufen wurde der Internationale Frauentag 1910 auf der II. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen. Dort fassten Frauen aus 17 Nationen folgenden Beschluss: „Im Einvernehmen mit den klassenbewussten politischen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats in ihrem Lande veranstalten die sozialistischen Frauen aller Länder jedes Jahr einen Frauentag, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient. Die Forderung muss in ihrem Zusammenhang mit der ganzen Frauenfrage der sozialistischen Auffassung gemäß beleuchtet werden. Der Frauentag muss einen internationalen Charakter tragen und ist sorgfältig vorzubereiten.“17 In Deutschland fand der erste internationale Frauentag 1911 statt und ab 1914 am uns heute bekannten Datum 8. März. Dieser Tag wurde mit großen Demonstrationen begangen und besonders 1914 war die Demonstration in Berlin besonders machtvoll, nicht zuletzt weil die Polizei die Plakatierung des Aufrufs „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“ als „beleidigend für die Obrigkeit“ verboten hatte.18
Innerhalb der SPD gab es allerdings auch viele ablehnende Stimmen gegen die Durchführung des Internationalen Frauentages; sie befürchteten, dass dadurch für die Frauen in der Partei nun „Extrawürste gebraten“ würden. Es zeigte sich immer deutlicher, dass die SPD zwar das Frauenstimmrecht begrüßte, dass aber die eigenen Genossinnen immer auch für diesen Beschluss kämpfen mussten – ein Selbstläufer war auch in der SPD die Forderung nach dem Frauenstimmrecht nicht.

Alle anderen politischen Parteien betrachteten die politische Beteiligung und Gleichberechtigung von Frauen als unvereinbar mit den wahren Interessen echter Weiblichkeit – die selbstverständlich in der Mutterschaft lägen.
Argumentiert wurde auch immer wieder mit einer angeblich „leichten Erregbarkeit“ der Frauen. So ließ 1902 der preußische Innenminister verlauten, er wolle auf keinen Fall, dass die Frauen in der Politik mitredeten, denn deren „leichte Erregsamkeit“ würde das Volk zu sehr irritieren.19
Auch ansonsten gab es in Deutschland viele Gegenstimmen gegen das Frauenwahlrecht und zwar männliche wie auch weibliche. Ab 1900 gab es vermehrt Antifeministen und Antifeministinnen, die sich 1912 sogar in einem Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation zusammenschlossen, um die männliche Dominanz auf allen Ebenen zu sichern. Zum Frauenwahlrecht hieß es aus diesen Kreisen u.a.: „Die politisch völlig ungeschulte Frau (ist) weit eher als der Mann der Gefahr ausgesetzt, sich von Gefühls- und Herzensregungen leiten zu lassen, die in der Politik oft unheilvoll werden können.“20
Von derartigen Gegenstimmen hat sich die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland nicht abhalten lassen und so entstand – nachdem es hier zuvor nur einzelne Stimmen für das Frauenwahlrecht gegeben hatte – nun um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine eigene bürgerliche Frauenstimmrechtsbewegung. Deren relative zeitliche ‚Verspätung’ – sowohl im Vergleich zur SPD als auch international gesehen, wo beispielsweise in England die Suffragetten schon seit Jahrzehnten einen organisierten Kampf für das Frauenwahlrecht geführt hatten – hat ihren Hauptgrund im bereits erwähnten restriktiven preußischen Vereinsrecht, das ja bis 1908 Geltung hatte und Frauen jede politische Beteiligung und erst recht die Gründung eigener politischer Vereine o.Ä. verbot.
Erst nachdem Anita Augspurg, die erste promovierte Juristin Deutschlands und führende Frauenrechtlerin, eine Lücke im Hamburgischen Vereinsgesetz entdeckt hatte, konnte Anfang 1902 ein erster Stimmrechtsverein aus der Taufe gehoben werden: Der Deutsche Verein für Frauenstimmrecht. Daraufhin begann sich schnell eine reichsweite Stimmrechtsbewegung zu organisieren, der es bald sogar gelang, sich an die Spitze der internationalen Stimmrechtsbewegung zu stellen, und 1904 mit der Gründungskonferenz des Weltbundes für Frauenstimmrecht (International Alliance for Women Suffrage, IAW) in Berlin ein glanzvolles und Aufsehen erregendes Ereignis zu feiern.
Nicht zuletzt dieser neugewonnenen Stärke der Frauenstimmrechtsbewegung war es zu verdanken, dass 1907 auch der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), die 1894 gegründete große Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung, seine bis dahin zögerliche Haltung aufgab und nicht mehr umhin konnte, das Frauenstimmrecht in seinen Forderungskatalog aufzunehmen.

Hier deutet sich an, dass die Frauenbewegung in der Frage des Frauenstimmrechtes und seiner Erreichung gespalten war. Zwischen der bürgerlich gemäßigten Mehrheit, vertreten im BDF, und dem so genannten radikalen oder linken Flügel, den radikal-liberalen Stimmrechtlerinnen, vertreten vor allem im Verein Frauenwohl, wurde die Kontroverse ausgetragen, ob das Frauenstimmrecht als krönender Abschluss oder aber als Ausgangspunkt demokratischer Verhältnisse zu gelten habe. Für die einen, die Radikalen, war das Stimmrecht nicht nur eine Forderung der Gerechtigkeit, sondern die Voraussetzung der Rechtsgleichheit von Frauen in allen Lebensbereichen, in der Familie, im Beruf und im öffentlichen Leben. Für sie war das Stimmrecht darum nicht erst das „Endziel“, die „Krone“ der Frauenbestrebungen, sondern ganz im Gegenteil, das „Fundament“, vom dem aus die Gleichstellung der Frauen im öffentlichen und privaten Leben herzustellen war. Dagegen meinten die Gemäßigten, „erst durch Leistung und Verhalten die Beweise beibringen (zu müssen), dass die Frau zur Übernahme dieser Pflicht und dieses Rechts geeignet“ sei.21
Eine weitere grundsätzliche Kontroverse innerhalb der Frauenbewegung bezog sich auf die Frage, welcher Art das Wahlrecht sein sollte, das Frauen einklagten. Sollte es um das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht gehen, das damals jedoch (abgesehen von den Reichstagswahlen) in vielen Ländern, insbesondere in Preußen, nicht einmal die Männer besaßen? Oder sollten die Frauen nur ein Nachholen oder die Anpassung an Männerrechte fordern, d.h. auch ein Klassenwahlrecht und damit ein „beschränktes Damenwahlrecht”22 akzeptieren, wie die Sozialistin Clara Zetkin spottete? Weil das demokratische Wahlrecht von Vielen als zu weitgehend und politisch einseitig orientierte Parteiforderung – nämlich der SPD – verstanden wurde, kam es zu einer organisatorischen Spaltung der Frauenstimmrechtsbewegung und es gründeten sich noch mehrere unterschiedliche Frauenstimmrechtsvereine.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges gab dann es insgesamt drei konkurrierende Stimmrechtsorganisationen innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung. Eine Protagonistin (Minna Cauer) fasste diese Entwicklung im Februar 1914 mit den Worten zusammen: „Es ist nunmehr genügend Auswahl vorhanden, so daß jeder sein Feld sich aussuchen kann; das konservative, das gemäßigte und das demokratische. Rechnen müssen die Frauen also jetzt mit diesen drei Richtungen der bürgerlichen Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland.“23
Verschiedene Versuche, die Stimmrechtsbewegung zu einen, scheiterten. Erst nachdem der Kaiser in seiner „Osterbotschaft“ 1917 im preußischen Abgeordnetenhaus eine Wahlrechtsreform nach Ende des Kriegs in Aussicht stellte, in der das preußische Dreiklassenwahlrecht durch die Einführung direkter und geheimer Wahlen ersetzt werden sollte, änderte sich dies. Denn zum Frauenwahlrecht schwieg der Kaiser, was die seit Jahrzehnten aktiven Frauen wie eine Ohrfeige erlebt haben müssen.

Im Dezember 1917 dann fand die in sich zerstrittene Stimmrechtsbewegung zu einem gemeinsamen Vorgehen zurück und einigte sich sogar mit dem überwiegenden Teil der proletarischen Frauenbewegung, zu der es bis dahin eine „reinliche Scheidung“24 (Clara Zetkin) gegeben hatte, auf ein gemeinsames Vorgehen. Dabei entwickelten sich neue, bisher kaum vorstellbare Koalitionen, die in einem breiten Frauenbündnis für das Stimmrecht mündeten, das die umfassendste klassenübergreifende Allianz von Frauen aus den verschiedenen politischen Lagern darstellte, die es bis dahin je gegeben hatte; lediglich Frauenorganisationen einiger konservativ-rechter Kreise sowie der USPD, die einer Zusammenarbeit mit bürgerlichen Frauen grundsätzlich kritisch gegenüberstand, fehlten. Von den Beteiligten wurde diese Allianz als Ereignis „von Bedeutung und eine ganz neue Erscheinung in der politischen Frauenbewegung”25 gefeiert.
In einer denkwürdigen „Erklärung zur Wahlrechtsfrage“, die an den Deutschen Reichstag und an alle Länderparlamente gerichtet war, wurde dargelegt, wie viele Pflichten die Frauen während des Krieges klaglos erfüllt hatten, dass ihnen jedoch noch immer die vollen Rechte zur Mitarbeit in der Öffentlichkeit fehlten. Weiter hieß es: „Gegen diese Rechtlosigkeit legen die Frauen kraft ihrer Arbeit für die Allgemeinheit wie Kraft ihrer Würde als vollwertige Menschen Protest ein. Sie fordern politische Gleichberechtigung mit dem Manne: Allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht für alle gesetzgebenden Körperschaften, volle Gleichberechtigung in den Kommunen und den gesetzlichen Interessenvertretungen.“ Und abschließend hieß es: „Dieser ersten gemeinsamen Willenskundgebung der Frauen werden so lange weitere folgen, bis der Sieg unserer Sache errungen ist.“26
Die Frauen machten ihre Drohung wahr – beispielsweise im November 1918 mit großen Frauenversammlungen in mehreren Städten, mit Briefaktionen und vielen Gesprächen – blieben aber vorläufig erfolglos. In den bürgerlichen Kreisen, die am Ende des Ersten Weltkrieges nach einem Ausweg aus der innenpolitischen Krise suchten, war der Gedanke des Frauenstimmrechts nicht populär. Dies war jedoch bei den Arbeiter- und Soldatenräten anders, die sich im November 1918 anschickten, die Macht zu übernehmen. Für sie gehörte die Forderung nach Wahlrechtsreform und Frauenstimmrecht genauso zu den Parolen der Revolution wie die Vergesellschaftung an Produktionsmitteln, weshalb sie dann auch sofort das Frauenwahlrecht proklamierten. Damit war das heiß umkämpfte Frauenwahlrecht in Deutschland Realität geworden. Marie Stritt bezeichnete dies mit gutem Grund als „Entscheidung von unermesslicher Bedeutung und Tragweite.”27

Die ersten Wahlen 1919
Nur gut 2½ Monate nach der Verkündung des Frauenwahlrechts fand dann bereits die Wahl zur Nationalversammlung der Weimarer Republik statt. Deshalb begann die Frauenbewegung sofort mit einer intensiven politischen Aufklärungsarbeit und staatsbürgerlicher Frauenbildungsarbeit, um die Frauen mit ihrem neuen Recht vertraut zu machen, sie für die Wahlen zu schulen und sie auf die aus dem Wahlrecht auch erwachsende Verpflichtung und Verantwortung hinzuweisen. Zur Information und Vorbereitung der Frauen wurden Flugblätter verteilt, politische Schulungen durchgeführt, Aufrufe in Tageszeitungen veröffentlicht und Frauenversammlungen organisiert.
Gleichzeitig forderte die Frauenbewegung die Frauen, nun da sie die vollen staatsbürgerlichen Rechte besaßen, auch auf, verstärkt in die Parteien einzutreten, in ihnen aktiv für die Sache der Frauen zu wirken, sich um politische Mandate zu bewerben und mit Hilfe von Parteifrauengruppen für eine adäquate Platzierung von Kandidatinnen zu sorgen.28 Fast alle führenden Persönlichkeiten der Frauenbewegung gingen dabei mit gutem Beispiel voran, viele schlossen sich der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) an, die im November 1918 als ein ‚Kind der Revolution‘ entstand und sich zum parteipolitischen Sammelplatz der Frauen aus der Frauenbewegung entwickelte. Mit diesem Schritt wandelten sich viele „von der Frauenstimmrechtlerin zur Parteipolitikerin”29 – wie es Marie Stritt ausdrückte.

Und auch die Parteien selbst warben massiv um die Stimmen der Frauen als Neuwählerinnen. Denn zur Wahl der Nationalversammlung aufgerufen waren 17,7 Millionen Frauen, aber nur 15 Millionen Männer. Damit hatte sich also die Struktur der Wahlbevölkerung völlig verändert, und mit diesem auffälligen Ungleichverhältnis der Geschlechter wird bereits bei dieser ersten Wahl ein entscheidendes demographisches Phänomen deutlich, das sich bis heute durchzieht: Frauen stellen die Mehrheit der Bevölkerung.30 Damit hatten und haben die Stimmen der Frauen als Wählerinnen einen entscheidenden Einfluss auf den jeweiligen Ausgang der Wahlen, bisweilen fiel ihnen sogar die Rolle des Züngleins an der Waage zu.
Deshalb konnte (und kann) es sich keine Partei leisten, die Bedeutung der Frauen als Wählerinnen zu ignorieren. Bei der Wahl zur Nationalversammlung warben denn auch die Parteien aller politischen Couleur – auch diejenigen, die zuvor Gegner des Frauenwahlrechts gewesen waren – um die Gunst der Wählerinnen. Von der, wie Marie Stritt befand, „... diesmal bedenklich ‚amerikanisch’ anmutenden Wahlpropaganda, die in Gestalt von unzähligen Flugblättern, Stimmzetteln, Aufrufen, mehr oder weniger kühnen Bildplakaten usw. die Straßen bedeck(t)en“31 richteten sich etwa 10-25% ausschließlich an die Wählerinnen. Dabei wurden die Frauen fast immer zuerst als Geschlecht angesprochen, kaum als Angehörige einer sozialen Schicht oder einer Berufsgruppe.
Es dominierte das klassische weibliche Rollenbild der treusorgenden Mutter, das sowohl von linken Parteien wie der SPD als auch von rechten Parteien wie der Christlichen Volkspartei und der Deutsch-nationalen Volkspartei aufgegriffen wurde.32 Es gab auch Wahlplakate, die die Frauen primär als Staatsbürgerinnen apostrophierten. Dies tat vor allem die DDP, der ja viele Mitglieder der bürgerlichen Frauenbewegung beigetreten waren; sie stilisierte sich als ‚Partei der Frauen‘ und sprach Frauen nicht nur als Geschlechtswesen, sondern auch als Hausfrauen und Erwerbstätige an. Wahlplakate mit Gleichberechtigungsforderungen gab es nur vereinzelt, so z.B. von der SPD.

Bei der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung am 19. Januar 1919 machten die Frauen regen Gebrauch von ihrem neu erhaltenen Wahlrecht. Ergriffen berichtete Marie Stritt von all den „Wählerinnen, die da in Scharen herbeiströmten und von früher Morgenstunde an ganze Straßenzüge entlang vor den Wahllokalen ‚Polonaise‘ standen.“ 33 Ihre Wahlbeteiligung lag bei etwas mehr als 82% – und damit genauso hoch wie diejenige der Männer.34 Die Frauen haben also den politischen Einfluss auch wirklich genutzt, den sie als Bevölkerungsmehrheit hatten. Erst bei der Bundestagswahl des Jahres 2005 war die Wahlbeteiligung der Geschlechter wieder genauso paritätisch – mit jeweils fast 80%.

Hoffnungen oder auch Befürchtungen bezüglich einer radikalen Veränderung der politischen Landschaft durch wählende Frauen haben sich nicht bestätigt. Bei der Wahl zur Nationalversammlung und auch in der gesamten Weimarer Republik richteten die Frauen ihr Stimmverhalten nicht etwa danach, ob die betreffende Partei frauenpolitische oder frauenspezifische Interessen vertrat. Der SPD hat ihr jahrzehntelanger Einsatz für das Frauenwahlrecht keineswegs Vorteile gebracht, im Gegenteil. Die Wählerinnen bevorzugten die christlichen und konservativen Parteien, wobei die christliche Bindung als die entscheidende angesehen werden kann. Nutznießer dieses Abstimmungsverhaltens waren deshalb insbesondere das christlich orientierte Zentrum, aber auch die konservativ eingestellten Rechtsparteien. Nach links übten die Frauen in zunehmendem Maße Zurückhaltung. Der SPD, die allerdings 1928 und 1930 bereits die Hälfte ihrer Stimmen den Frauen verdankte, sollen die Frauen anfangs im Wesentlichen ihre antikirchliche Propaganda verübelt haben.
Entschieden abgelehnt wurden von den Frauen die radikalen Parteien sowohl des linken als auch des rechten Lagers. Die KPD und später auch die NSDAP werden deshalb in der Literatur als ausgesprochene Männerparteien bezeichnet. Der KPD hatten bis zu 20% mehr Männer als Frauen ihre Stimme gegeben und dies, obwohl sie entschieden für die Gleichberechtigung der Frauen eintrat und zum Ende der zwanziger Jahre den höchsten Prozentsatz weiblicher Parlamentarier aufwies, nämlich 17,1%.
Auch die NSDAP wurde von wesentlich weniger Frauen als Männern gewählt. Von der immer wieder behaupteten Bevorzugung der NSDAP durch die Frauen kann keine Rede sein. Frauen haben Hitler nicht an die Macht gebracht – diesem Mythos ist vehement zu widersprechen – sie haben ihn aber auch nicht entschieden genug verhindert.

In die Weimarer Nationalversammlung zogen 421 Abgeordnete ein, darunter 37 Frauen, d.h. sie setzte sich zu 91,4% aus männlichen und nur zu 8,7% aus weiblichen Abgeordneten zusammen. Auch wenn Deutschland damit zu dieser Zeit einmalig in der Welt dastand – in keinem Nationalparlament eines anderen Staates gab es einen höheren Frauenanteil – und auch wenn eine so hohe parlamentarische Frauenvertretung erst 64 Jahre später (also 1983!) in der Bundesrepublik Deutschland wieder erreicht werden sollte, so kann die Repräsentanz der Frauen in der Nationalversammlung angesichts der weiblichen Majorität von 53% der Wahlberechtigten nicht anders als kläglich bezeichnet werden.

Generell wurden die Frauen auf den Wahllisten der Parteien meist auf hinteren Listenplätzen aufgestellt. So konnten 1919 von 308 Kandidatinnen auf den Wahllisten nur 37 ein Mandat erringen (später gab es noch 4 Nachrückerinnen). D.h. nur jede 8. der kandidierenden Frauen war erfolgreich, während aber jeder 3. kandidierende Mann ein Mandat gewann.
Dies führte zu einer deutlichen Kritik der Frauenbewegung an der Praxis der Kandidat_innenaufstellung. So monierte z.B. Marie Stritt nach den ersten Wahlen, dass „die Frauennamen weiter unten auf den bürgerlichen Listen […] nach dem Größenverhältnis der Parteien und den zu erwartenden Wahlergebnissen von vorne herein lediglich als Plakate für die Wählerinnen gedacht“ waren.35 Vorschläge aus der Frauenbewegung, wie derjenige einer Quotenregelung im neuen Wahlgesetz (Minna Cauer), damit genug Frauen auf den Wahllisten vertreten sind, oder wie derjenige, reine Frauenlisten durchzusetzen (Lida Gustava Heymann) oder gar Frauenparteien zu gründen, fanden keine Mehrheit – auch nicht unter den Frauen. Die Frauenbewegung trat aber vor den folgenden Wahlen immer wieder an die Parteien mit der Forderung heran, Frauen an aussichtsreicher Stelle auf die Kandidatenliste zu setzen.
Es gehört zudem zu den Widersinnigkeiten der Geschichte, das es keine der aktiven bürgerlichen Stimmrechtlerinnen geschafft hat, über ein von Männern dominiertes, listengebundenes Verhältniswahlrecht in den Reichstag zu kommen, während dagegen aber eine Reihe von Frauen, die vorher das Frauenwahlrecht abgelehnt hatten, ein Abgeordnetenmandat erhielten.
In der Nationalversammlung wurden die weiblichen Abgeordneten von vielen ihrer männlichen Kollegen nicht gerade freudig aufgenommen. So begannen Einige denn auch ihre Plenarreden immer wieder ostentativ mit der überkommenen und ignoranten Anrede „Mein Herren!“
Erstmals ergriff eine Frau in der 11. Sitzung der Nationalversammlung am 19. Februar 1919 in einem Nationalparlament das Wort: Es war die Sozialdemokratin Marie Juchacz, der diese historische Rolle zufiel. Sie war eine zentrale Persönlichkeit innerhalb der SPD und der proletarischen Frauenbewegung, seit 1917 Mitglied des Parteivorstandes, Frauensekretärin und Leitung des Referats Frauen sowie Schriftleiterin der Monatsschrift „Die Gleichheit“. Diese erste Rede, die jemals von einer Frau in einem deutschen Nationalparlament gehalten wurde, begann sie mit den Worten: „Meine Herren und Damen!“ – und löste mit dieser den tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen entsprechenden Begrüßung laut Protokoll „Heiterkeit“ im Hohen Haus aus. Weiter sagte Juchacz: „Es ist das erste Mal, daß in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, (...) daß wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit; sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“36

Während der Weimarer Republik hat sich die politische Partizipation der Frauen dann allerdings nicht sonderlich positiv weiterentwickelt. Der Wahleifer der Frauen ließ sukzessive nach und ihre Wahlbeteiligung lag jeweils mindestens 10% unter derjenigen der Männer und auch der Anteil der Parlamentarierinnen im Reichstag sank bis 1933 auf nur noch 3%.
Aus diesem Grund befand 1926 die damals sehr bekannte Schauspielerin, Kabarettistin, Chansonette Claire Waldoff publikumswirksam: „Raus mit den Männern aus dem Reichstag!“37 Es wurde jedoch nichts mit diesem Rauswurf der Männer aus dem Reichstag und seiner besungenen Umwandlung in ein ‚Frauenhaus‘ – ganz im Gegenteil sogar: Durch die Machtergreifung der NSDAP, die von jeher die parlamentarische Mitarbeit von Frauen abgelehnt hatte und Frauen nur als einfache Parteimitglieder zuließ, wurde den Frauen bei den Reichstagwahlen ab Ende 1933, bei denen nur noch die NSDAP kandierte, faktisch das passive Wahlrecht wieder entzogen und deshalb mussten sie nach nur knapp anderthalb Jahrzehnten die Parlamente bereits wieder verlassen. Für die Dauer des nationalsozialistischen Regimes waren die damaligen Pseudoparlamente völlig ‚frauenfrei’ und wieder zu reinen ‚Herrenhäusern‘ geworden.

Fazit: Notwendig, aber nicht hinreichend
Das aktive und passive Frauenwahlrecht, für das sich Frauen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatten und welches nur durch zähes Ringen von vielen Frauen und Männern erreicht werden konnte, hat die politische Landschaft des Landes nachhaltig verändert. Marie Juchacz meinte in der erwähnten ersten parlamentarischen Rede einer Frau, dass durch „die politische Gleichstellung […] die Frauenfrage, […] in ihrem alten Sinne nicht mehr besteht, […], daß sie gelöst ist.“ Diese Einschätzung teilten zu diesem Zeitpunkt viele der neu gewählten Parlamentarierinnen und auch viele Akteurinnen der Frauenbewegung sahen dies so. Die Erkenntnis, dass sie viel zu optimistisch waren, wuchs erst langsam; die Entwicklungen der nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte machte dies mehr als deutlich.
So sind wir bis heute von einer paritätischen Vertretung in den Parlamenten und der Gleichstellung von Männern und Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen noch immer weit entfernt, derzeit ist sogar wieder eine rückläufige Tendenz zu verzeichnen: So sind im aktuellen Bundestag nur noch 30,9% der Abgeordneten weiblich – dies ist der niedrigste Wert seit 1994 (26,2%).
Deshalb müssen weitere Instrumente und ein weiteres Engagement für Gleichberechtigung folgen. Seitdem beispielsweise in Frankreich 2001 ein „Gesetz zur Förderung des gleichen Zugangs von Frauen und Männern zu Wahlmandaten und Wahlämtern“ in Kraft getreten ist, ist der Anteil von Frauen in den Kommunalparlamenten von 26% auf 48% gestiegen. Deshalb fordern inzwischen auch in Deutschland Frauenverbände wie der Deutsche Juristinnenbund und der Deutsche Frauenring ein Paritätswahlrecht, das einen 50prozentigen Frauenanteil in den Parlamenten garantiert.38
Als Fazit kann deshalb nach einem Jahrhundert festgehalten werden: Das Frauenwahlrecht allein reicht nicht aus, um die politischen und die Geschlechterverhältnisse zu verändern, es ist aber unabdingbare Voraussetzung dafür. – Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Frauen ihr Recht auch wahrnehmen!

  1. „An das deutsche Volk!“ Aufruf des Rates der Volksbeauftragten vom 12.11.1918. In: Reichsgesetzblatt, S. 1304, zitiert nach Rosenbusch, 1998, S. 456.
  2. Der Rat bestand aus Friedrich Ebert, Otto Landsberg und Philipp Scheidemann von der SPD sowie Emil Barth, Wilhelm Dittmann und Hugo Haase von der USPD.
  3. Stritt, Marie (1918): Frauenwahlrecht in Deutschland. In: Die Staatsbürgerin, 7. Jg., H. 9, S. 72.
  4. Stritt, Marie (1919): Von der Frauenstimmrechtlerin zur Parteipolitikerin. In: Die Staatsbürgerin, 7. Jg., H. 10/11, S. 85.
  5. Die folgende Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und fokussiert primär auf die europäischen Staaten. Zeitangaben für die Installierung des Frauenwahlrechts sind in den unterschiedlichen Quellen mitunter widersprüchlich. So wird für manche Länder das Jahr angegeben, in dem es per Gesetz beschlossen wurde, für andere aber das Jahr, in dem es in die Verfassung aufgenommen wurde und für dritte schließlich das Jahr, in dem die Frauen zum ersten Mal an einer Wahl teilnehmen durften. Soweit nachvollziehbar, wird hier das Jahr der Gesetzeswerdung angegeben. Wenn nicht anders angegeben beruhen die Angaben auf folgenden schriftlichen Quellen: Frauenmuseum Bonn (Hg.) (2006): Mit Mut zur Macht. 100 Jahre Frauenwahlrecht in Europa. Band 1: Geschichtlicher Teil. Bonn – mit Beiträgen zur jeweiligen Entwicklung in den einzelnen Staaten; Daley, Caroline/Nolan, Melanie (Ed.) (1994): Suffrage and Beyond. International Perspectives. Auckland/New York. Sowie auf folgenden Onlinequellen: http://archive.ipu.org/wmn-e/suffrage.htm; http://www.frauennet.ch/index.php/frauengeschichte/14-crhonik-zum-frauenstimmrecht; https://www.bundestag.de/besuche/ausstellungen/parl_hist/frauenwahlrecht/einfuehrung/246998
  6. Vgl. https://www.aec.gov.au/indigenous/milestones.htm.
  7. Trotz ihres Wahlrechtes auf nationaler Ebene wurde den Schweizerinnen in einigen Kantonen weiterhin dasjenige für die regionalen Volksvertretungen verwehrt – im Halbkanton Ap­penzell-Innerrhoden sogar bis 1990, dann erzwang das Schweizerische Bundesgericht gegen den Willen der männlichen Stimmbevölkerung eine Änderung dieses Missstandes
  8. Human Development Report 2007/2008, Tabelle 33 Women’s political participation, S. 343 ff. Nach: https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/PDF/Beitrag09_05_10.pdf.
  9. Stritt, Marie (1919): Zum Abschluß. In: Die Staatsbürgerin, 8. Jg., H. 7, S. 59.
  10. Gouges, Olympe de (1791): Die Rechte der Frau (aus dem Französischen von Gisela Bock). Veröffentlicht im Rahmen des Themenschwerpunkts „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009 (www.europa.clio-online.de/quelle/id/artikel-3462).
  11. Otto, Louise (1849): Programm. In: Frauen-Zeitung, Nr. 1, 21.4.1849, S. 1.
  12. Dohm, Hedwig (1876): Der Frauen Natur und Recht; Kapitel 2: Das Frauenwahlrecht (http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-frauen-natur-und-recht-4775/3).
  13. Lange, Helene (1899): Frauenwahlrecht. In: Intellektuelle Grenzlinien zwischen Mann und Frau / Frauenwahlrecht, Berlin (2. Auflage), S. 26.
  14. Ebenda, S. 29.
  15. Cauer, Minna (1899): Die Frau im 19. Jahrhundert. Berlin, S. 141.
  16. Ebenda S. 143f.
  17. Zetkin, Clara (1957): Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin, S. 480, zit. nach: Der Internationale Frauentag (ab 1911), Dossier des Archivs der deutschen Frauenbewegung, www.addf-kassel.de/dossiers-und-links/dossiers/internationaler-frauentag/.
  18. Wolff, Kerstin: Kurze Chronologie zum Internationalen Frauentag 8. März, http://www.addf-kassel.de/fileadmin/user_upload/Dossiers/Internationaler_Frauentag/2013_Internationaler_Frauentag_Chronik.pdf. Ausführlicher dazu: Wolff, Kerstin (2018): Unsere Stimme zählt. Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts. Überlingen, S. 84-97.
  19. So der preußische Innenminister Freiherr von Hammerstein, zit. nach der Rede des Abgeordneten Rickert, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichtags. X. Legislaturperiode, Bd. 185, 193. Sitzung vom 14.10.1902, S. 5624.
  20. Sigismund, Friedrich (1912): Frauen-Stimmrecht, Leipzig, S. 69.
  21. Otto-Peters, Louise (1876): Frauenleben im Deutschen Reich. Erinnerungen aus der Vergangenheit und Hinweise auf Gegenwart und Zukunft. Leipzig, S. 22.
  22. Zetkin, Clara (1907): Zur Frage des Frauenwahlrechts. Berlin, S. 12f.
  23. Cauer, Minna (1914): Drei Richtungen. In: Zeitschrift für Frauenstimmrecht, Nr. 4, 15.2.1914, S. 11.
  24. Zetkin, Clara (1894): Reinliche Scheidung. In: Die Gleichheit 4. Jg., H. 8, S. 63f.
  25. Geschäftsbericht des Deutschen Reichsverbandes für Frauenstimmrecht über die Zeit vom 1.10. 1917 bis zum 30.09. 1919. In: Die Staatsbürgerin, 8. Jg., 1919, H. 7, S. 61.
  26. Zeitschrift für Frauenstimmrecht, 11. Jg. 1917, 1./15.12.1917, Nr. 23/24, S. 48. Unterschrieben war diese Erklärung von Marie Juchacz für die SPD, Marie Stritt für den Reichsverband für Frauenstimmrecht und Minna Cauer für den Deutschen Stimmrechtsbund. Die USPD warf der Erklärung Merkmale eines Kompromisses vor und beteiligte sich deshalb nicht; vgl. Landé, D. (1918): Frauenbewegung – Wahlrecht. In: Sozialistische Monatshefte, 1918, Bd. 1, S. 549.
  27. Stritt, Marie (1919): Von der Frauenstimmrechtlerin zur Parteipolitikerin. In: Die Staatsbürgerin, 7. Jg., H. 10/11, S. 85.
  28. Protokoll der Vertreterinnenversammlung am 15.12.1918, StAD, 1328: StDF, Aktenstück 7, Bl. 25.
  29. Stritt, Marie (1919): Von der Frauenstimmrechtlerin zur Parteipolitikerin. In: Die Staatsbürgerin, 7. Jg., H. 10/11, S. 86.
  30. Dies gilt noch immer, wenn auch etwas abgeschwächt: Die Frauen machen gegenwärtig fast 51% Bevölkerung aus.
  31. Stritt, Marie (1919): Nach den ersten Wahlen. In: Die Frauenfrage, 21. Jg., 1. Februar, H. 2, S. 10.
  32. Fast identische Wahlplakate gab es auch während der gesamten Weimarer Republik und weit in die Zeit der BRD hinein
  33. Stritt, Marie (1919): Nach den ersten Wahlen. In: Die Frauenfrage, 21. Jg., 1. Februar, H. 2, S. 10.
  34. Die Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, bearbeitet im Statistischen Reichsamt zu Berlin 1919. Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 28, 1919, 1. Ergänzungsband, S. 29. Zitiert nach Rosenbusch, 1998, S. 473; vgl. dort insbesondere Anmerkung 1215, in der mit Recht die häufig in der Sekundärliteratur genannte Zahl von fast 90% als falsch zurückgewiesen wird.
  35. Stritt, Marie (1919): Nach den ersten Wahlen. In: Die Frauenfrage, 21. Jg., 1. Februar, H. 2, S. 10.
  36. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/494 94782kw07kalenderblatt_juchacz/215672.
  37. „Raus mit den Männern aus dem Reichstag, und raus mit den Männern aus dem Landtag, und raus mit den Männern aus dem Herrenhaus, wir machen draus ein Frauenhaus!“ Text Friedrich Hollaender, http://lyrics.wikia.com/wiki/Claire_Waldoff:Raus_Mit_Den_MännernAusDem_Reichstag
  38. Silke Ruth Laskowski: Wann bekommt Deutschland ein Parité-Gesetz? In STREIT 2/2015, S. 51-62.