STREIT 3/2018

S. 140-141

Buchbesprechung: Antje Schrupp: Vote for Victoria!

Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach 2016

In „Vote for Victoria“ stellt Antje Schrupp das „wilde Leben von Amerikas erster Präsidentschaftskandidatin Victoria Woodhull (1838-1927)“ vor. Aus der Faszination heraus, dass schon rund 150 Jahre vor Hillary Clinton eine Frau offiziell als amerikanische Präsidentschaftskandidatin nominiert wurde und sich 1872 in geschlechtergerechter Sprache als „Future Presidentess“ zur Wahl stellte, hat sie sich an die Arbeit zu diesem Buch gemacht und ist dafür sogar auf den Spuren von Victoria durch Amerika gereist.

Das Buch beginnt mit der Beschreibung des Zeugungsakts dieser künftigen Präsidentschaftskandidatin. Und das ist konsequent. Denn dieses Frauenleben, was so sexuell freizügig entstanden sein soll, – ob es so war oder nur eine gute Geschichte ist, bleibt offen – wird auch weiterhin starke emotionale Kräfte aktivieren, um sich gesellschaftlich Aufmerksamkeit und Anerkennung zu verschaffen. Bildung, Ratio, Hosenanzug-angepasste Männerkleidung und berufspolitische Professionalität – Werkzeuge, die Hillary Clinton (nicht) zu politischem Erfolg verholfen haben – sie sind für Victoria Woodhull nicht einsetzbar in der amerikanischen und englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Wie schon die Mystikerinnen im Mittelalter, die als Frauen nur gehört wurden, wenn „Gott“ durch sie sprach, kann auch Viktoria sich nur als „weibliches Medium aus dem Jenseits“ Gehör verschaffen, auf dem damals aktuellen Hype des Spiritismus mitschwimmen und sich so Vermögen und Unabhängigkeit aufbauen. Gemeinsamkeiten mit Hillary sind intellektuelle Schärfe und Eloquenz, die auch Victoria zweifelsohne ausgezeichnet haben müssen.

Und was für eine Schlichtheit der rechtlichen Argumentation: Es stelle sich gar nicht die Frage, ob das bestehende Wahlgesetz den Frauen ein Wahlrecht zugestehe. Denn Frauen hätten das Wahlrecht längst. Sie müssten es einfach nur auch ausüben wollen. Also kämpfte Victoria dafür, dass Frauen „wählen wollen“, nicht dafür, dass sie „wählen dürfen“.
Verfeinert hat sie diese Argumentation im Papier „Das Memorial der Victoria C. Woodhull“, dass sie 1870 als Petition vor dem Kongress in Washington vortrug und das schlicht feststellte, dass in der amerikanischen Verfassung und auch im ursprünglichen amerikanischen Wahlgesetz nie von männlich und weiblich, sondern immer nur von „Personen“ die Rede gewesen sei; und dass dieses Personen Frauen wie Männer meinte, sei schließlich unstreitig. Die amerikanischen Frauen hätten also immer schon das Wahlrecht gehabt, es nur – freiwillig – bisher nicht ausgeübt. Dass das 14. Wahlrechtsänderungsgesetz dann plötzlich Frauen explizit vom Wahlrecht ausgeschlossen habe, sei schlicht verfassungswidrig, das Gesetz sei ungültig. Erfolg hatte sie damit nicht, aber es trug ihr die Anerkennung von Seiten der Frauenbewegung ein.
Und was für eine Aktualität der politischen Statements in ihrem Wahlkampf 1872: Abtreibung sei nur ein Symptom für eine tiefer liegende Unordnung der Sozialstruktur und könne nicht durch Gesetze bekämpft werden. Sie habe das Recht, zu lieben, wen sie wolle und kein Gesetz habe das Recht, dies zu verbieten. Sie kritisierte die polizeiliche Verfolgung der Prostitution und die Reglementierung von Bordellen, den fehlenden Zugang zu Verhütungsmitteln, Abtreibung und Gesundheitsversorgung. Sie kämpfte gegen den Alkoholismus der Männer und gegen jedweden erzwungenen Sex, auch in der Ehe. Sie bekämpfte Rassismus, die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen und weibliche Niedriglohnjobs. Allein rechtliche Gleichheit könne nicht das Ziel der Frauenbewegung sein, es gehe um weibliche Freiheit in einem weiteren Sinne und generell um soziale Fragen.

Victoria Woodhull hat dafür damals Unterstützung gefunden – auch von Männern – und in weit größerem Umfang, als wir es uns heute vorstellen können. Das belegt und beschreibt Antje Schrupp sehr eindringlich. Die verschiedenen Argumentationen und Strömungen der damaligen Frauenbewegung eingebettet in die 1872 aktuellen politischen Zeitläufte New Yorks werden lebendig. Es war also auch damals alles „denkbar und sagbar“ in der Frauenbewegung und im politischen Diskurs. Warum also sind wir bei diesen Themen immer noch nicht weitergekommen im Jahre 2018 oder müssen wir dankbar dafür sein, wohin wir bisher gekommen sind? Das fragt sich frau bei der Lektüre.

Geboren als siebtes von zehn Geschwistern einer Unterschichtenfamilie auf dem Land, musste das Kind Viktoria von Dorf zu Dorf ziehen, immer gejagt von den Betrugsopfern ihrer mehr oder weniger kriminellen Eltern. Wohl vom Vater „frühzeitig zur Frau gemacht“ und mit 15 in die Ehe geflohen, geriet sie an einen Alkoholiker und gebar einen Sohn mit geistiger Behinderung, später noch eine Tochter. Immer auf sich selbst angewiesen, von der exzentrischen Mutter dabei mit einem großen Selbstbewusstsein versorgt und früh sexuell versiert, verdiente sie ihr Geld als „Wahrsagerin, magnetische Heilerin und spiritistisches Medium“, aber auch als Cigar Girl und später wohl auch als Edelprostituierte. Sie verließ ihren Mann, liierte sich mit einem neuen, von dem sie vor allem Bildung übernehmen konnte, ging schließlich nach New York und nutzte ihr Wissen aus „Kurtisanenkreisen“ der besseren Gesellschaft und ihre anrüchige Freundschaftsbeziehung zu Cornelius Vanderbilt und gründete mit ihrer Schwester ein Börsenmaklerinnenbüro an der Wall-Street, das nicht nur zur Vermehrung ihres eigenen sondern auch von Vanderbilts Vermögen beitrug. Und auf diesem Weg hing immer die ganze Großfamilie an ihr, die ihr stets überallhin folgte, da sie „stark“ war. Stark auch die Beziehung zu einer ihrer Schwestern und zu ihrer Tochter, sozusagen ein Frauen-Power-Gespann außerhalb der ehrenwerten bürgerlichen Gesellschaft, dem sich nichts in den Weg stellen konnte. Denn allein waren sie schließlich nie. Und bei all diesen überlebensnotwendigen Aktivitäten entwickelte Victoria eine politische Gesinnung, gründete schließlich mit ihrer Schwester eine eigene politische Zeitung, die als erste eine Übersetzung des Kommunistischen Manifests von Karl Marx druckte, und zuletzt eine politische Partei, die „Equal-Rights-Party“, von der sie sich nominieren lassen konnte. Als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten benannte sie den früheren Sklaven und Befreiungsaktivisten Frederick Douglass. Victorias Leben liest sich also wie eine Räuberpistole, ein Wahnsinnskraftakt.
Aber das täuscht. Drei Viertel des Buches berichten über Victoria nur bis zu ihrem 39. Lebensjahr, über den Aufstieg aus der Unterschicht. Die Phase ihrer eigentlichen politischen Arbeit umfasst nur vier kurze Jahre. Das war für sie selber vielleicht sogar nur eine recht unbedeutende Eskapade unter vielen, der das Buch natürlich viel Aufmerksamkeit widmet.

Das letzte Kapitel nur beschreibt dann Victorias Kehrtwende. Sie emigrierte 1877 nach England und legte einen gesellschaftlichen Neustart hin. 49 weitere Jahre – also den Großteil ihres Lebens – verbrachte sie überwiegend als aristokratische wohltätige englische Lady auf einem Landsitz. Und die Heirat mit einem jüngeren Engländer aus reichem Adelshaus, die ihr dies ermöglichte, musste sie sich unter Aufbietung all ihres weiblichen Charmes und unter Abschwörung ihres alten Lebens und ihrer politischen Überzeugungen durch hammerharte gesellschaftliche Anpassung und über mehrere prekäre Londoner Jahre hinweg erarbeiten. So widerrief sie in einer groß angelegten Medienkampagne ihre früheren politischen Auffassungen und stritt insbesondere alle ihre sexualpolitischen Äußerungen schlicht ab. Sie wird diesen Weg nicht von ungefähr gegangen sein. Aber sie ließ sich dadurch auch nicht davon abhalten, an ihrer neuen Wirkungsstätte zusammen mit ihrer Tochter innovative soziale Projekte zu verwirklichen, auch wenn das ihre Chancen auf gesellschaftliche Anerkennung immer wieder gefährdete.

Antje Schrupp sieht Victoria als feministisches Vorbild. Und dies nicht, weil sie „als Frau“ etwas gewagt habe, sondern weil ihr „Frausein“ bei ihren Wagnissen für sie immer die allergeringste Rolle gespielt habe. Mit einer Herkunft aus der Unterschicht und ihrer dadurch immer wieder distanzierten Einstellung zu den bürgerlichen Frauenbewegungen ihrer Zeit ist Victoria für Antje Schrupp eine intersektionale Feministin „avant la lettre“. Und die wollte sie der Nachwelt unbedingt erhalten in diesem großartigen Buch.