STREIT 2/2017

S. 84-86

VG Darmstadt, Art 45 AEUV; §§ 2, 5 FreizügG/EU; Art 7, 16 EG-Freizügigkeits-RL (38/2004)

EU-Freizügigkeit für vormalige Arbeitnehmerin, bei Schwangerschaft, bei Alleinerziehenden auch im Anschluss an die Mutterschutzfristen

1) § 2 Abs. 3 FreizügG/EU setzt Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG um; die dort geregelte Fortgeltung der ArbeitnehmerInnenstellung ist so nicht abschließend.
2) Nach Art. 45 AEUV geht die ArbeitnehmerInnenstellung durch eine Arbeitsunterbrechung infolge Schwangerschaft und Mutterschutz nicht verloren.
3) Ist eine vormalige Arbeitnehmerin alleinerziehend und kann im Anschluss an die Mutterschutzfrist wegen der Betreuung des geborenen Kindes ihre Erwerbstätigkeit nicht wieder aufnehmen, sind im Rahmen des dann stets auszuübenden Ermessens bei der Prüfung, ob ein Verlust der Freizügigkeit eintreten könnte, diese besonderen Umstände regelmäßig aufenthaltserhaltend zu berücksichtigen.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des VG Darmstadt vom 01.12.2016 – 5 K 475/15 DA.

Zum Sachverhalt:
Die Klägerin, eine rumänische Staatsangehörige, reiste am 01.10.2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein. In der Zeit vom 01.01.2013 bis zum 30.04.2013 und vom 01.07.2013 bis zum 31.10.2013 ging die Klägerin einer Beschäftigung nach. Nach Ablauf des befristeten Arbeitsverhältnisses wurde die Klägerin arbeitslos. Am 01.04.2014 wurde ihre Tochter … geboren. Seit August 2014 erhält die Klägerin Leistungen nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEGG). Der Lebensgefährte der Klägerin verließ am 15.05.2014 das Bundesgebiet. Er kehrte am 11.08.2014 nach Deutschland zurück.
Mit Bescheiden vom 05.09.2014 wurde bei der Klägerin und ihrer Tochter der Verlust des Rechts auf Freizügigkeit im Bundesgebiet festgestellt. […]

Aus den Gründen:
Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid des Landrats des Beklagten vom 05.09.2014 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 30.04.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 31.07.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Rechtswidrigkeit beruht […] auf der fehlenden Ermessensausübung.
Die Klägerin war nur bis zum 27.05.2014 freizügigkeitsberechtigt, so dass der Beklagte nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU den Verlust der Freizügigkeit nach § 2 Abs. 1 FreizügG /EU feststellen konnte.
Die Klägerin war zunächst von 01.01.2013 bis 30.04.2013 als Arbeitnehmer beschäftigt. Nach Auslaufen des befristeten Arbeitsvertrages war die Klägerin aufgrund der Fortgeltung des Arbeitnehmerstatus wegen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach einer Beschäftigung von weniger als einem Jahr nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU weiterhin freizügigkeitsberechtigt. Die Fiktion des Fortbestandes der Arbeitnehmereigenschaft galt für die Dauer von sechs Monaten und bestand daher auch noch zum Zeitpunkt der erneuten Arbeitsaufnahme am 01.07.2013. Das neue Beschäftigungsverhältnis bestand befristet bis zum 31.10.2013. Nach dem Auslaufen des Arbeitsvertrages galt erneut die Fiktion des Fortbestandes der Arbeitnehmereigenschaft auf Grundlage des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG /EU für die Dauer von sechs Monaten. Noch während der Dauer der Fortgeltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde am 01.04.2014 die Tochter der Klägerin, die Klägerin im Verfahren 5 K 1361/15 DA, geboren.
Infolge der Geburt galt die Arbeitnehmereigenschaft bis zum Ablauf der Mutterschutzfristen unmittelbar auf der Grundlage des Art. 45 AEUV weiter (hierzu Maximowitz in: OK-MNet-FreizügG/EU, Online-Kommentar bei www.migrationsrecht.net, Stand: 25.11.2016, zu § 2 Abs. 3). Denn die Regelung über die Fortgeltung der Arbeitnehmerstellung sowie der Eigenschaft als Selbstständiger nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ist nicht abschließend. Sie dient der Umsetzung des Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG, der nach der Rechtsprechung des EuGH keine abschließende Aufzählung der Umstände enthält, unter denen einem Wanderarbeitnehmer, der sich nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis befindet, dennoch weiterhin die Arbeitnehmereigenschaft zuerkannt werden kann. Neben den Fallgruppen, die in Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG aufgezählt sind, kann sich unmittelbar aus Art. 45 AEUV eine Fortgeltungswirkung ergeben. Denn die durch die Unionsbürgerrichtlinie beabsichtigte Kodifizierung des vor ihrem Erlass bestehenden Normkomplexes, die das Ziel hat, die Ausübung des Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern, kann die Tragweite des Arbeitnehmerbegriffs im Sinne des AEUV nicht einschränken (EuGH, U. v. 19.06.2014 – C-507/12 – Saint Prix, Rn. 32).
Eine der Fallgruppen der Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft auf unmittelbarer Grundlage des Art. 45 AEUV, die der EuGH anerkannt hat, ist der Fall der unfreiwilligen Arbeitsunterbrechung infolge einer Schwangerschaft (EuGH, U. v. 19.06.2014 – C-507/12 – Saint Prix, Rn. 40). Der Gerichthof bezieht sich zur Begründung auf Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG, der eine Regelung zur Berechnung des ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthalts im Mitgliedstaat zur Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts regelt. Danach berührt die Abwesenheit aufgrund eines wichtigen Ereignisses wie einer Schwangerschaft oder Niederkunft nicht den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts, wenn die Abwesenheit höchstens 12 aufeinanderfolgende Monate andauert. Wenn der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts durch eine Abwesenheit im Mitgliedstaat über die Dauer von höchstens 12 Monaten nicht berührt wird, „können körperliche Belastungen im Spätstadium einer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes, die eine Frau zur vorübergehenden Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit zwingen, für die Betroffene erst recht nicht zum Verlust der Arbeitnehmerstellung führen“ (EuGH, U. v. 19.06.2014 – C-507/12 – Saint Prix, Rn. 46). Die Tatsache, dass die mit der Schwangerschaft verbundenen Belastungen eine Frau zwingen, die Ausübung einer Arbeitnehmertätigkeit während des für ihre Erholung erforderlichen Zeitraums aufzugeben, ist daher grundsätzlich geeignet, ihr die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 45 AEUV zu erhalten (hierzu Maximowitz in: OK-MNet-FreizügG/EU, Online-Kommentar bei www.migrationsrecht.net, Stand: 25.11.2016, zu § 2 Abs. 3).
Grundsätzlich wird man – wenn nicht atypische Umstände vorliegen – davon ausgehen können, dass eine Frau erst mit Ablauf der Mutterschutzfrist die Arbeitnehmerstellung verliert. Da es sich bei der Konkretisierung der Dauer der Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft in Fällen der Schwangerschaft um eine unionsrechtliche Fragestellung handelt, kann diese nur mittels eines unionsrechtlichen Maßstabs erfolgen. Dies wird deutlich, wenn man die Rechtslage in anderen EU-Mitgliedstaaten in Blick nimmt. So beträgt die Schutzfrist nach Entbindung im Vereinigten Königreich 15 Wochen. Maßstab bildet – worauf der EuGH in der Rechtssache Sanit Prix hingewiesen hat – Art. 8 RL 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (ABl. L 348 vom 28.11.1992, S. 1). Dieser bestimmt: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass den Arbeitnehmerinnen im Sinne des Artikels 2 ein Mutterschaftsurlaub von mindestens 14 Wochen ohne Unterbrechung gewährt wird, die sich entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten auf die Zeit vor und/oder nach der Entbindung aufteilen.“ Da die deutschen Regelungen des Mutterschutzrechts richtlinienkonform sind (6 Wochen vor der Entbindung und 8 Wochen nach der Entbindung), wird man auch unionsrechtlich auf die Mutterschutzfrist nach § 6 Abs. 1 MuSchG, d.h. auf die Dauer von 8 Wochen nach der Entbindung, zurückgreifen können (hierzu Maximowitz in: OK-MNet-FreizügG/EU, Online-Kommentar bei www.migrationsrecht.net, Stand: 25.11.2016, zu § 2 Abs. 3).
Da der Gerichtshof den Ablauf des Zeitraums der Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft an die für die „Erholung“ der Mutter notwendige Zeit knüpft, kann die Frist nicht durch Erziehungsurlaub verlängert werden (so auch Schlussantrag des Generalanwalts Wahl vom 12.12.2013 – C-507/12 – Saint Prix, Rn. 24). Denn der Erziehungsurlaub dient nicht der Erholung der Mutter von den Strapazen der Schwangerschaft, sondern dient der Sorge und Erziehung des Kindes in den ersten Lebensjahren (hierzu Maximowitz in: OK-MNet-FreizügG/EU, Online-Kommentar bei www.migrationsrecht.net, Stand: 25.11.2016, zu § 2 Abs. 3).
Damit endete die Freizügigkeit der Klägerin erst acht Wochen nach Entbindung der Tochter am 27.05.2014. Die Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft auf der Grundlage des Art. 45 AEUV geht damit über die 6-Monatsfrist des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU hinaus, die bereits am 30.04.2016 abgelaufen wäre.
In Anschluss an die Arbeitnehmereigenschaft war die Klägerin nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU als Arbeitsuchende freizügigkeitsberechtigt. Denn die Klägerin war nach Geburt ihrer Tochter und dem Umstand, dass der Vater der Tochter das Bundesgebiet verlassen hatte, nicht in der Lage, eine Beschäftigung aufzunehmen. In Hinblick auf die persönliche Situation der Klägerin, die sich allein um das Kleinkind kümmern musste, war eine Aufnahme einer Beschäftigung weder möglich noch beabsichtigt, so dass auch zu diesem Zeitpunkt keine Arbeitssuche vorlag. Denn Freizügigkeit zur Arbeitssuche setzt voraus, dass der EU-Bürger ernsthaft im Aufnahmestaat einen Arbeitsplatz sucht, sich ernsthaft und nachhaltig um eine Arbeitsstelle bemüht und sein Bemühen darf objektiv nicht aussichtslos sein (Dienelt in Bergmann/Dienelt, § 2 FreizüG/EU, Rn. 61 f.). Die Meldung beim Arbeitsamt und die Wahrnehmung sämtlicher von dort angebotener Vermittlungen genügen nicht, um als Arbeitssuchender zu gelten. Daneben bedarf es vielmehr intensiver Eigeninitiativen. Die Stellensuche muss im Einzelnen in nachprüfbarer Weise dokumentiert werden. Dazu gehört auch die Vorlage von Bewerbungs- und Antwortschreiben (Dienelt, a.a.O., Rn. 62).
Die Klägerin konnte auch keine Freizügigkeit aus der Aufnahme einer Beschäftigung ihres Lebenspartners ableiten. Denn die Arbeitnehmerfreizügigkeit, von der der Lebenspartner Gebrauch machte, vermittelt nur Familienangehörigen Freizügigkeit. Da die Klägerin mit dem Arbeitnehmer nicht verheiratet war, wäre sie nach § 4 FreizügG/EU nur freizügigkeitsberechtigt, wenn der Lebenspartner den Lebensunterhalt der Klägerin vollständig gedeckt hätte. Dies war aber ersichtlich nicht der Fall.
Bestand nach Ablauf des 27.05.2014 kein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU mehr, so war der Beklagte grundsätzlich berechtigt, eine Verlustfeststellung auf der Grundlage des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU zu erlassen. Nach dieser Regelung kann die Behörde, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen oder nicht mehr vorliegen, den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU feststellen. Die Entscheidung steht im Ermessen, so dass die Ausländerbehörde eine umfassende Abwägung unter Einstellung aller für und gegen die Verlustfeststellung sprechenden vorzunehmen hat (HessVGH, B. v 24.10.2016 – 3 B 2352/16).
Mit der Verfügung vom 05.09.2014 hat der Beklagte sein Ermessen nicht ausgeübt. Vielmehr führt der Beklagte in der Verfügung vom 05.09.2014 folgendes aus: „Nach Abwägung der Sach- und Rechtslage ist eine andere Entscheidung nicht möglich. Der Verlust ihres Freizügigkeitsrechts ist festzustellen (§ 5 Abs. 5 FreizügG/EU).“ Diese Ausführungen entsprechen in keiner Weise den erforderlichen Ermessenserwägungen, die insbesondere deshalb erforderlich waren, weil die Klägerin vor der Geburt ihrer Tochter über einen nicht unerheblichen Zeitraum von acht Monaten beschäftigt gewesen war. Die tatsächlichen Schwierigkeiten, eine Beschäftigung nach der Geburt der Tochter aufzunehmen, hätten im Rahmen der Verlustfeststellung angemessen berücksichtigt werden müssen. Auch wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf der Grundlage des Art. 45 AEUV nach Ablauf von acht Wochen nach der Entbindung nicht mehr bestand, so führt dies keineswegs zwangsläufig dazu, dass der Aufenthalt eines Unionsbürgers beendet werden kann. Aufgrund des Grundsatzes der Gemeinschaftssolidarität ist es hinnehmbar, wenn für eine vorübergehende Zeitdauer trotz Wegfall der Freizügigkeit Sozialleistungen gewährt werden, um damit einer temporären, besonderen Sachlage Rechnung tragen zu können. Daher war gerade in dem vorliegenden Fall eine Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der besonderen Sachlage, die durch die Geburt der Tochter und dem Wegzug des Lebenspartners und Vaters geprägt war, erforderlich.
Auch durch Änderungsverfügung vom 30.04.2015 wurde die fehlende Ermessenausübung nicht nachgeholt. Gleiches gilt für den Erlass des Widerspruchsbescheids am 31.07.2015, der lediglich ausgeführt, dass über die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU im Wege des Ermessens zu entscheiden gewesen sei. Es findet sich lediglich folgende Begründung: „Nach den Ausführungen im angefochtenen Verwaltungsakt sowie in diesem Widerspruchsbescheid waren die privaten Interessen am […] nicht höher zu bewerten, als die öffentlichen Belange.“ Die Ausführungen, bei denen die tangierten privaten Interessen nicht einmal erwähnt werden, sind keinesfalls ausreichend, um als hinreichende Ermessungsausübung im Sinne des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU angesehen werden zu können. Allein der Verweis auf den Sachverhalt sowie die Wiedergabe des Gesetzestexts ersetzten keine Einzelfallabwägung. Insoweit ist die Verfügung wegen Ermessensausfalls rechtswidrig und aufzuheben.