STREIT 2/2024

S. 88-92

VG Braunschweig, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG

Flüchtlingseigenschaft für verheiratete irakische Frau wegen westlicher Prägung

1. Auch bei verheirateten Frauen und Müttern kann eine „Verwestlichung“ anzunehmen sein.
[...]
3. Maßgeblich für die „Verwestlichung“ einer Asylsuchenden ist die Frage, inwiefern sie bereit ist, patriarchalische Rollenvorstellungen zu akzeptieren und sich sowohl ihrem Partner als auch anderen Männern unterzuordnen. Für eine „Verwestlichung“ sprechen der Wille zu einer selbstbestimmten Lebensführung, die Offenheit gegenüber anderen Kulturen, Religionen und Werten, die Bereitschaft, die eigene Meinung auch gegen Widerstände zu verteidigen, und das Bestreben, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen.
4. Die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden wirkt auch für „verwestlichte“ irakische Frauen gefahrerhöhend, ebenso das Fehlen eines schützenden (Groß-)Familienverbandes und prekäre Lebensverhältnisse im Herkunftsland.
(Amtliche Leitsätze)
Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 04.04.2024, Az. 2 A 26/21

Aus dem Sachverhalt:
1 Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
2 Sie ist irakische Staatsangehörige, yezidischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens aus dem Dorf Siba Scheich Khidir in der Region Sindschar der Provinz Ninive. Die Klägerin ist verheiratet und hat mit ihrem Ehemann drei elf, neun und sechs Jahre alte Söhne. [...]

Aus den Gründen:
[...] Der Klägerin steht im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. [...]
34 Der Klägerin droht in Siba Sheikh Khidir wie auch in anderen Regionen des Irak Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe „verwestlichter“, d. h. in ihrer Identität durch westliche Werte und Moralvorstellungen geprägter Frauen.
35 Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.
36 Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie – beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa – in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder ihnen diese Anpassung infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann [...]. Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen dieser Merkmale von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.
37 Die Einzelrichterin lässt offen, ob verwestlichten Frauen im Irak eine Gruppenverfolgung im engeren Sinne nach den strengen Kriterien des Eufach0000000030s droht oder ob eine Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit im Einzelfall aufgrund der individuellen Situation der jeweiligen Klägerin zu prüfen ist. [...]
Im Ergebnis kann die Frage der notwendigen Verfolgungsdichte [...] offenbleiben, weil für die Klägerin jedenfalls angesichts der individuellen Umstände ihres Falles die beachtliche Gefahr einer Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe verwestlichter Frauen zu bejahen ist.
38 Während eines Großteils des 20. Jahrhunderts machten die Frauen im Irak erhebliche Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung und erreichten relativ hohe Raten bei der Hochschulbildung und der Beschäftigung in Berufen und im öffentlichen Dienst. Viele dieser Fortschritte wurden in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Saddam Husseins wieder zunichtegemacht. Seit der Militäraktion unter Führung der USA im Jahr 2003 führten bewaffnete Konflikte und das Wiedererstarken stammesbezogener und religiöser Einflüsse zu einer ernsthaften Verschlechterung der Lage der Frauen im Irak. Auch wenn die individuellen Umstände variieren, sind Frauen im gesamten Spektrum der irakischen Gesellschaft von Problemen wie einer hohen Rate häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt, einer geringen wirtschaftlichen Teilhabe, ungerechten Gesetzen, missbräuchlichen kulturellen Praktiken, dem Ausschluss von Entscheidungsprozessen und unzureichendem staatlichen Schutz betroffen (Australian Government Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), DFAT Country Information Report Iraq, 16.01.2023, S. 29).

39 Zwar ist in der irakischen Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25% im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak (RKI): 30%) verankert. In politischen Entscheidungsprozessen spielen Frauen jedoch eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen nehmen Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ein. Auf einfachgesetzlicher Ebene findet die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben im Irak verhindert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 11 f.). Die Bewegungsfreiheit von Frauen wird durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist. Frauen wird überproportional häufig der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen liegt bei etwa 11% (Stand 2022), ein Abfall gegenüber 15% im Jahr 2016. Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind (BFA, a. a. O., S. 201).

40 In irakischen Familien sind patriarchalische Strukturen und sog. „Ehrenverbrechen“ bis hin zu „Ehrenmorden“ weit verbreitet. Häusliche Gewalt ist alltäglich und kann sowohl durch triviale Streitereien als auch durch vermeintliche „Ehrverletzungen“ ausgelöst werden, weshalb die Übergänge zwischen häuslicher Gewalt und sog. „Ehrverbrechen“ in der Praxis oft fließend sind (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kurzinformation Irak. Geschlechtsspezifische Gewalt, 01.05.2023, S. 1). Die Familien- und die individuelle Ehre wird ausschließlich von Männern gehalten und kann verloren oder wiedergewonnen werden. Frauen dagegen können nur eine Quelle der Familien- oder individuellen „Schande“ sein, und können nicht aktiv Ehre in ihre Familie oder ihren Stamm bringen (BFA, a. a. O., S. 211). In der Autonomen Region Kurdistan-Irak sprechen sich zwar sowohl Politik als auch Rechtslage ausdrücklich gegen „Ehrenmorde“ aus. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der „Ehrenmord“ allerdings immer noch als rechtfertigbar (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 12; BFA, a. a. O., S. 212). Während sexuelle Übergriffe, wie z. B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Art. 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet. Dies gilt sowohl im Irak als auch in der Autonomen Region Kurdistan-Irak. Eine Bestimmung verhindert hierbei eine Scheidung innerhalb der ersten drei Ehejahre. Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist. Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar. Die Bemühungen irakischer Frauenrechtsorganisationen, das Parlament zur Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot geschlechtsspezifischer Gewalt zu bewegen, blieben bisher erfolglos, obwohl der Ruf nach Gesetzen gegen häusliche Gewalt im Irak wieder lauter geworden ist (BFA, a. a. O., S. 203).

41 Fälle von (tödlicher) geschlechtsspezifischer Gewalt kommen in ganz Irak, inklusive in der kurdischen Region, häufig vor (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Irak, 26.06.2023, S. 4). Geschlechtsspezifische Gewalt ist nicht nur auf den häuslichen bzw. familiären Rahmen begrenzt, sondern wird auch von Personen verübt, die nicht in einer persönlichen Beziehung zu den jeweiligen Frauen stehen. Dies betrifft vor allem Frauen in öffentlichen oder halb-öffentlichen Positionen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kurzinformation Irak. Geschlechtsspezifische Gewalt, 01.05.2023, S. 4). 2020 wurden 30 Fälle von konfliktbezogener sexueller Gewalt durch bewaffnete Akteure, hauptsächlich gegen Frauen verzeichnet. In der RKI ist die Zahl der Frauenmorde gestiegen. Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 wurden in der RKI elf Frauen getötet, die meisten von ihnen durch Schüsse. 2021 waren es 45 Frauen, 2020 waren es 25 Frauen (BFA, a. a. O., S. 204). Landesweit soll im Jahr 2022 die Tötung von mindestens 150 Frauen mit dem Vorwand des „Ehrenmordes“ gerechtfertigt worden sein (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 51). Nach Ermittlungen des General Directorate for Combatting Violence Against Women (GDCVAW), einer Behörde des kurdisch-irakischen Innenministeriums, wurden im Jahr 2021 in Kurdistan-Irak 24 Frauen getötet, 26 Frauen begingen Selbstmord, 86 Frauen wurden verbrannt, 153 Frauen wurden sexuell belästigt und 13.259 Frauen berichteten über sonstige Gewalt gegen sie (Staatssekretariat für Migration Schweiz (SEM), Notiz Irak. Irakische Region Kurdistan – Gesetz gegen häusliche Gewalt, 09.02.2023, S. 7). Die Weltgesundheitsorganisation schätzte in einem Bericht aus 2022, dass 1,32 Millionen Menschen im Irak von verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht sind, und mehr als 75 Prozent von ihnen sind Frauen und heranwachsende Mädchen (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 51).
42 Flüchtlinge und Binnenvertriebene berichten von regelmäßiger sexueller Belästigung, sowohl in den Flüchtlingslagern als auch in den Städten. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass das Sicherheitspersonal von Vertriebenenlagern weibliche Binnenvertriebene zu sexuellen Gefälligkeiten im Austausch für die Bereitstellung von Grundversorgungsleistungen aufforderte. Zu den Tätern sexuellen Missbrauchs gehören neben Lagerbewohnern und Personal manchmal auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder Behördenmitarbeiter (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 54 ff.). Auch die Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilization Forces, PMF) sollen häufig für die sexuelle Ausbeutung von Frauen in Vertriebenenlagern verantwortlich sein (EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 74). Dabei ist zu beachten, dass sich Berichten zufolge die Truppenstärke der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten innerhalb der letzten zwei Jahre verdoppelt hat (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Irak, 15.05.2023, S. 4).
43 Sowohl Männer als auch Frauen stehen im Irak unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Personen, die als nicht konform mit den lokalen sozialen und kulturellen Normen angesehen werden, weil sie ein „westliches“ Verhalten an den Tag legen, sind Drohungen und Angriffen von Einzelpersonen aus der Gesellschaft sowie von Milizen ausgesetzt. Volksmobilisierungskräfte (PMF) haben es auf Personen abgesehen, die Anzeichen für eine Abweichung von ihrer Auslegung der schiitischen Normen zeigen, manchmal mit Unterstützung der schiitischen Gemeinschaft. Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, Kopftuch zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten (European Union Agency for Asylum (EUAA), Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 112). Alleinerziehende Mütter und Frauen, die allein leben, sind Stigmatisierung ausgesetzt (DFAT, a. a. O., S. 30). Für Frauen außerhalb des Hauses zu arbeiten wird in weiten Teilen der Gesellschaft als inakzeptabel angesehen. Berufe wie die Arbeit in Geschäften, Restaurants oder in den Medien werden als etwas Schändliches betrachtet. Gleiches gilt für die Teilnahme an lokaler und nationaler Politik. So wurden weibliche Aktivisten, die an politischen Protesten teilnahmen, in Gegenkampagnen als promiskuitiv verunglimpft (BFA, a. a. O., S. 218). Die International Crisis Group stellte Anfang 2020 während der Tishreen-Proteste fest, dass derartige Verleumdungskampagnen Familien davon abhielten, ihren Töchtern die Teilnahme an den Protesten zu erlauben (EUAA, Iraq: Targeting of Individuals, Januar 2022, S. 74). Im Zuge des Frauenmarsches am 13.02.2020 gegen die Forderungen des schiitischen Religionsführers Muqtada as-Sadr für eine Geschlechtertrennung auf öffentlichen Plätzen wurden weibliche Demonstranten mit Tränengas angegriffen, bedroht, attackiert, entführt und in einigen Fällen getötet (BFA, a. a. O., S. 218).

44 Aktuell vollzieht sich in der Autonomen Region Kurdistan-Irak ein kultureller Wandel. Frauen und Mädchen sind sich ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten zunehmend bewusst und mehr Frauen als je zuvor nehmen am Arbeitsleben teil. Dennoch nimmt die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen weiter zu und wird begünstigt durch gesellschaftliche Faktoren wie etwa Hassreden gegen Frauen in den sozialen Netzwerken, welche in der RKI zur Normalität geworden sind. Wenn Nachrichtenplattformen über „Ehrenmorde“ berichten, lobt eine beträchtliche Anzahl von Menschen die Täter und rechtfertigt die Tat. Das Bildungssystem der RKI kann nicht Schritt halten mit der Schnelligkeit der Veränderungen, die die sozialen Medien ermöglichen (Ruwayda Mustafah, Washington Institute, 28.03.2022, https://www.wa­shingtoninstitute.org/policy-analysis/addressing-violence-against-women-iraqi-kurdistan). Der Hohe Rat für Frauenangelegenheiten der RKI und die Generaldirektion für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (DCVAW) erklärten, dass die Online-Belästigung von Mädchen und Frauen stark zugenommen habe. Nach Angaben der DCVAW gehen 75 Prozent der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt auf soziale Netzwerke zurück (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 48).

45 Auf Grundlage dieser Erkenntnisse ist anzunehmen, dass der Klägerin im Irak Verfolgung von Seiten der Volksmobilisierungskräfte und sonstiger männlicher Einzelpersonen und somit durch nichtstaatliche Akteure gemäß § 3c Nr. 3 AsylG droht. Die Einzelrichterin ist nach eingehender Befragung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung überzeugt davon, dass die Klägerin westliche Werte wie insbesondere das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie die gesellschaftliche Teilhabe durch freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit in einem Maße verinnerlicht hat, welches es ihr unzumutbar macht, sich wieder in ihr Heimatdorf Siba Sheikh Khidir oder auch an einen anderen Ort in Sindschar oder der RKI zu begeben und sich dort den Wertvorstellungen der noch immer patriarchal geprägten Mehrheitsgesellschaft anzupassen.

46 Die Klägerin lebt nunmehr seit ihrem 21. Lebensjahr und seit insgesamt 6,5 Jahren in Deutschland und hat sich währenddessen an die offene Gesellschaft in Deutschland gewöhnt und ein selbstbewusstes und souveränes Auftreten entwickelt. Sie zeigte sich in der mündlichen Verhandlung bestrebt, alle Fragen der Einzelrichterin ohne Hilfe des anwesenden Dolmetschers auf Deutsch zu beantworten und schilderte eindrücklich, wie sie durch ihre Flucht aus dem Irak und die Einreise nach Deutschland viele Freiheiten hinzugewonnen habe, die ihr im Irak gefehlt hätten. So habe sie etwa die Chance bekommen, einen Führerschein zu machen und selbst Auto zu fahren, sie könne Hosen tragen anstelle langer Röcke und sich alleine oder auch mit ihren Kindern frei in der Öffentlichkeit bewegen. Die Klägerin scheut offenbar nicht davor zurück, ihre Meinung auch gegen Widerstände zu behaupten und beschrieb etwa, wie sie im Schulunterricht von der Verfolgungsgeschichte der Yeziden berichtet hätte und dabei mit muslimischen Mitschülern in Konflikt geraten sei. Zudem gab die Klägerin an, dass sie Wert lege auf politische Teilhabe und den Wunsch habe, sich in Zukunft auch in Deutschland an Wahlen beteiligen und die Gesellschaft so mitgestalten zu können.
47 Es sei ihr wichtig, für ihre Söhne eine starke Mutter und ein gutes Vorbild zu sein, weshalb sie sich bemühe, ihren Hauptschulabschluss zu erlangen und danach eine Ausbildung zur Erzieherin oder Friseurin zu beginnen. Es sei für sie aber auch nicht ausgeschlossen, einen typischen „Männerberuf“ zu ergreifen, wenn sie die Tätigkeit interessant finde. Mit starren Rollenvorstellungen könne sie sich nicht identifizieren und halte es für völlig normal, wenn etwa ein Mädchen Fußball spielen wolle oder ein Junge viel weine, weil alle Menschen unterschiedlich seien. Auch gegenüber den Muslimen in Deutschland habe sie keine Vorbehalte und würde sich anders als ihre irakischen Verwandten auch nicht daran stören, falls ihre Söhne sich später für eine nicht-yezidische Partnerin entscheiden würden. Mit ihrem Ehemann lebt die Klägerin eine gleichberechtigte Partnerschaft, in der sich beide Ehepartner gegenseitig im Haushalt und bei der Betreuung der Kinder unterstützen. Die Klägerin beschrieb glaubhaft, dass ihr Ehemann sich nicht in ihre persönlichen Entscheidungen, etwa zur Wahl ihrer Kleidung oder Gestaltung ihrer Freizeit, einmische und oft auch alleine etwas mit den Kindern unternehme, damit sie die Gelegenheit bekomme, mit ihren Freundinnen auszugehen.
48 Zwar stammt die Klägerin aus einer toleranten Familie, die ihre Entwicklung befürwortet, allerdings leben ihre Eltern und Geschwister sämtlich noch in einem Vertriebenenlager in Dohuk in Kurdistan-Irak und beabsichtigen demnächst alle bis auf einen Bruder das Land zu verlassen und dem jüngsten Bruder der Klägerin zur Familienzusammenführung in die Niederlande zu folgen. Auch die Eltern und Geschwister des Ehemanns der Klägerin leben derzeit noch im Camp Keberto in Dohuk. In ein geschütztes familiäres Umfeld außerhalb ihrer Kernfamilie wird die Klägerin deswegen voraussichtlich nicht zurückkehren können. Ihre Gefährdung verschärft sich dadurch, dass ihrem Ehemann im Irak strafrechtliche Verfolgung einschließlich der Verhängung einer Haftstrafe wegen seiner Desertation aus dem Dienst bei der irakischen Armee droht. [...]

49 Doch selbst dann, wenn ihr Ehemann einer Verhaftung entgehen könnte, wäre die Gefährdung der Klägerin gegenüber anderen westlich bzw. freiheitlich geprägten irakischen Frauen erhöht. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Klägerin, ihr Ehemann und ihre Kinder Yeziden sind. Die Yeziden waren in ihren traditionellen Siedlungsgebieten des Nordirak seit Sommer 2014 durch den Vormarsch der Terrororganisation „Islamischer Staat“ systematischer Verfolgung allein wegen ihres Glaubens ausgesetzt, vor der sie weder hinreichenden Schutz von Seiten des irakischen Staates noch seitens schutzbereiter Organisationen erhielten. [...]
51 Gefahrerhöhend wirkt für die Klägerin zum anderen, dass sie im Irak zumindest für eine gewisse Zeitdauer im Dorf Siba Sheikh Khidir oder an einem anderen Ort in der Provinz Ninive außerhalb eines schützenden (Groß-)Familienverbandes und dazu in prekären Verhältnissen leben müsste. Obwohl die Klägerin in Deutschland die Schule besucht, ist es aufgrund der weit verbreiteten Diskriminierung auf dem irakischen Arbeitsmarkt unwahrscheinlich, dass sie dort eine Arbeitsstelle finden würde. Ihr Ehemann müsste sich voraussichtlich alleine darum bemühen, ein Einkommen zu erwirtschaften, das nicht nur den Bedarf der Familie an Lebensmitteln, Kleidung und Hygieneprodukten deckt, sondern ihnen darüber hinaus ermöglicht, eine neue Unterkunft anzumieten oder zu errichten. Eine Rückkehr zum irakischen Militär ist aufgrund seiner vorausgegangenen Desertation ausgeschlossen. Weil das Haus der Familie in Siba Sheikh Khidir zerstört wurde, müssten die Klägerin, ihr Ehemann und ihre Söhne aller Voraussicht nach zunächst in Zelten oder wie viele andere Binnenvertriebene in einer informellen Siedlung leben, in denen die Bewohner keine angemessene Wasserversorgung, Abwasserentsorgung oder andere wichtige Dienstleistungen erhalten (vgl. BFA, a. a. O., S. 254). Ohne angemessene Unterkunft für sich und ihre Kinder fehlt es der Klägerin an der Möglichkeit, sich in die Privatheit der eigenen vier Wände zurückzuziehen, wo sie „sie selbst“ sein könnte, ohne dadurch den Unmut traditionell geprägter Iraker auf sich zu ziehen.
52 In der Situation, welche sie im Irak erwartet, drohen der Klägerin geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen etwa in Form von sexueller Belästigung oder anderer physischer und psychischer Gewalt durch muslimische oder yezidische Männer, möglicherweise auch durch Mitglieder der PMF. Auch eine gewisse Gefahr einer Entführung und der Ausübung sexueller Gewalt durch Angehörige des sog. „Islamischen Staates“ besteht nach wie vor, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie vor der militärischen Niederlage der Terrormiliz (EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 77). Aufgrund ihrer durch westliche Werte geprägten Geisteshaltung und ihres selbstbewussten Auftretens droht sie aus der Masse der anderen irakischen Frauen herauszustechen und in besonderem Maße die Aufmerksamkeit nichtstaatlicher Verfolgungsakteure auf sich zu ziehen. Die Einzelrichterin ist aufgrund des in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen Eindrucks überzeugt, dass es ihr nicht gelingen würde, sich bei einer Rückkehr in den Irak den Wertvorstellungen der noch immer patriarchal geprägten Mehrheitsgesellschaft anzupassen und eine untergeordnete Rolle als Frau widerstandslos zu akzeptieren.
53 Demnach ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen und die Ziffer 1) des Bescheides aufzuheben, da sie dem entgegensteht. […]