STREIT 2/2024
S. 93-94
Buchbesprechung: Petra Sußner: Flucht – Recht – Geschlecht. Eine menschenrechtsbasierte Perspektive auf Grundversorgung und Asylstatus
Verlag Österreich, Wien 2020.
Berichte über Gewalt gegen queere Personen gibt es überall auf der Welt. Etwa 70 Staaten kriminalisieren aktuell Queerness; direkt oder mittelbar, etwa über Sittengesetze oder religiöse Vorschriften.1
Auch wenn EU-Staaten etwa Homosexualität nicht mehr kriminalisieren, ist queerfeindliche – insbesondere trans*feindliche – Gewalt vielerorts Alltag, auch in Deutschland.2
Queere Personen, die vor Verfolgung aus ihrem Herkunftsland flüchten, sehen sich rigorosen Wahrhaftigkeitsprüfungen, mathematischem Abstellen auf Verteilungszahlen und stereotypen Vorstellungen von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität, aber auch queerfeindlicher Gewalt etwa in organisierten Unterkünften und mangelhafter medizinischer Versorgung ausgesetzt.
In der auf ihrer Dissertation beruhenden Monografie Flucht-Recht-Geschlecht fragt Petra Sußner: Wie kann das Asylrecht als Schutz gegen queerfeindliche Gewalt effektiv mobilisiert werden?
Sußner macht Erfahrungswissen von LGBTIQ-Personen im Asylverfahren, Beratungsstellen und Anwält*innen zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen und entwickelt so ihre zentrale Analyse: Heteronormativität als Strukturprinzip beeinträchtigt Schutz im Asylverfahren – sowohl tatsächlich als auch rechtlich. Heteronormativität versteht Sußner als ein spezifisches Verhältnis, welches die Kategorien Geschlecht und Sexualität miteinander verbindet: „Heteronormativität steht […] für einen mit den Kategorien des impliziten Subjektideals korrelierenden Systemzusammenhang, der Geschlechter binär, patriarchal-hierarchisiert und in einer heterosexuellen Begehrenskonstellation anordnet.“ Sußners besonderer Ansatz beleuchtet eine Kontinuität, die noch immer nicht genügend reflektiert wird: die Fortwirkung struktureller Prekarisierung marginalisierter Personen im Aufnahmestaat.3
Anhand konkreter Beispiele aus der österreichischen Praxis, analysiert Sußner über das Beispiel hinausweisende typische grund- und menschenrechtliche Gefährdungslagen in organisierten Unterkünften: das Risiko queerfeindlicher Gewalt ist hoch, die medizinische Versorgung insbesondere für trans* und nichtbinäre Personen mangelhaft und es gibt nur wenige Unterkünfte mit besonderer LGBTQ-spezifischer Versorgung. Sußner geht über eine Problemanalyse hinaus und zeigt praktische und theoretische Wege der Rechtsmobilisierung gegen heteronormative Ausschlüsse im Asylverfahren.
Sußners ausgezeichnete Monografie ist eine von wenigen deutschsprachigen Arbeiten zu LGBTIQ Personen auf der Flucht und die erste Untersuchung zu Österreich. Ihre Arbeit schließt an internationale rechtssoziologische Forschung zu LGBTIQ Personen auf der Flucht und im Asylverfahren an; zu nennen sind hier etwa Spijkerboer (Hrsg.), Fleeing Homophobia (2013); Giametta, The Sexual Politics of Asylum (2017); Dawson/Gerber, International Journal of Refugee Law 29 (2017), 292; Güler et al. (Hrsg.), LGBTI Asylum Seekers and Refugees from a Legal and Political Perspective (2019), Mole, Queer Migration and Asylum in Europe (2021); Wessels, Concealment Controversy (2021). Im deutschsprachigen Bereich gibt es nur wenig rechtssoziologische Forschung, etwa das Forschungsprojekt SOGICA – Sexual Orientation and Gender Identity Claims of Asylum (2016–2020); Tschalaer, Victimhood and femininities in Black lesbian asylum cases in Germany (2020) und Tschalaer, LGBTQI+ Muslim asylum assessment in Germany (2020).
Die meisten dieser Arbeiten fokussieren die Anerkennungsschwierigkeiten von queeren Personen im Asylverfahren; die Grundversorgung queerer Personen im Asylverfahren ist noch weniger beforscht, siehe etwa Rosano (Hrsg.), Access to Primary Care and Preventative Health Services of Migrants (2018); Dörr/Träbert, Asylmagazin 10 (2019), 344; Kleist et al., Gewaltschutz in Geflüchtetenunterkünften (2022).
Sußner zeigt, dass es bereits am Problembewusstsein für LGBTIQ-spezifische Gefährdungslagen in der Praxis fehlt und entsprechende Bescheide für besondere LGBTIQ-Unterkünfte selten ausgestellt oder eingeklagt werden. Der NGO Sektor gehe stattdessen eher den administrativen Weg. Sußner macht sich indes für eine strategische Mobilisierung des Rechtswegs zur Verbesserung der systematischen Mängel in der Grundversorgung von LGBTQI Geflüchteten stark – denn sollten Gerichte eine „sektorspezifische Vollauslastung“ (wie in Rs. C-79/13) feststellen, ergebe sich staatlicher Handlungsbedarf.
Sußner arbeitet heraus, wie sich Spannungsfelder in Hinblick auf das Asylverfahren daraus ergeben, dass ein Outing in vielen organisierten Unterkünften unsicher ist, während die Anerkennung LGBTIQ-spezifischer Verfolgung oft von einem Coming Out im Verfahren abhängig ist. Die besondere Verfahrensgebundenheit materiellrechtlichen Asylschutzes scheint auf in Sußners Fokus auf das „Ermittlungsdilemma“ im Verfahren: Wie soll, kann und darf ermittelt werden, ob eine LGBTIQ Person begründete Furcht vor Verfolgung hat? Das sogenannte „Diskretionsverbot“ verbietet, zu unterstellen, dass eine Person ihre SOGI aus Angst vor Verfolgung im Herkunftsstaat verbergen würde. Sußner zeigt, wie die Rechtsprechung mittelbar dennoch auf „Diskretion“ abstellt, z.B. bei der Figur „selbstbestimmter Closets“. In solchen Fällen verneint die Rechtsprechung die Verfolgungsgefahr, wenn Personen ihre sexuelle Orientierung „nur“ aus Angst vor der Reaktion des Nahfelds geheim halten. Wie „selbstbestimmt“ eine solche Geheimhaltung ist und wie wahrscheinlich und gefährlich ein Outing wäre, bleibt in der Rechtsprechung – wenn überhaupt – nebensächlich.
Wissenschaftlich besonders interessant ist Sußners Auseinandersetzung mit den Konventionsgründen. Heteronormativität als Analyserahmen muss hier besonders sensibel für die Kontexte anderer gruppenbezogener Erwartungen wie race und Klasse verwendet werden. Queere Geflüchtete werden meist als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe anerkannt – dabei sind (kulturelle) Vorstellungen über die Rolle von Geschlecht und Sexualität sehr wirkmächtig und für das Verfahren teilweise irreführend. Sußner argumentiert daher, der oft intersektionalen Verfolgungsgefahr konventionsgrundübergreifend zu begegnen.
Als Beispiel nutzt Sußner die Judikatur der „westlichen Orientierung“, die eine spezifische Verfolgung beschreiben soll: geschlechtsbezogen, politisch und religiös. Während diese Figur eine spezifische Verfolgungsposition umschreiben soll, zeigt sich in ihr jedoch die kritikwürdige Dichotomie zwischen einem westlichen, menschenrechtsorientierten Aufnahmestaat und dem menschenrechtsverletzenden, nicht-westlichen Herkunftsstaat – immer mit dem Risiko, die Gefahren im Aufnahmestaat für muslimische Frauen zu ignorieren.
Das Werk enthält viele Anknüpfungspunkte für weitere Forschung – etwa für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Schutzbedarfen unterschiedlicher Gruppen innerhalb des LGBTIQ Spektrums im Asylverfahren, z.B. zu „lesbian invisibility“ oder „homonationalism“. Entsprechend der Rolle als erstes thematisches Werk im österreichischen Kontext enthält Flucht-Geschlecht-Sexualität mitunter etwas längliche Ausführungen zu den Rechtsquellen im Mehrebenensystem des asylrechtlichen Schutzes und empfiehlt sich hier mehr als Nachschlagewerk, denn als „einfache“ Monografie.
Während der (europa)rechtliche Rahmen und die Fallstudien für den österreichischen Kontext aufbereitet sind, sind die Schlussfolgerungen und rechtlichen Argumente auch darüber hinaus wichtig für die Frage nach wirksamen asylrechtlichem (Gewalt)Schutz. Die praxeologische Herangehensweise, ausgehend von den Erfahrungen der Personen im Asylverfahren überzeugt dabei besonders. Vorteil des österreichischen Kontexts der Arbeit ist die (relativ) überschaubare Rechtsprechung, die Anwendbarkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen, und – nicht zuletzt – die Verwendung von Wörtern wie Stiegenhaus.
Sußners Buch ist damit für Wissenschaft und Praxis gleichsam empfehlenswert.
Pia Lotta Storf, Münster
- Botha, Kellyn (ILGA), Our identities under arrest: A global overview on the enforcement of laws criminalising consensual same-sex sexual acts between adults and diverse gender expressions, Genf 2021. ↩
- Vgl. Lüter/Breidscheid et al, Berliner Monitoring Trans- und Homophobe Gewalt II, 2022; LSVD, Chronik von Straftaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI), abrufbar unter https://www.lsvd.de/de/ct/3958-Alltag-Homophobe-und-transfeindliche-Gewaltvorfaelle-in-Deutschland; BMI, „Queerfeindliche Hasskriminalität entschieden bekämpfen und Betroffene unterstützen“ Pressemitteilung vom 05.09.2022, abrufbar unter https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2022/09/queerfeindleiche-hasskriminalitaet-bekaempfen.html. ↩
- Ritholtz, Samuel/Buxton, Rebecca. Sanctuary after Asylum: Addressing a Gap in the Political Theory of Refuge. American Political Science Review. 2023;117(3):1166-1171. doi:10.1017/S0003055422001150. ↩