STREIT 3/2025

S. 122-126

VG Regensburg, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, Art. 3 d, 10 Abs. 1 d, 60 Abs. 2 Istanbul Konvention

Flüchtlingseigenschaft für kinderlose unverheiratete Frau aus Eritrea wegen drohender Einberufung in Nationaldienst

1.) Frauen drohen im Fall einer Einberufung in den eritreischen Nationaldienst sexuelle Übergriffe und sie werden als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe mit abgegrenzter Identität angesehen.
2.) Machtdemonstrationen gegenüber Rekrutinnen müssen im Zusammenhang mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft gesehen werden. Sexuelle Übergriffe auf weibliche Rekrutinnen im Militärdienst erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie Frauen sind bzw. solche Übergriffe betreffen unverhältnismäßig oft Frauen.
(Leitsätze der Redaktion)

VG Regensburg, Urteil vom 17.12.2024 – RN 2 K 24.31013

Zum Sachverhalt:
Die im Jahr 1999 geborene eritreische Klägerin wendet sich gegen die vollständige Ablehnung ihres Asylantrags. Die Klägerin hat in der 10. Klasse die Schule abgebrochen und keinen Wehr- bzw. Nationaldienst geleistet. Regierungssoldaten hatten sie gesucht, um sie zur Ableistung des Dienstes zu verpflichten, so dass sie sich verstecken musste und deshalb das Land verlassen hat. Nachdem die Klägerin das Land verlassen hatte, wurde ihre Mutter wegen der illegalen Ausreise der Klägerin inhaftiert und erhält seitdem keine Witwenrente mehr.
Die Klägerin traut dem Diaspora-Status nicht und möchte auch kein Reuebekenntnis unterschreiben, weil sie der Regierung nicht vertraue. Sie ist kinderlos, nicht schwanger und mit einem außerhalb von Eritrea lebenden Mann verlobt.

Aus den Gründen:
[…] 15 Die Klage ist zulässig und begründet.
16 1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. […]
20 Der Klägerin droht nach Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes, die sie auch nicht durch Erlangung des Diasporastatus vermeiden kann.
21 a) Gemäß der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23.10.1995 sind in Eritrea Männer und Frauen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr nationaldienstpflichtig („active national service“) und gehören bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Reservearmee („reserve military service“) an (Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 4). Nach abweichenden Angaben soll sich das Höchstalter für den Wehr- und Nationaldienst seit 2009 für Männer auf 57 und für Frauen auf 27 bzw. 47 Jahre belaufen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Amnesty International (AI) an VG Magdeburg vom 2.8.2018). In der Praxis kommt es vor, dass Eritreer bereits ab dem Alter von etwa 16 Jahren als dienstpflichtig behandelt werden, wobei teilweise auch noch jüngere Eritreer rekrutiert werden. Maßgeblich für die Rekrutierung ist nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 32 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 36 f.; SFH, Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH Länderanalyse, 6.12.2021, S. 1 ff.).
Alle Dienstpflichtigen absolvieren gem. Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 zuerst eine sechsmonatige militärische Ausbildung und werden dann entweder dem militärischen Teil unter dem Verteidigungsministerium zugeteilt oder einer zivilen Aufgabe, die von einem anderen Ministerium verwaltet wird. Angehörige des militärischen Teils leisten Dienst im eritreischen Militär (Armee, Marine oder Luftwaffe). Teilweise leisten sie auch Arbeitseinsätze im Aufbau von Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Sie leben auf militärischen Stützpunkten und sind in Einheiten eingeteilt. Angehörige des zivilen Teils leisten ihren Dienst in zivilen Projekten. Zu diesem Zweck teilt sie die Regierung verschiedenen Ministerien zu. Meist handelt es sich um Personen mit guter Ausbildung oder speziellen Fähigkeiten.
Typisch sind Einsätze an Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung. Ihren zugeteilten Aufgaben gehen die Dienstleistenden wie einer normalen Arbeit nach. Sie leben mit ihren Eltern, Familien oder in privaten Wohnungen am Arbeitsort (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise (Stand: 22.6.2016), S. 11 f.). Zuständig für die Einteilung der Wehrpflichtigen in den militärischen bzw. zivilen Teil ist das Verteidigungsministerium (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25).
Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung erlassen wird (Art. 13 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche.

Faktisch werden verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter in der Regel jedenfalls von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen (vgl. Danish Immigration Service (DIS), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 29; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 34, vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Ein Einsatz im zivilen Bereich des Nationaldienstes bleibt aber auch für verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter möglich (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 15). Nach Art. 21 der Proklamation Nr. 82/1995 kann die Dienstpflicht im Falle eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung über die Dauer von 18 Monaten hinaus verlängert werden, sofern die zuständige Behörde den Dienstpflichtigen nicht offiziell entlassen hat.
Seit dem Grenzkrieg mit Äthiopien rechtfertigt die eritreische Regierung die unbeschränkte Dauer des Nationaldiensts mit der Bedrohung durch Äthiopien. Der 1998 verhängte faktische Ausnahmezustand wurde seither nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran (Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 14; Danish Refugee Council (DRC), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.; EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 4 f.; AI; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).

22 Die zum Zeitpunkt der Entscheidung 25-jährige Klägerin ist im dienstpflichtigen Alter, nach ihren Angaben vom 2.12.2024 und in der mündlichen Verhandlung vom 17.12.2024 nicht verheiratet, nicht schwanger und kinderlos. Danach ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea in den militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen wird bzw. jedenfalls eine sechsmonatige militärische Ausbildung abzuleisten hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die wichtigste Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst das Schulsystem darstellt, in das die Klägerin nicht zurückkehren würde. Gleiches gilt für die Annahme der Beklagten, dass auch eine Rekrutierung außerhalb des Schulsystems für die Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich sei, da die eritreischen Behörden nicht mehr die Kapazitäten zu haben scheinen, alle Dienstverweigerer systematisch zu Hause aufzusuchen, um sie zu verhaften oder zu rekrutieren und es auch trotz „giffas“ zahlreichen Dienstverweigerern gelinge, sich längerfristig auch diesen Kontrollen zu entziehen.
Bei dieser Betrachtungsweise der Beklagten lässt diese völlig außer Betracht, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea einreisen muss und damit eine Einreisekontrolle durchlaufen muss. Es ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bei der Situation eines Rückkehrers davon auszugehen, dass dieser nach seinem Nationaldienststatus befragt und damit unmittelbar im Visier der Behörden ist. So berichtet EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundene Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei Tesseney zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Auch nach Auffassung des SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer „giffa“ der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d. h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt würden (vgl. auch OVG Lüneburg U. v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online).
23 Die Gefahr der Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes im Rahmen der Einreisekontrolle oder einer „giffa“ ist bei der Klägerin zudem dadurch erhöht, dass sie sich der „regulären“ Rekrutierungsmethode im Schulsystem entzogen hat, indem sie die Schule in der 10. Klasse, also noch vor der Versetzung in das Militärlager „Sawa“, abgebrochen hat. […]

24 b) Dem steht auch nicht die Tatsache entgegen, dass die Klägerin verlobt ist. Wie ausgeführt werden verheiratete Frauen und Mütter in der Regel nicht in den militärischen Teil des Nationaldienstes berufen. Soweit in diesem Kontext teilweise in Rechtsprechung (OVG Hamburg, U. v. 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A – juris Rn. 47) oder (älteren) Erkenntnismitteln (EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 33 f.) auch verlobte Frauen genannt werden, so kann sich die Annahme der Befreiung verlobter Frauen vom militärischen Teil des Nationaldiensts jedenfalls nicht auf die aktuelle Erkenntnislage stützen (so bereits VG Hamburg U. v. 13.2.2019 – 19 A 984/18 – juris Rn. 33- 42). Vielmehr findet sich in den aktuellen Erkenntnismitteln – so insbesondere auch dem letzten EASO Bericht vom September 2019, S. 33 f. – kein Hinweis mehr auf verlobte Frauen, sondern nur auf Schwangere, Mütter und verheiratete Frauen (vgl. auch AA Lagebericht vom 16.10.2024 S. 14; SEM, Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016 S. 49). Dabei ist zu beachten, dass bereits die eingangs genannten Befreiungen keineswegs rechtssicher garantiert werden, sondern vielmehr der Willkür der Rekrutierungsbeamten unterliegen (AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 28; SEM, National Service and State Structures in Eritrea (agreed minutes of presentation at the Federal Office for Migration, Bern), 16.2.2012, S. 9; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, HerkunftsländerInformationsbericht, September 2019, S. 33 f.).
Im Kontext der Verlobung trägt zu zusätzlicher Unsicherheit bei, dass Berichten zufolge vom Nationaldienst befreite Frauen im Rahmen von „giffas“ auch dann zum Dienst eingezogen wurden, wenn sie den Grund für ihre Befreiung nicht nachweisen konnten (Røsberg/Tronvoll Migrants or Refugees? The internal and external drivers of migration from Eritrea, Project Report 14.02.2017, S. 75; SEM, National Service and State Structures in Eritrea (agreed minutes of presentation at the Federal Office for Migration, Bern), 16.2.2012, S. 9). Eine Verlobung kann nicht ohne weiteres nachgewiesen werden, insbesondere wenn diese im Ausland stattfand und sich der Verlobte nicht in Eritrea aufhält. Weiterhin ist zu beachten, dass Sinn der Dienstbefreiungen für Mütter, Schwangere und verheiratete Frauen ist, dass die vom militärischen Teil des Nationaldiensts befreiten Frauen sich als Mütter um die Erziehung ihrer Kinder kümmern (vgl. VG Augsburg, U. v. 11.4.2024 – Au 9 K 23.30697 –, Rn. 31, juris; VG Bayreuth, U.v. 15.03.2021 – B 8 K 18.31541 –, S. 8 juris) bzw. als Ehefrauen Kinder zeugen und sich sodann um diese Kinder kümmern sollen, wie sich etwa darin zeigt, dass im zivilen Teil des Nationaldiensts tätige Mütter anders als Frauen im militärischen Teil zuhause bei ihren Familien leben dürfen (vgl. Kibreab, The Open-Ended Eritrean National Service: The Driver of Forced Migration, 15./16. Oktober 2014, S. 12 f.).
Es ist fernliegend, dass der Klägerin in Anbetracht dieser Hintergründe eine Befreiung vom militärischen Teil des Nationaldienst gewährt würde. Aus ihrem im Ausland geschlossenen Verlöbnis mit einem Mann, der sich selbst nicht in Eritrea aufhält, können nicht ohne Weiteres Kinder folgen, um die sich die Klägerin zu kümmern hätte. Es besteht also eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin trotz der bestehenden Verlobung in den militärischen Teil des Nationaldienstes einberufen werden würde. […]

25 c) Das Aufgebot in den Nationaldienst kann die Klägerin nicht durch Erlangung des sog. Diaspora-Status abwenden, da zum einen nicht ausreichend gesichert ist, dass sie diesen überhaupt erlangen kann, und zum anderen ihr der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes bieten würde, unabhängig davon, ob ihr ein Nachsuchen überhaupt zumutbar ist.
26 (1) Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea wohl von vornherein nicht in Betracht. […]
27 Der Diaspora-Status wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreern angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Status richtet sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.).
Anders als freiwillige Rückkehrer haben zwangsrückgeführte Personen nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44). […]
28 (2) Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Gefahr der Einberufung in den Nationaldienst durch freiwillige Ausreise und Rückkehr unter dem Diaspora-Status nach Eritrea abwenden zu können. […]
30 Allerdings ist nach der Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bereits nicht gesichert, dass die Klägerin den Diaspora-Status überhaupt erlangen kann. […]
34 (3) Aber selbst wenn man annimmt, dass die Klägerin bei einer freiwilligen Rückkehr den Diaspora-Status jedenfalls zunächst erlangen könnte, wofür sprechen könnte, dass auf diesem Weg auch Knowhow nach Eritrea geholt werden kann, ist fraglich, ob ihr ein Nachsuchen des Diaspora-Status zumutbar ist. […]
37 Die Klägerin war im Zeitpunkt ihrer Ausreise zwar noch nicht im dienstpflichtigen Alter. Sie war jedoch bereits in der 10. Klasse und damit kurz vor der Versetzung in das Ausbildungslager „Sawa“ zur Vorbereitung auf die Einziehung in den Nationaldienst. Indem sie die Schule abgebrochen hat, hat sie sich zugleich der wichtigsten Rekrutierungsmethode zum Nationaldienst entzogen. Sie ist mit einem Alter von nunmehr 25 Jahren inzwischen auch im nationaldienstpflichtigen Alter. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass im Falle der Klägerin die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ verlangt wird. […]
46 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Klägerin nicht auf eine freiwillige Ausreise unter dem Diaspora-Status verwiesen werden kann, da sie diesen weder gesichert erlangen kann, ein Nachfragen wohl unzumutbar wäre und er sie jedenfalls nicht vor der beachtlichen Gefahr einer alsbaldigen Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes ausreichend schützen würde. […]

47 d) Bei einer Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes droht der Klägerin aufgrund drohender sexueller Übergriffe nach Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. […]
49 Die Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe a AsylG wird von weiblichen Rekrutinnen bereits aufgrund der angeborenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht begründet. Aber auch die Voraussetzung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b AsylG liegen für Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes vor. Zwar schließt das selbständige Erfordernis der „deutlich abgrenzbaren Identität“ eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 oder Abs. 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (EuGH, U. v. 25.1.2018 – C-473/16 – juris; BVerwG, B. v. 23.9.2019 – 1 B 54.19 – juris; OVG Münster, B. v. 21.9.2020 – 19 A 1857/19.A – juris). Hiervon geht auch die Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 – C 621/21 – beck-online aus, in der der Gerichtshof ausführt, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unabhängig von den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie festgestellt werden muss, denen die Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland ausgesetzt sein können. […] Allerdings führt die Zugehörigkeit zum Geschlecht der Frauen und die in Eritrea Frauen gegenüber bestehende Einstellung und die Rahmenbedingungen im militärischen Bereich des Nationaldienstes dazu, dass Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes, zu dessen Ableistung sie grundsätzlich verpflichtet sind, gegenüber den männlichen Rekruten anders angesehen und behandelt werden und damit eine „soziale Gruppe“ i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegt (anders OVG Berlin-Brandenburg, U. v. 29.9.2022 – 4 B 14/21; VG Berlin, U. v. 6.2.2023 – VG 28 K 505.17.A; OVG Münster, B. v. 21.9.2020 – 4 B 21.9.2020 – 19.A.; OVG Lüneburg, B. v. 9.2.2022 – 4 LA 74/20 – jeweils beck-online).
Zwar geht der zuständige Einzelrichter nicht davon aus, dass Frauen gerade zu dem Zweck rekrutiert werden, um für sexuelle Dienste von Vorgesetzten zur Verfügung zu stehen. Ihre Einberufung erfolgt vielmehr im Zuge der allgemeinen Dienstpflicht, unter die auch konsequent Frauen fallen. Auch, dass diese Frauen, die in den militärischen Bereich einberufen werden, häufig Funktionen wie Köchinnen, Putzkraft, Wäscherin, persönliche Assistentin des Kommandanten oder Büromitarbeiterin zugeteilt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 26), führt alleine nicht automatisch zu einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Diese Tätigkeiten sind nicht automatisch mit einem sexuellen Bezug belegt, sondern im militärischen Bereich notwendig.
Allerdings ist nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass es gerade im militärischen Bereich und gerade in diesen Funktionen gehäuft zu sexuellen Übergriffen kommt und hiergegen nicht eingeschritten wird (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea S. 8; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6 May 2022, A/HRC/50/20, S. 7; Danish Refugee Council, Country Report Eritrea, January 2020, S. 22; SFH Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2018 zu Eritrea, Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3).
Dabei deuten die Erkenntnismittel auf eine kontinuierliche Verschlechterung der Dienstbedingungen hin (vgl. VG Bremen, U.v. 24.11.2023 – 7 K 297/22 – BeckRS 2023, 45673, Rn. 42), womit auch eine tendenzielle Verschlechterung der Lage von Frauen im Militärdienst naheliegt. Nach dem letzten Bericht der früheren VN Sonderberichterstatterin Sheila B. Keetaruth stelle die anhaltende Leugnung der Existenz sexueller Ausbeutung und Gewalt in der Armee durch die Regierung eine Verweigerung der Rechte der Frauen dar, die dringend abgestellt werden müsse (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14). Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln geht der zuständige Einzelrichter davon aus, dass die nach den Erkenntnismitteln weit verbreitete Annahme, dass weibliche Rekrutinnen ihren Vorgesetzten auch in sexueller Hinsicht zur Verfügung stehen, auch in der Rolle der Frau im sozialen Kontext und ihrem mangelnden gesellschaftlichen Schutz zu sehen ist (vgl. allgemein auch Gaim Kibreab, Sexual Violence in the Eritrean National Service).
Soweit bislang davon ausgegangen wurde, dass Misshandlungen, Willkür und Machtmissbrauch gegenüber Untergebenen allgemein im militärischen Bereich des Nationaldienstes verbreitet sind und die sexuellen Übergriffe gegenüber Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes eine besondere Form der Misshandlung im Rahmen des Nationaldienstes neben anderen Formen von Misshandlungen gegenüber allen Dienstverpflichteten unabhängig vom Geschlecht sei, erscheint dies im Lichte der Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 (s. o.) nicht mehr sachgerecht. Zwar sind sowohl die Misshandlungen als auch die sexuellen Übergriffe darin bedingt, dass den Vorgesetzten fast unbegrenzte Macht gegenüber den Rekruten zukommt. Dennoch ist auch zu berücksichtigen, dass die Machtdemon­stration bei Frauen geschlechtsspezifische Formen hat und auch im Zusammenhang mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft zu sehen ist. Anders als ihre männlichen Kollegen sind sie auf Grund ihres Geschlechts auch sexueller Gewalt ausgesetzt bzw. werden unter Strafandrohung unter Druck gesetzt, zu sexuellen Diensten zu sein. Daneben tragen auch sie das Risiko, bei Fehlverhalten im Dienst bestraft und dabei menschenunwürdig behandelt zu werden. Das zusätzliche Risiko, bestraft zu werden, weil sie nicht zu sexuellen Diensten sein wollen, tragen nur weibliche Rekrutinnen. Auch dies spricht dafür, dass weibliche Rekrutinnen aufgrund ihres Geschlechts im militärischen Bereich des Nationaldienstes anders angesehen und behandelt werden als männliche Rekruten.
Auch tragen nur Frauen in Eritrea das Risiko einer Stigmatisierung, wenn sie unehelich schwanger werden, selbst bei einer Vergewaltigung (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 15).

Sexuelle Übergriffe auf weibliche Rekrutinnen im Militärdienst erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie Frauen sind bzw. betreffen solche Übergriffe unverhältnismäßig oft Frauen, womit eine geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchstabe d der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht des Einzelrichters nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Im Lichte einer geschlechtersensiblen Auslegung geht daher der zuständige Einzelrichter davon aus, dass Frauen, die beachtlich wahrscheinlich in den militärischen Bereich einberufen werden, eine geschlechtsspezifische Verfolgung droht.
Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes, die im Gegensatz zu Männern im regulären Dienst Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, entsprechend dem oben Ausgeführten als soziale Gruppe mit abgegrenzter Identität angesehen werden. […]