STREIT 2/2022
S. 89-93
VG Stuttgart, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG
Flüchtlingseigenschaft lesbischer Nigerianerin
1. Homosexuellen Frauen droht in Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung und Diskriminierung von Seiten staatlicher und nicht staatlicher Akteure, die in ihrer Kumulierung als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu beurteilen sind.
2. Alleinstehende homosexuelle nigerianische Frauen können nicht auf internen Schutz verwiesen werden. Der Zugang zu Arbeit und Obdach ist für sie erschwert, da sie sowohl als Frau als auch als Homosexuelle gleich zwei Arten von Stigmatisierung in Nigeria ausgesetzt sind.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Stuttgart vom 26.11.2021, A 12 K 3847/19
Zum Sachverhalt:
Die am 30.11.1995 geborene Klägerin nigerianischer Staatsangehörigkeit vom Volk der Edo christlichen Glaubens reiste am 02.07.2017 über Italien in die BRD ein und stellte am 25.07.2017 förmlich einen Asylantrag in Deutschland. Bei der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden Bundesamt) trug sie im Wesentlichen vor, dass sie Nigeria am 03.05.2016 wegen ihrer Homosexualität und der Schulden ihres Vaters, welche sie mit Hilfe von Arbeitsleistungen in Europa habe begleichen sollen, verlassen habe. Sie habe sechs Jahre die Schule besucht, anschließend in der Landwirtschaft ihrer Eltern und in den letzten sieben Monaten vor ihrer Ausreise auf einem Markt in Benin City gearbeitet. Über eine Kundin auf dem Markt sei sie nach Italien vermittelt worden, um dort zu arbeiten. Es habe sich aber in Italien herausgestellt, dass sie der Prostitution nachgehen sollte. Da sie sich geweigert habe, sei ihre Familie bedroht worden.
Im Alter von 13 Jahren habe sie bemerkt, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühle. Mit 15 Jahren habe sie hiervon ihre Familie in Kenntnis gesetzt und auch ihre erste Beziehung zu einer Frau gehabt. Den Jungs in ihrem Dorf, die sich für sie interessierten, habe sie ihre Homosexualität auch offenbart.
In ihrer ergänzenden Anhörung beim Bundesamt trug sie vor, dass ihre Eltern früh verstorben seien, weshalb sie bei ihrer Großmutter aufgewachsen sei. Die Schulden, die sie in Italien habe abarbeiten sollen, seien von ihrer Großmutter gewesen. Auf Rat einer Freundin sei sie schwanger von einem Mann geworden, den sie nicht mochte, um ein Aufenthaltsrecht zu erhalten. Aktuell sei sie mit einer Nigerianerin namens Sunday Happy liiert. Am 05.02.2018 hat die Klägerin einen Sohn geboren.
Das Bundesamt lehnte die Anträge der Klägerin vollumfänglich ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Vortrag der Klägerin sei aufgrund der zahlreichen Widersprüche nicht glaubhaft. Die Klägerin hat hiergegen am 07.06.2019 Klage erhoben. Die Klägerin wurde in der mündlichen Verhandlung angehört und hat vorgetragen, wegen ihrer Homosexualität nicht nach Nigeria zurückkehren zu können. Ihre Großmutter sei im vergangenen Jahr gestorben und nun habe sie keine Kontakte mehr nach Nigeria. Im Alter von 13 oder 14 Jahren habe sie bemerkt, dass sie sich Mädchen hingezogen fühle und habe Kontakte zu Mädchen gesucht, die genauso dächten. Vor ihrer Ausreise sei sie in einer Beziehung mit einem Mädchen namens Tina gewesen. Ihre Großmutter und auch die Eltern von Tina seien gegen die Beziehung gewesen. Die Eltern von Tina hätten sie einmal zur Polizei gebracht, die sie für zwei Tage festgehalten habe. Sie sei aufgefordert worden, die Beziehung zu beenden. Letztlich hätten die Eltern von Tina und ihre Großmutter beschlossen, Tina und sie zu trennen. Ihre Großmutter habe sie zu ihrer Tante nach Benin City gebracht.
Eine Frau namens Mama Joy habe sie auf dem Markt kennengelernt und diese habe ihr angeboten, ihr eine Arbeit in Italien zu besorgen. Sie könne so die Schulden ihres Vaters zurückbezahlen. In Italien habe Mama Joy gewollt, dass die Klägerin sich prostituierte. Die Klägerin habe sich geweigert, weshalb sie geschlagen und eingesperrt worden sei. Nach drei Monaten sei ihr mit der Hilfe der Nachbarin die Flucht gelungen. Am Bahnhof habe ihr ein Landsmann Hilfe angeboten. Er habe ihr versprochen, sie in ein Flüchtlingscamp zu bringen. Er habe sie zunächst zu sich mit nach Hause genommen und sich ihr sexuell genähert. Sie habe ihm gesagt, dass sie eine andere Sexualität habe, das habe ihn jedoch nicht gestört. Weil sie auf Hilfe angewiesen gewesen sei, habe sie den Mann tun lassen, was er gewollt habe. Am nächsten Tag habe er sie in das Flüchtlingscamp in Sizilien gebracht. […] Weil sie bemerkt habe, dass sie von ihm schwanger geworden sei und es ihr gesundheitlich nicht so gut gegangen sei, sei sie nach Deutschland gekommen. Dabei war sie zunächst mit Amarachi zusammen, die sie bereits aus Nigeria kannte. Danach habe sie mehr als ein Jahr eine Beziehung mit einer Frau namens Sunday Happy gehabt. Seit einigen Monaten sei sie mit einer neuen Partnerin namens Feywo liiert, sie hätten sich in der LGBT-Szene in München kennengelernt. Kontakt zu ihrer Tante in Nigeria habe sie nicht gehabt, weil sie der Tante vorwerfe, sie nach Europa zur Prostitution geschickt zu haben.
(Zusammenfassung der Redaktion)
Aus den Gründen:
Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. […] [Es besteht] für die Klägerin eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, hier konkret wegen der sexuellen Orientierung, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
Insofern kann offen bleiben, ob in Nigeria tatsächlich eine Vorverfolgung wegen ihrer Sexualität stattgefunden hat und ob die Klägerin im Zusammenhang mit der Verbringung nach Europa im Jahr 2014 zudem Opfer organisierten Menschenhandels zum Zwecke sexueller Ausbeutung geworden ist. Die Klägerin hat jedenfalls bei einer Rückkehr eine begründete Furcht, als Homosexuelle in Nigeria Verfolgung zu erleiden.
a. Homosexuelle bilden in Nigeria eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs.1 Nr. 4 AsylG. […]
b. Die Klägerin gehört dieser sozialen Gruppe an, denn es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin homosexuell ist. Auf persönlich geprägte und nachvollziehbare Weise hat die Klägerin beschrieben, wie sie ihre homosexuelle Orientierung entdeckt und wie sie diese zunächst in Nigeria ausgelebt hat und mittlerweile in Deutschland auslebt. Auch wenn nicht alle Angaben der Klägerin zu ihren Fluchtgründen zur Überzeugung des Gerichts feststehen, zweifelhaft bleibt insbesondere der (frühe) Tod der Eltern, ist das Gericht aufgrund des persönlichen Eindrucks, den es von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, davon überzeugt, dass die Angaben über ihre Homosexualität der Wahrheit entsprechen.
[…] So hat die Klägerin glaubhaft in der mündlichen Verhandlung ihre Beziehungen in Nigeria und Deutschland dargelegt. […] Aus Sicht des Gerichts kann auch nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin über ihre inneren Vorgänge im Rahmen des „inneren und äußeren Coming-Out-Prozesses“ bei ihren beiden Anhörungen nicht berichtet hat, nicht darauf geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig ist. Denn im Rahmen ihrer beiden Anhörungen wurden der Klägerin solche ins Detail gehenden Fragen nicht gestellt und es erscheint plausibel, dass die Klägerin angesichts des sensiblen Charakters der Thematik nicht von sich aus darüber berichtet.
Für das Gericht war die Homosexualität der Klägerin in der mündlichen Verhandlung offensichtlich. Sie vermittelte eine offene Haltung gegenüber ihrer Sexualität und einen authentischen Eindruck. Ihre burschikos wirkende Art zeigte sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild und in ihrem gesamten Verhalten. Die Klägerin hat zudem angegeben, dass sie die Homosexualität ihr ganzes Leben gefühlt habe und auch dazu gestanden habe. Sie könne und wolle nicht anders sein. Deshalb habe sie in Nigeria mit ihrer damaligen Freundin Tina (vergeblich) darum gekämpft, dass ihre Beziehung von den Familien akzeptiert werde. Auch sei sie im Dorf für ihre Sexualität eingestanden und habe entsprechende Annäherungsversuche von Jungen mit der Begründung ihrer andersartigen Sexualität abgewiesen. Die Klägerin hat weiter detailreich und glaubhaft geschildert, dass sie in Italien im Flüchtlingscamp über facebook in der LGBT-Szene unterwegs gewesen sei und darüber Kontakte zu lesbischen Landsfrauen gepflegt habe. Glaubhaft waren ihre Schilderungen, dass sie in Deutschland bislang drei homosexuelle Beziehungen gehabt hat.
In der mündlichen Verhandlung war ihre derzeitige Lebensgefährtin anwesend. In der Art des gemeinsamen Umgangs mit sich und dem Kind der Klägerin war die Beziehung als Paarbeziehung wahrnehmbar. Auch ihre Einlassung über ihre Schwangerschaft war insofern überzeugend, als sie angab, sich nicht aus sexueller Zuneigung mit ihrem Landsmann in Italien eingelassen zu haben. Die Frage, ob sie sich nur deshalb diesem Mann hingegeben hat, um Hilfe zu erhalten – wie in der mündlichen Verhandlung angegeben –, oder ob sie dabei auch gehofft hat, schwanger zu werden – so ihre Einlassung in der Anhörung beim Bundesamt –, ist mit Blick auf die sexuelle Ausrichtung der Klägerin ohne Belang. Auch ist darin kein Widerspruch erkennbar. Für das Gericht steht damit fest, dass die Klägerin homosexuell ist und dieses Verhalten auch offen ausleben möchte, zumal die Klägerin bereits vor ihrer Ausreise in Nigeria bereit war, den Bruch mit der Familie und die Diskriminierungen in der Gesellschaft in Kauf zu nehmen.
c. Ausgehend hiervon droht der Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria auch eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr.2 AsylG.
Der Klägerin droht bei der gebotenen individuellen Gefahrenprognose unter Gesamtwürdigung ihrer Person und bei Berücksichtigung ihrer bisherigen Lebensführung in Nigeria zwar nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung durch den nigerianischen Staat, wohl aber von Seiten der Mehrheitsbevölkerung systematische Ausgrenzung, die bei kumulativer Betrachtung als flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung i. S. d. § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG anzusehen ist.
In tatsächlicher Lage stellt sich die Lage homosexueller Personen in Nigeria wie folgt dar. Homosexuelle Handlungen jeglicher Art [sind] in Nigeria sowohl nach säkularem Recht (mit Freiheitsstrafe – bei vollzogenem Verkehr mit einer Freiheitsstrafe bis zu 14 Jahren) als auch nach Scharia-Recht (Haft, Stockschläge oder Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. Hinzu kommt, dass im Januar 2014 der damalige Präsident Nigerias ein weiteres Gesetz mit dem Namen „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ unterzeichnet hat. Danach droht Homosexuellen eine Freiheitsstrafe von bis zu vierzehn Jahren, wenn sie einen (verbotenen) Ehevertrag oder eine (verbotene) zivilrechtlich eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingehen. Personen, die an einer solchen Zeremonie teilnehmen oder sie unterstützen, droht zehn Jahre Haft. Das öffentliche Zeigen der Liebesbeziehung zu einem Menschen gleichen Geschlechts, „direkt oder indirekt“, kann mit einer ähnlich hohen Haftstrafe geahndet werden. Auch die bloße Mitwisserschaft ist strafbar. (vgl. zum Ganzen VG Aachen, U. v. 20.2.2019 – 2 K 1522/17.A-, juris Rn. 38 ff. m. w. N.).
aa. Trotz der bestehenden Strafvorschriften droht der Klägerin eine auf die Vornahme gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen gestützte Verurteilung nach diesen Gesetzen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Denn allein der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, begründet noch keine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG. Dies hat der Europäische Gerichtshof in Bezug auf Art. 9 Abs. 1 i. V. m. Art. 9 Abs. 2 lit. c der Qualifikationsrichtlinie (damalige Fassung: 2004/83/EG vom 29. April 2004) festgestellt (EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12-, juris, Rn. 55). Vielmehr ist eine Verfolgung in Form einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung i. S. d. Art. 9 Abs. 2 fit. c Qualifikationsrichtlinie erst dann anzunehmen, wenn die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellenden Vorschriften auch tatsächlich angewandt werden und dabei Freiheitsstrafen verhängt werden (EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 -, juris, Rn. 61; vgl. auch EGMR, Urt. v. 17.11.2020-B and Cv. Switzerland -43987/16 und 889/19-14, BeckRS 2020, 30964, Rn, 59). In Nigeria sind kaum Fälle von Strafverfolgung Homosexueller bekannt geworden, kein einziger Fall ist bekannt, bei dem die Todesstrafe umgesetzt wurde, weshalb nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass die die homosexuellen Handlungen kriminalisierenden Vorschriften angewendet werden. Auch unter der Scharia kam es nur zu wenigen Verurteilungen. Auch die Rechtsänderung mit der Einführung des „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ hat bisher nicht zu einer flächendeckenden verschärften Strafverfolgung geführt. Bisher sei es nach Kenntnis der Botschaft noch nicht zu Verurteilungen nach dem neuen Gesetz gekommen. Auch für betroffene Homosexuellen-NGOs hatte diese Gesetzgebung kaum Auswirkungen; keine der Organisationen musste die Arbeit einstellen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, vom 30.09.2021, S. 43 ff., m. w. N.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 05.12.2020, S. 13). Insofern ist nicht davon auszugehen, dass der Klägerin eine Verfolgung aufgrund der bestehenden Strafvorschriften droht.
bb. Die Klägerin hat jedoch bei einer Rückkehr nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Ächtung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung sowie mit Diskriminierung von Seiten staatlicher und nicht staatlicher Akteure gemäß § 3c Nr. 3 AsylG zu rechnen, die in ihrer Kumulierung als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs, 1 Nr. 2 AsylG zu beurteilen sind.
Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann eine Verfolgung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise wie durch eine schwerwiegende Verletzung ihrer Menschenrechte (§ 3a Abs.1 Nr. 1 AsylG) betroffen ist. Es muss sich bei derartigen Handlungen um Maßnahmen handeln, die zwar jeweils einzeln betrachtet keine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte darstellen, die aber diskriminierend sind und im Ergebnis dazu führen, dass der Person die Teilnahme am zivilgesellschaftlichen Leben nahezu verunmöglicht wird. Derartige Handlungen können etwa darin zu erblicken sein, dass einer bestimmten Gruppe von Personen der Zugang zu Bildung, Arbeit, sozialen und medizinischen Leistungen erschwert oder vollständig verweigert wird (BeckOK AuslR/Kluth, 29. Ed. 01.01.2021, AsylG § 3a Rn. 13). In die erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen der bestimmten Gruppe einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 -10 C 23/12 -, juris, Rn. 36). In Kumulierung müssen die festgestellten diskriminierenden Maßnahmen eine ausweglose Lage hervorrufen, die ähnlich wie eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte auf den Einzelnen einwirkt.
In einer derartigen schwerwiegenden Verletzung der Menschenrechte gleichstehenden Lage befindet sich zur Überzeugung des Gerichts die Klägerin, die ihre sexuelle Orientierung von Anfang an offen auslebt. Von Teilen der nigerianischen Mehrheitsbevölkerung drohen Homosexuellen Ausgrenzung, Feindseligkeit, Diskriminierung, Bedrohung und gar körperliche Angriffe in allen Lebensbereichen – von Seiten der Familie, von Arbeitgebern, Nachbarn und wohl auch von einzelnen Repräsentanten des nigerianischen Staates. Insbesondere aus dem Bundesstaat Edo State, der Heimatregion der Klägerin, wird berichtet, dass eine Person, die sich gegenüber der Familie outet, zur Kirche bzw. zu einer Konversionstherapie („conversion therapy“) gebracht oder geschlagen wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl: zur Lage sexueller Minderheiten unter Hinzunahme der lnformationen der FFM Nigeria 2019, Update der Analyse sexuelle Minderheiten vom 30.9.2016 vom 15.09.2020, S. 60). Darüber hinaus werden homosexuelle Frauen oft vergewaltigt – mitunter auch in von der eigenen Familie organisierten Vergewaltigungen. Andere werden schnell – und manchmal unter Zwang – verheiratet. Wieder andere werden von ihren Familien eingesperrt oder verstoßen. (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl: zur Lage sexueller Minderheiten unter Hinzunahme der Informationen der FFM Nigeria 2019, Update der Analyse sexuelle Minderheiten vom 30.9.2016 vom 15.09.2020, S. 9, 11 und 56). Im Fall der Klägerin wurde sie von ihrer Familie mittels einer Menschenhandelsorganisation nach Europa geschickt. Daneben erfahren Homosexuelle auch am Arbeitsplatz Diskriminierungen und werden mitunter z.B. von Vermietern oder Jugendlichen gezwungen, ihre Wohnung zu räumen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl: zur Lage sexueller Minderheiten unter Hinzunahme der Informationen der FFM Nigeria 2019, Update der Analyse sexuelle Minderheiten vom 30.9.2016 vom 15.09.2020, S. 48 und 56).
Der Erlass der „Same Sex Marriage (Prohibition) Bill“ hat zu einer weiteren Stigmatisierung von Lesben und Schwulen geführt. So werden Homosexuelle oftmals von der Polizei schikaniert und misshandelt und von der Bevölkerung gemobbt oder mittels Selbstjustiz verfolgt. Opfer solcher Menschenrechtsverletzungen haben es extrem schwer, Vergehen bei den Behörden zu melden, denn es herrscht Angst vor Stigmatisierung, weiterer Gewalt und Diskriminierung. Bei Anzeigen von Homosexuellen interveniert die Polizei gar nicht oder verhaftet das Opfer. Es gibt viele Fälle, in denen Polizeibeamte Personen, von denen angenommen wird, dass sie homosexuell sind, willkürlich verhaften. In Folge werden hohe Geldsummen für die Freilassung gefordert. Staatliche Stellen sind häufig selbst die Täter bei Menschenrechtsverletzungen oder handeln in Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Nigeria vom 30.09.2021, S. 43 ff., m. w. N.). Aufgrund dieser Erkenntnisse sowie der Tatsache, dass ihre sexuelle Orientierung ein für die Klägerin identitätsprägendes Merkmal ist, welches sie in Nigeria auch ausüben wird und welches sie nicht wird verstecken können und wollen, ist anzunehmen, dass sie bei einer Rückkehr damit rechnen muss, Opfer von Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG zu werden.
d. Es ist auch kein effektiver Schutz im Sinne des § 3d AsylG gegen die beschriebenen Diskriminierungen und Übergriffe gewährleistet. Für Angehörige sexueller Minderheiten gibt es nach Angabe mehrerer Quellen keinen staatlichen Schutz bei gesellschaftlicher Gewalt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl: zur Lage sexueller Minderheiten unter Hinzunahme der Informationen der FFM Nigeria 2019, Update der Analyse sexuelle Minderheiten vom 30.9.2016 vom 15.09.2020, S. 10). Vor dem Hintergrund, dass es bei Anzeigen durch Homosexuelle mitunter sogar zur Nötigung oder Verhaftung des Opfers kommt und der nigerianische Staat homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, lässt sich der allgemeine Wille zur Strafverfolgung nicht erkennen.
e. Für die Klägerin kommt ferner keine interne Schutzmöglichkeit im Sinne von § 3e AsylG in Betracht.
Zu der Frage, ob Homosexuelle in Großstädten oder bestimmten Regionen des Landes freier leben können, ergibt sich zwar nach derzeitigem Erkenntnisstand kein einheitliches Bild. Teilweise wird vertreten, in mehreren Großstädten könnten Angehörige und Communities sexueller Minderheiten freier leben. Zudem gäbe es dort ein größeres Ausmaß an möglicher Unterstützung. Der maßgebliche Vorteil sei die Anonymität. Diese sinke naturgemäß im ländlichen Raum – aber auch in den Slums der Großstädte. Eine lokale NGO stellte bei der FFM 2019 fest, dass in Abuja, Lagos, Port Harcourt, Jos, Calabar und in gewissem Maß in Kaduna, also den größeren Städten, die Menschen freier wären und auch größere Communities sexueller Minderheiten existieren. Eine Ausnahme bilde Benin City, wo die Wahrscheinlichkeit höher wäre, wegen eines nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechenden Lebenswandels angegriffen zu werden. Es gibt aber auch konträre Meinungen, wonach nämlich die Gesellschaft in bestimmten ländlichen Gebieten toleranter sei als in der Stadt. Die meisten dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen beträfen Städte. Eine lokale NGO stellte bei der FFM 2019 zudem fest, dass es traditionell in Nordnigeria einige Gebiete gäbe, wo Transfrauen eher akzeptiert würden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl: zur Lage sexueller Minderheiten unter Hinzunahme der Informationen der FFM Nigeria 2019, Update der Analyse sexuelle Minderheiten vom 30.9.2016 vom 15.09.2020, S. 60).
Vorliegend kann die Frage jedoch offen bleiben, ob es im Norden Nigerias oder in einigen größeren Städten für Homosexuelle einen internen Schutz gibt, denn er wäre der Klägerin jedenfalls nicht zumutbar. Die Niederlassung kann im Sinne des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vernünftigerweise nur erwartet werden, wenn sie zumutbar ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.11.2019 – A11 S 2376/19, Rn. 23 -, juris). Sie ist zumutbar, wenn bei umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK beziehungsweise Art. 4 GRCh wahrendes Existenzminimum gesichert ist und auch keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- oder Menschenrechte oder eine sonstige unerträgliche Härte droht (vgl. VGH Bad.-Württ, Urt. v. 29.11.2019, a.a.O. Rn. 25).
Bei der Klägerin treffen gleich mehrere gefahrerhöhende Faktoren zusammen, die es nicht wahrscheinlich erscheinen lassen, dass es ihr gelingen kann, ihr Existenzminimum für sich und das Kind sicherzustellen. Die wirtschaftliche Situation in Nigeria ist schwierig. Nigerias Haupteinnahmequelle stammt mit etwa 80 % der Gesamteinnahmen aus der Erdöl- und Erdgasförderung. Zudem sind der (informelle) Handel und die Landwirtschaft von Bedeutung, die dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bietet. Die Industrie, deren Zentren im Südwesten, Südosten und Norden des Landes liegen, leidet an Energiemangel und an Defiziten bei der Infrastruktur. Weiterhin leben ca. 70 % der Bevölkerung am Existenzminimum. Aufgrund des Ölpreisverfalls im 1. Quartal 2020 und der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie hat sich die Arbeitslosigkeit im Land noch erhöht (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 5. Dezember 2020, S. 21). In Nigeria herrscht eine geschätzte Arbeitslosigkeit von 20-45 %. Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit des Bundesstaats und der Staaten hatten nur einen geringen Erfolg. Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass zunehmend die Bevölkerung in den Großstädten versucht, im informellen Wirtschaftssektor als „self-employed“ ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Seit den letzten Jahren hat die Massenverelendung bedrohliche Ausmaße angenommen. In der Regel unterstützt die Großfamilie beschäftigungslose Angehörige. Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie getragen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Nigeria, 03.09.2021, S. 71). Über Familienangehörige in Nigeria, die sie in relevanter Weise unterstützten könnten, verfügt die Klägerin jedoch nicht. Ihre Großmutter ist im vergangenen Jahr gestorben, weitere Kontakte zur Großfamilie bestehen nicht. Vor dem Hintergrund, dass die Großfamilie die Klägerin wegen ihrer Homosexualität einer Menschenhandelsorganisation übergeben hat, kann auch nicht angenommen werden, dass sie durch Kontaktaufnahme mit der Großfamilie – insbesondere mit der Tante, bei der sie zuletzt gewohnt hat – Unterstützung erfahren wird. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass diese im Herkunftsort der Klägerin und damit nicht am Ort des internen Schutzes lebt. Über eigenes Vermögen verfügt die Klägerin nach ihrer glaubhaften Einlassung nicht.
Hinzu kommt, dass der Zugang zu Arbeit und Obdach der Klägerin erschwert ist. Denn die Klägerin ist als Angehörige einer sexuellen Minderheit gleich zwei Arten von Stigmatisierung in ihrer Heimat Nigeria ausgesetzt, einerseits als Frau und anderseits als Homosexuelle. Frauen sind in Nigeria im Rahmen traditioneller und religiöser Praktiken mit erheblicher wirtschaftlicher Diskriminierung konfrontiert und haben es generell schwerer, ohne männliche Begleitung eine Wohnung oder Arbeit zu finden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Nigeria, 03.09.2021, S. 39). Gepaart mit ihrer bekennenden Homosexualität dürfte sich die Suche nach Arbeit und Wohnung noch deutlich schwieriger gestalten. Mit Blick auf die Arbeitsaufnahme ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die Klägerin einen dreijährigen Sohn zu betreuen hat und insofern in ihrer Arbeitszeit zumindest eingeschränkt ist.
Vor diesem Hintergrund ist das Gericht davon überzeugt, dass es der Klägerin auch mit sechsjähriger Schulbildung und Erfahrung in der Landwirtschaft sowie den geleisteten Rückkehrhilfen bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht gelingen wird, sich und das Kind mit Obdach und ausreichend Nahrungsmittel zu versorgen.
Nach alledem war der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. […]
Mitgeteilt von RAin Dagmar Driest, Stuttgart