STREIT 1/2024
S. 11-13
VG Ansbach, § 3b Abs.1 Nr. 4 AsylG
Flüchtlingszuerkennung für bisexuelle Iranerin
1. Im Hinblick auf die persönliche Intimsphäre einer Person kann aus einem Zögern, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, nicht geschlossen werden, dass sie deshalb unglaubwürdig ist.
2. Bisexuelle Frauen stellen im Iran eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil VG Ansbach vom 01.02.2023 – AN 17 K 17.34351
Zum Sachverhalt:
Die Klägerin ist iranische Staatsangehörige und wurde im Iran sowohl im familiären Kontext als auch im beruflichen Kontext sexuell ausgenutzt, wiederholt inhaftiert und körperlich misshandelt. Nach Klageerhebung gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes über ihren Asylantrag trug sie zudem vor, dass sie nun eine gleichgeschlechtliche Beziehung eingegangen sei.
Aus den Gründen:
[…] Die zulässige Klage ist begründet, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO, und damit erfolgreich. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zu. […]
[D]as Gericht [ist] zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) davon überzeugt, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. […] Das Gericht ist nach der persönlichen Anhörung der Klägerin, der Beweiserhebung durch Zeugeneinvernahme der Lebenspartnerin der Klägerin, Frau …, in der mündlichen Verhandlung am 25. Januar 2023 und dem gewonnenen Eindruck davon überzeugt, § 108 Abs. 1 VwGO, dass die Klägerin bisexuell ist und aufgrund dessen bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlungen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, zu befürchten hätte. 
Dazu ist zu anzumerken, dass im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil v. 2.12.2014, C-148/13 bis C-150/13 – juris) zum einen darauf zu achten war, zu zudringliche, diskriminierende und menschenunwürdige Fragen gerade zum Intimbereich und zu Einzelheiten der sexuellen Erlebnisse zu vermeiden. Zum anderen ist bei der Würdigung der Aussagen der Klägerin auch zu bedenken, dass angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die die persönliche Intimsphäre einer Person, insbesondere ihrer Sexualität, betreffen, allein daraus, dass diese Person, weil sie etwa zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, nicht geschlossen werden kann, dass sie deshalb unglaubwürdig ist (vgl. EuGH, Urteil v. 2.12.2014 – a.a.O.).
Die Klägerin konnte in der mündlichen Verhandlung in überzeugender Weise darlegen, dass sie bisexuell ist. Im Iran habe sie ausschließlich mit Männern sexuelle Erfahrungen gemacht. Als sie 2018 in Deutschland ihre Lebensgefährtin, Frau …, kennengelernt habe, habe sie bemerkt, dass sie sich auch zu Frauen hingezogen fühle. Die Klägerin gab freimütig an, dass dies ihre erste gleichgeschlechtliche Beziehung sei. Ihre Lebensgefährtin sei eine starke Persönlichkeit, auf die sie bauen könne und die auch mit ihrer anfänglichen Angst, zusammen in einem Bett zu schlafen, und ebenso mit ihrer Aggressivität umgehen könne. Die Klägerin schilderte bereits beim Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung in emotionaler Weise erlebten sexuellen Missbrauch durch Männer im Iran. Auf Frage in der mündlichen Verhandlung zu ihren sexuellen Erfahrungen mit Männern gab die Klägerin an, dass bisherige sexuellen Handlungen mit Männern eklig und keine Liebe gewesen seien. Mit einem Mann habe sie noch keine Liebesbeziehung gehabt. Gleichwohl interessiere sie sich sowohl für Männer als auch für Frauen. Die Klägerin lebt ihre Sexualität öffentlich und gab an, ihre Lebensgefährtin z.B. auch auf der Straße zu küssen. Die Situation von Homosexuellen in Deutschland sei gut, im Iran würde das gar nicht gehen. Die weiteren detaillierten Angaben der Klägerin zu den Umständen des Kennenlernens und Zusammenkommens mit ihrer Lebensgefährtin sowie dem Alltag der beiden und den Angaben, wie die gleichgeschlechtliche Beziehung bis heute gelebt wird, werden zudem durch die glaubhaften Angaben der Lebensgefährtin der Klägerin, die als Zeugin in der mündlichen Verhandlung vernommen wurde, gestützt. Dass die Angaben zum ersten sexuellen Kontakt differieren, fällt dabei nicht ins Gewicht. So kann es schon unterschiedliche Auffassungen geben, was unter sexuellem Kontakt überhaupt zu verstehen ist. Weiter ist zu berücksichtigen, dass es für die Klägerin die erste gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrung war und sie deshalb Handlungen eher eine sexuelle Bedeutung beimessen kann als die Zeugin, die schon zuvor gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen gemacht hat. Das Gericht ist nach alledem davon überzeugt, dass die Klägerin bisexuell ist.
Sexuelle Minderheiten sind im Iran regelmäßig Diskriminierungen, Belästigungen und Missbrauch auch durch nicht-staatliche Akteure – wie Familienmitglieder – und durch die Gesellschaft ausgesetzt. Homosexualität gilt als Krankheit, kann als solche angezeigt werden, befreit auf Antrag vom Militärdienst und sperrt die Betroffenen von der Ausübung von Beamtenfunktionen aus. Aus Furcht vor Bestrafung werden Missbrauchsfälle Homosexueller nicht angezeigt. Über Belästigungen und Diskriminierung sexueller Minderheiten wird aufgrund der Kriminalisierung und Verborgenheit dieser Gruppen nicht ausreichend berichtet.
Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung ist nicht verboten. Verboten ist im Iran unabhängig von der Religionsangehörigkeit jede sexuelle Beziehung, die außerhalb der heterosexuellen Ehe stattfindet, also auch homosexuelle Beziehungen. Auf homosexuelle Handlungen, welche auch als ‚Verbrechen gegen Gott‘ gelten, steht offiziell Auspeitschung; sie können auch mit dem Tod bestraft werden. Dies besagen diverse Fatwas, die von beinahe allen iranischen Klerikern ausgesprochen wurden. Die Beweisanforderungen sind allerdings sehr hoch, es werden vier männliche Zeugen benötigt. Bei Fällen, in denen zu wenige Zeugenaussagen vorliegen, gibt es ein Ermittlungsverbot. Zudem gibt es hohe Strafen für Falschbeschuldigungen. Bei Minderjährigen und in weniger schwerwiegenden Fällen sind Peitschenhiebe vorgesehen. Auch hierfür sind zwei männliche Zeugen erforderlich. Im Falle von ‚Lavat‘ (Sodomie unter Männern) ist die vorgesehene Bestrafung die Todesstrafe für den passiven Partner, falls der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattfand, ansonsten für den Vergewaltiger. Homosexuelle Handlungen zwischen Frauen werden mit bis zu 100 Peitschenhieben, bei der vierten Verurteilung mit der Todesstrafe geahndet. Die Bestrafung von gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männern ist meist schwerwiegender als die für Frauen. Die Todesstrafe für Homosexualität wurde in den letzten Jahren nur punktuell und meist in Verbindung mit anderen Verbrechen verhängt. Aufgrund der mangelnden Transparenz des Gerichtswesens lässt sich der Umfang der strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen wegen Homosexualität nicht eindeutig bestimmen (vgl. Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen der Republik Österreich (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Iran, 23.5.2022, Version 5, S. 75 f.). 
Die jüngere Generation im Iran ist gegenüber Homosexuellen zwar toleranter, Homosexualität wird aber nach wie vor nicht offen diskutiert. Diskriminierungen finden statt. Dazu gehören etwa Missbrauch und Belästigung durch Familienmitglieder, Arbeitskollegen, Geistliche etc. Lesbische Frauen können sich zudem aufgrund sozioökonomischer Faktoren von Seiten der Familie gedrängt sehen, einen Mann zu heiraten (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zur Situation von LGBTIQ-Personen im Iran, Februar 2022, S. 5). Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und sozialer Ausgrenzung ist ein öffentliches ‚Coming out‘ selten. Nach Angabe von Menschenrechtsaktivisten sind im Januar 2022 zwei Männer wegen homosexueller Handlungen hingerichtet worden. Im Juli und August 2022 sind vier Aktivisten für LGBTI-Rechte zum Tode verurteilt worden (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Iran (Stand: 18. November 2022) vom 30. November 2022, S. 14).
Nach alledem stellen homosexuelle und bisexuelle Menschen im Iran eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar (vgl. auch: BayVGH, Beschluss v. 2.12.2020 – 14 ZB 20.31647 – juris Rn. 10; VG Bayreuth, Urteil v. 15.11.2021 – B 10 K 19.30077 – juris; VG Braunschweig, Urteil v. 9.8.2021 – 2 A 77/18 – juris). Die Auskunftslage zeigt zudem, dass offen gelebte Homo- bzw. Bisexualität im Iran ein erhebliches Gefährdungspotenzial schafft, was sich im Einzelfall zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Bedrohung verdichten kann (vgl. auch: VG Würzburg, Urteil v. 27.5.2022 – W 8 K 22.30051 – juris mit weiteren Nachweisen).
Aufgrund dieser Erkenntnislage ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Interne Fluchtalternativen bestehen nicht.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes können die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten, dass er seine Homosexualität bei einer Rückkehr in das Heimatland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um der Gefahr einer Verfolgung zu entgehen (vgl. EuGH, Urteil v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – juris; BayVGH, Beschluss v. 2.12.2020 – 14 ZB 20.31647 – juris Rn. 10). Dies gilt auch für Bisexuelle. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich ausgeführt, dass die Annahme, ein Bisexueller könne darauf verwiesen werden, seine homosexuelle Orientierung in seinem Heimatland geheim zu halten, vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs schlechthin unvertretbar wäre und die Willkürschwelle überschreiten würde (vgl. BVerfG, Beschluss v. 22.1.2020 – 2 BvR 1807/19 – juris Rn. 19). 
Wenn in der Rechtsprechung dennoch teilweise eine Prognose dahingehend angestellt wird, in welchem Umfang der Betroffene voraussichtlich seine Neigungen im Herkunftsland ausleben wird, ob im Verborgenen oder äußerlich erkennbar, oftmals orientiert an der bisherigen Risikobereitschaft oder der Lebensweise in Deutschland, also erwartet wird, dass dem Betroffenen das Verfolgen seiner Neigungen wichtig und damit relevanter Bestandteil seiner Identität ist, so wird hierbei verkannt, dass die sexuelle Orientierung zwingend bedeutsamer Bestandteil der Identität eines Menschen ist (so auch: VG Braunschweig, Urteil v. 9.8.2021, a.a.O. – juris Rn. 40 ff.; VG Würzburg, Urteil v. 27.7.2022 – W 1 K 22.30060 – juris Rn. 24 f.; VG Leipzig, Urteil v. 18.11.2021 – 3 K 1759/20.A – juris Rn. 25, VG Bremen, Urteil v. 9.5.2021 – 4 K 1226/20 – juris Rn. 24). Schon weil die Einzelrichterin also davon überzeugt ist, dass die Klägerin bisexuell ist, ist ihr eine Geheimhaltung ihrer Bisexualität oder ein zurückhaltendes Ausleben ihrer sexuellen Ausrichtung bei einer Rückkehr in den Iran nicht zuzumuten.
Diese Erkenntnis hat nunmehr auch in der am 1. Oktober 2022 in Kraft getretenen Dienstanweisung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Eingang gefunden. Danach ist bei der Prüfung der Gefährdung von queeren Flüchtlingen in ihren Herkunftsländern immer davon auszugehen, dass die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität offen gelebt wird (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Besserer Schutz für queere Geflüchtete, 4.10.2022). […]