STREIT 1/2024
S. 8-11
EuGH, 2011/95 EU, Art. 60 Istanbul- Konvention, CEDAW; zu § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG
Grundsatzentscheidung zu geschlechtsspezifischer Verfolgung
Frauen können als „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der EU Richtlinie 2011/95 (nach deutschem Recht gem. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) angesehen werden, wenn sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind. (Rdnr. 57) 
(Leitsatz der Redaktion)
Urteil des EuGH – Große Kammer vom 16.01.2024 – C-621/21 – WS gegen Bulgarien
Zum Sachverhalt:
WS ist eine türkische Staatsangehörige, die zur ethnischen Gruppe der Kurden gehört und im Alter von 16 Jahren zwangsverheiratet wurde. Während der Ehe erlitt sie körperliche Gewalt durch ihren Ehemann. Ihre Ursprungsfamilie half ihr trotz Kenntnis der Gewalt nicht. WS floh aus der Wohnung und schloss eine religiöse Ehe mit einem andern Mann und ließ sich gegen den Widerstand ihres Ehemannes scheiden. Sie befürchtet, von ihrer Familie getötet zu werden. Ihr Asylantrag wurde rechtskräftig abgelehnt.
Sie stellte daraufhin auf Grundlage neuer Beweise einen Folgeantrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes unter Berufung auf begründete Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“, nämlich der Gruppe von Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden seien, und von Frauen, die Opfer von „Ehrenverbrechen“ werden könnten. WS legte die Entscheidung eines türkischen Strafgerichts vor, mit der ihr früherer Ehemann wegen einer gegen sie im September 2016 begangenen Straftat der gefährlichen Drohung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden war, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zudem fügte sie einen Artikel bei, in denen über brutale Tötungen von Frauen in der Türkei berichtet wurde. Außerdem benennt WS als neuen Umstand den Austritt der Republik Türkei aus dem Übereinkommen von Istanbul (IK) im März 2021. Die zuständige Bulgarische Asylbehörde lehnte den Wiederaufnahmeantrag als unzulässig ab, woraufhin WS Klage vor dem Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien erhob. Dieses Gericht reichte ein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH ein.
Aus den Gründen:
1) Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des 17. Erwägungsgrundes sowie von Art. 6 Buchst. c, Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und f, Art. 9 Abs. 3, Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, berichtigt in ABl. 2017, L 167, S. 58). […]
35) Mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen die Frauen dieses Landes insgesamt als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, oder ob die betreffenden Frauen ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen müssen, um einer solchen Gruppe angehören zu können. […]
43) Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind unter Berücksichtigung dieser einleitenden Erläuterungen zu beantworten. […]
44) Erstens ist in Anbetracht der von diesem Gericht geäußerten Zweifel an der Relevanz des CEDAW und des Übereinkommens von Istanbul für die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zum einen darauf hinzuweisen, dass die Union zwar nicht Vertragspartei des ersten Übereinkommens ist, dass aber alle Mitgliedstaaten dieses Übereinkommen ratifiziert haben. Das CEDAW zählt somit zu den einschlägigen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt und unter deren Beachtung die genannte Richtlinie, insbesondere ihr Art. 10 Abs. 1 Buchst. d, auszulegen ist.
45) Zudem sind die Mitgliedstaaten nach dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 in Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Richtlinie fallen, an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten gebunden, denen sie beigetreten sind, einschließlich insbesondere derjenigen, nach denen eine Diskriminierung verboten ist, zu denen das CEDAW gehört. Der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, der für die Überwachung der Einhaltung des CEDAW zuständig ist, hat präzisiert, dass dieses Übereinkommen die internationale Regelung gesetzlichen Schutzes für Frauen und Mädchen, auch im Zusammenhang mit Flüchtlingen, verstärkt und ergänzt.
46) Zum anderen ist in Bezug auf das Übereinkommen von Istanbul, das die Union seit dem 1. Oktober 2023 bindet, hervorzuheben, dass dieses Übereinkommen Verpflichtungen enthält, die in den Anwendungsbereich von Art. 78 Abs. 2 AEUV fallen, der den Unionsgesetzgeber ermächtigt, Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem wie die Richtlinie 2011/95 zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/19 [Übereinkommen von Istanbul] vom 6. Oktober 2021, EU:C:2021:832, Rn. 294, 302 und 303). Somit gehört dieses Übereinkommen, da es einen Zusammenhang mit Asyl und dem Verbot der Zurückweisung aufweist, ebenfalls zu den einschlägigen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt.
47) Unter diesen Umständen sind die Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere ihr Art. 10 Abs. 1 Buchst. d, unter Beachtung des Übereinkommens von Istanbul auszulegen, obwohl dieses Übereinkommen von einigen Mitgliedstaaten, darunter der Republik Bulgarien, nicht ratifiziert worden ist.
48) Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden muss. Zum anderen verlangt Art. 60 Abs. 2 dieses Übereinkommens von den Vertragsparteien, sicherzustellen, dass alle in der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Verfolgungsgründe geschlechtersensibel ausgelegt werden und dass in Fällen, in denen festgestellt wird, dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet wird, den Antragstellerinnen und Antragstellern der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird.
49) Was zweitens die in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 vorgesehene […] Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ betrifft, nämlich mindestens eines der drei in dieser Bestimmung genannten Identifizierungsmerkmale zu teilen, ist festzustellen, dass die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, ein angeborenes Merkmal darstellt und daher ausreicht, um diese Voraussetzung zu erfüllen.
50) Das schließt es nicht aus, dass Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, wie z. B. ein anderes angeborenes Merkmal oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, wie eine besondere familiäre Situation oder aber Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass diese Frauen nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten, ebenfalls zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 gehören können.
51) In Anbetracht der Angaben in der Vorlageentscheidung ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass Frauen sich einer Zwangsehe entzogen haben oder verheiratete Frauen ihre Haushalte verlassen haben, als „gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, angesehen werden kann.
52) Was drittens die zweite Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ angeht, die sich auf die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe im Herkunftsland bezieht, ist festzustellen, dass Frauen von der sie umgebenden Gesellschaft anders wahrgenommen werden können und in dieser Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität insbesondere aufgrund in ihrem Herkunftsland geltender sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen zuerkannt bekommen können.
53) Diese zweite Voraussetzung für die Identifizierung wird auch von Frauen erfüllt, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, wie eines der in den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils genannten, wenn die in ihrem Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen dazu führen, dass diese Frauen aufgrund dieses gemeinsamen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. […]
55) Viertens ist, soweit das vorlegende Gericht den Gerichtshof fragt, ob Handlungen wie die im 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 genannten bei der Bestimmung der deutlich abgegrenzten Identität einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie berücksichtigt werden können, klarzustellen, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unabhängig von den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie festgestellt werden muss, denen die Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland ausgesetzt sein können.
56) Gleichwohl kann eine Diskriminierung oder eine Verfolgung von Personen, die ein gemeinsames Merkmal teilen, einen relevanten Faktor darstellen, wenn für die Prüfung, ob die zweite in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Voraussetzung für die Identifizierung einer sozialen Gruppe erfüllt ist, zu beurteilen ist, ob es sich bei der in Rede stehenden Gruppe im Hinblick auf die sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen des betreffenden Herkunftslands offensichtlich um eine gesonderte Gruppe handelt. Diese Auslegung wird durch Rn. 14 der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 2 betreffend die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention bestätigt.
57) Folglich können Frauen insgesamt als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn feststeht, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind.
58) Wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, können Frauen, die eine Zwangsehe ablehnen, in einer Gesellschaft, in der eine solche Praxis als eine soziale Norm angesehen werden kann, oder Frauen, die eine solche Norm brechen, indem sie diese Ehe beenden, als Teil einer sozialen Gruppe mit deutlich abgegrenzter Identität in ihrem Herkunftsland angesehen werden, wenn sie aufgrund solcher Verhaltensweisen stigmatisiert werden und der Missbilligung durch die sie umgebende Gesellschaft ausgesetzt sind, was zu ihrem sozialen Ausschluss oder zu Gewaltakten führt.
59) Fünftens hat der betreffende Mitgliedstaat bei der Beurteilung eines auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gestützten Antrags auf internationalen Schutz zu prüfen, ob die Person, die sich auf diesen Verfolgungsgrund beruft, im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 in ihrem Herkunftsland wegen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe „begründete Furcht“ vor Verfolgung hat.
60) Insoweit muss die Prüfung der Frage, ob die Furcht der antragstellenden Person vor Verfolgung begründet ist, gemäß Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie individuell sein und von Fall zu Fall mit Wachsamkeit und Vorsicht vorgenommen werden, wobei ausschließlich eine konkrete Prüfung der Tatsachen und Umstände im Einklang mit den in Art. 4 Abs. 3, aber auch in Art. 4 Abs. 4 enthaltenen Regeln zugrunde zu legen ist, um zu ermitteln, ob die festgestellten Tatsachen und Umstände eine solche Bedrohung darstellen, dass die betroffene Person in Anbetracht ihrer individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden, sollte sie in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2023, Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie [Politische Überzeugung im Aufnahmemitgliedstaat], C151/22, EU:C:2023:688, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61) Zu diesem Zweck sollten, wie in Rn. 36 Ziff. x der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 1 ausgeführt wird, Informationen über das Herkunftsland eingeholt werden, die für Anträge von Frauen auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus von Bedeutung sind, zum Beispiel über die Rechtsstellung der Frau, ihre politischen Rechte, ihre bürgerlichen und wirtschaftlichen Rechte, die kulturellen und sozialen Sitten und Gebräuche des Landes und die Folgen, wenn sich eine Frau darüber hinwegsetzt, das Vorhandensein grausamer traditioneller Praktiken, Häufigkeit und Formen von Gewalt gegen Frauen und wie Frauen davor geschützt werden, die für solche Gewalttäter vorgesehenen Strafen und welche Risiken eine Frau möglicherweise erwarten, wenn sie in ihr Land zurückkehrt, nachdem sie einen solchen Antrag gestellt hat.
62) Nach alledem ist auf die ersten drei Fragen zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.
Zur vierten Frage
63) Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er, wenn eine antragstellende Person angibt, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, verlangt, dass in jedem Fall eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungshandlungen und mindestens einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe festgestellt wird. […]
66) Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit deren Art. 6 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 und im Licht des 29. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass eine Verknüpfung entweder zwischen den in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie oder zwischen diesen Verfolgungsgründen und dem Fehlen von Schutz durch die „Akteure, die Schutz bieten können“, vor solchen Verfolgungshandlungen durch „nichtstaatliche Akteure“ festgestellt wird.
67) Somit ist im Fall einer von einem nichtstaatlichen Akteur begangenen Verfolgungshandlung die in Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 aufgestellte Voraussetzung erfüllt, wenn diese Handlung auf einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe beruht, auch wenn das Fehlen von Schutz nicht auf diesen Gründen beruhen sollte. Diese Voraussetzung ist auch dann als erfüllt anzusehen, wenn das Fehlen von Schutz auf einem der in der letztgenannten Bestimmung genannten Verfolgungsgründe beruht, auch wenn die von einem nichtstaatlichen Akteur begangene Verfolgungshandlung nicht auf diesen Gründen beruhen sollte. […]
Zur fünften Frage
71) Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „ernsthafter Schaden“ die tatsächliche Drohung gegenüber der antragstellenden Person umfasst, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, und dieser Begriff daher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie führen kann. […]
73) Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 sieht vor, dass auf subsidiären Schutz ein Drittstaatsangehöriger Anspruch hat, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 dieser Richtlinie zu erleiden, und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will.
74) Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem 34. Erwägungsgrund stuft als „ernsthaften Schaden“ „die Todesstrafe oder Hinrichtung“ und „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland“ ein.
75) Art. 15 Buchst. a nimmt Bezug auf Schäden, die den Tod des Opfers zur Folge haben, während sich Art. 15 Buchst. b auf Folterhandlungen bezieht, unabhängig davon, ob diese Handlungen den Tod des Opfers zur Folge haben oder nicht. Dagegen unterscheiden diese Bestimmungen nicht danach, ob der Schaden auf einen staatlichen oder einen nichtstaatlichen Akteur zurückgeht.
76) Außerdem kann in Anbetracht des Ziels von Art. 15 Buchst. a der Richtlinie 2011/95, Personen zu schützen, deren Recht auf Leben bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland gefährdet wäre, der darin enthaltene Begriff „Hinrichtung“ nicht dahin ausgelegt werden, dass er Angriffe auf das Leben allein deshalb ausschließt, weil sie von nichtstaatlichen Akteuren begangen werden. Wenn also eine Frau tatsächlich Gefahr läuft, wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen von einem Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft getötet zu werden, ist ein solcher ernsthafter Schaden als „Hinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen.
77) Hingegen sind Gewalttaten, denen eine Frau wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen ausgesetzt zu sein droht, wenn sie nicht ihren Tod zur wahrscheinlichen Folge haben, als „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 einzustufen. […]