STREIT 1/2024

S. 3-7

Frau. Leben. Freiheit. – Feministische Revolution im Iran

„Wenn eine Frau aufwacht und frei sein will, kann sie nichts in die Knie zwingen.“
(Zeynap Jalalian, kurdische politische Gefangene)

Es ist Freitag, der 16. September 2022, als sich die Nachricht vom Tod von Mahsa Amini verbreitet. Mahsa’s richtiger Name ist Jina, ein kurdischer Name. Aber die theokratisch faschistischen Machthaber der Islamischen Republik Iran erkennen den Namen nicht an, daher musste die Familie ihr den persischen Namen Mahsa geben. Wie ein Lauffeuer geht die Nachricht durch alle Medien: „22-jährige Mahsa Amini stirbt nach Festnahme durch Sittenpolizei“. Ich sitze in meiner Kölner Wohnung und durchforste das Internet. Schon wieder ein Femizid, schon wieder muss eine Frau sterben, weil sie ihren Hijab angeblich nicht ordnungsgemäß trug. Ich schreibe meiner Mutter im Iran eine WhatsApp „Hast du die Nachrichten gesehen?“ „Ja, meine Nerven liegen blank, es ist herzzerreißend.“ Was nach einer normalen Mutter-Tochter-Kommunikation klingt, ist in Wahrheit nicht selbstverständlich, denn meine Mutter Nahid Taghavi ist eine politische Gefangene der Islamischen Republik Iran. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in einem medizinischen Hafturlaub. Zuvor hatte sie 641 Tage im berüchtigten Evin Gefängnis verbracht, davon 200 Tage in Einzelhaft. Sie war für ihren Einsatz für Frauenrechte zu 10 Jahren verurteilt worden.

Politisch motivierte Inhaftierungen werden im Iran als sogenannte „nationale Sicherheitsfälle“ behandelt und sind im Islamischen Strafgesetzbuch geregelt. Unter dem Vorwand, die nationale Sicherheit zu gefährden, werden Aktivist:innen, bestimmte Berufsgruppen wie Journalist:innen, Anwält:innen sowie religiöse und ethnische Minderheiten kriminalisiert. Die Anklagepunkte gegen meine Mutter lauteten „Beteiligung an der Führung einer illegalen Gruppe“ (Artikel 498 Islamisches Strafgesetz) sowie „Propagandaaktivitäten gegen den Staat“ (Artikel 500 Islamisches Strafgesetz). Trotz ihrer deutschen Staatsbürgerschaft war ihr konsularische Betreuung verweigert worden – bis heute, denn im November 2022 kehrte sie ins Evin Gefängnis zurück.1

Auslöser der sogenannten „Frau-Leben-Freiheit“-Revolution

Was geschah im Spätsommer 2022 mit Jina Mahsa Amini? Am 13.09.2022 wird sie von der iranischen Sittenpolizei (gasht-e-ershad) in Teheran festgenommen, Grund dafür ist, dass sie angeblich ihr Kopftuch nicht richtig getragen haben soll. Die strengen Kleidervorschriften im Iran sind in Artikel 638 ff. des Islamischen Strafgesetzbuches festgelegt. Die Sittenpolizei dient als „Exekutive“, die im öffentlichen Raum die Einhaltung der Vorschriften kontrolliert und durchsetzt. Die Nichteinhaltung wird laut Gesetz mit einer Geldstrafe oder maximal 2 Monaten Haft bestraft. Jedoch wird dies oftmals umgangen, indem den Frauen der Vorwurf der „Verbreitung von Prostitution“ gemacht wird, was eine Haftstrafe von bis zu 10 Jahren nach sich ziehen kann.
Nach Augenzeugenberichten wird Jina von den Beamten in ein Auto gestoßen und während der Fahrt in die Haftanstalt geschlagen. Im Polizeigewahrsam wird sie dann so stark misshandelt, dass sie drei Tage später an den Folgen stirbt. Dies belegen geleakte CT-Aufnahmen und Fotos aus dem Krankenhaus, die schwere Verletzungen im Kopfbereich zeigen.

Die Journalistin Niloufar Hamedi begibt sich ins Kasra-Krankenhaus und twittert am 16. September 2022 ein Foto, das die sich weinend in den Armen liegenden Eltern von Jina Mahsa Amini zeigt. So erfährt die Öffentlichkeit von dem Tod der jungen Kurdin. Die Journalistin Elahe Mohammadi reist am nächsten Tag nach Saqqez in der Provinz Kurdistan, um von der Beerdigung Jina’s zu berichten. Dort spielen sich einzigartige Szenen ab. Plötzlich nehmen sich die Frauen die Kopftücher ab und rufen einen Slogan, der ursprünglich von der kurdisch-feministischen Bewegung stammt: „JIN JIYAN AZADI“ – zu Deutsch: Frau. Leben. Freiheit.
Heute geht der Slogan um die Welt. Noch nie wurde im Iran eine Bewegung wie die vom September 2022, die bis heute anhält, ausgehend von Kurd:innen, von so vielen Iraner:innen aller sozialen Schichten, Geschlechter und Altersklassen mitgetragen. Von Kurdistan bis nach Teheran geht es nur noch darum: „Frau – Leben – Freiheit“. Also im Grunde um alles. Der revolutionäre Prozess in der Islamischen Republik Iran nimmt seinen Lauf.
Niloufar Hamedi wird am 22. September und Elahe Mohammadi am 29. September festgenommen. Nach monatelangem Verhör und Isolationshaft und ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand werden die beiden Journalistinnen u.a. wegen angeblicher „Kollaboration mit dem Feindesstaat USA“ (Artikel 508 Islamisches Strafgesetz) angeklagt. Der „Prozess“ gegen die beiden Frauen beginnt im Mai 2023, der letzte Prozesstag findet am 26. Juli 2023 statt. Elahe Mohammadi verteidigt sich am letzten Prozesstag mit den Worten: „Im Namen der Feder, ich, Elahe Mohammadi, bin seit 15 Jahren Journalistin. Ich habe nichts anderes getan als mit Menschen zu sprechen. Ich habe keine Verbindungen zu ausländischen Regierungen und ich bin stolz, an der Seite meines Volkes zu stehen und seine Stimme zu sein (…).“ Am 22. Oktober 2023 wurden Niloufar Hamedi zu 7 Jahren und Elahe Mohammadi zu 6 Jahren Haft verurteilt.

Die Rechte der Frauen und die Islamische Revolution von 1979

Im Iran reicht die erste Frauenbewegung weit zurück und nimmt ihren Anfang 1891 in der sogenannten Tabakbewegung. Diese Bewegung gilt als erste erfolgreiche Protestaktion in der neueren Geschichte Irans und bildet den Keim der konstitutionellen Revolution, die im Jahr 1905 startet und bis 1911 andauert. Ziel dieser Revolution ist die Einschränkung der Monarchie und die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems. Auch Frauen schließen sich dieser Bewegung an und bezahlen mit ihrem Leben. Am 8. März 1915 organisieren Sozialistinnen der Gruppierung „Botinnen für den Wohlstand“ erstmalig ein Fest zum Internationalen Frauenkampftag in der nordiranischen Stadt Rascht.
Als 1925 der erste König der Pahlavi Dynastie Shah Reza Pahlavi an die Macht kommt, hat er vor allem ein Ziel – er will es Atatürk gleichtun, den Iran modernisieren, und das mit drastischen Mitteln. 1936 schafft er die traditionelle Kleidung der Iranerinnen ab und setzt ein Schleierverbot durch. Unterstützung bekommt er dabei auch von einigen Frauen. Bei anderen Frauen aber stößt dieses Verbot auf Gegenwehr. Ihnen geht es um ein freies Recht aller Frauen, egal ob Musliminnen oder nicht. Und dazu gehört auch, selbst zu entscheiden, ob sie sich verschleiern wollen oder nicht. Für viele Frauen ist das Kopftuchverbot eine Katastrophe. Es ist eine Grundsatzdebatte, die auch noch heute aktuell ist. Heute wie damals geht es um die Selbstbestimmung der Frau.
Was zu Beginn der aktuellen Protestbewegung vor allem westliche Medien gemacht haben war, diese Proteste als Kopftuch-Demonstrationen zu degradieren und fehlzuinterpretieren. Es geht nicht um den Hijab, sondern darum, selbst über den eigenen Körper zu bestimmen.
Als 1941 der Sohn des Königs, Mohammad Reza Pahlavi Thronfolger wird, lockert er die Verbote. Die Frauen dürfen wieder den Schleier tragen, was nun auch denjenigen, die ihn tragen wollen, ermöglicht, wieder das Haus zu verlassen. Den Modernisierungskurs seines Vaters führt er aber dennoch fort. Doch dabei entsteht eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: die Oberschicht, die sich an Europa und am Westen orientiert und im Wohlstand lebt, und eine breite Masse, die weiter abgehängt wird.
1971 lässt der Shah das Evin-Gefängnis im Norden Teherans errichten. Sein berüchtigter Geheimdienst SAVAK inhaftiert, foltert und beherbergt dort politische Gefangene – die Islamische Republik Iran tut es ihm gleich, bis heute.

Ab 1978 protestieren immer wieder Menschen gegen die Monarchie, während der größte Widersacher des Shahs, Ruhollah Khomeini, aus dem Exil immer mehr Aufmerksamkeit bekommt. Seit Jahren versucht der Geistliche Khomeini den Shah zu stürzen. Das gelingt ihm, seinen Anhängern und weiteren linken Oppositionellen schließlich 1979, ein Jahr nach Beginn der Revolution. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten hatten die Revolution unterstützt. Auch Frauen, die genug hatten von der Monarchie, der protzigen Lebensweise des Königs, seinem Repressionsapparat SAVAK, vom eigenen Leben in Armut und vom Einfluss aus dem Ausland. Die Revolutionäre von 1979 wollten einen freien Iran – was sie bekamen? Ein gigantisches Gefängnis.

1979: Das Schicksalsjahr

Mit der Islamischen Revolution werden über Nacht die Rechte der Frau um 1400 Jahre zurückkatapultiert. Kurz nach der Revolution drückt ein Slogan all das aus, was den Frauen im Iran die nächsten Jahrzehnte bevorstehen würde: „Ya ru-ssari, ya tu-ssari!“ „Entweder das Kopftuch oder Schläge auf den Kopf!“ wird den Frauen nun zugerufen. Es wird unmissverständlich klar: die Unterdrückung der Frauen wird Staatsraison. Sie wird die Daseinsgrundlage der Islamischen Republik.
Schon kurz nach der Machtübernahme der Mullahs im Iran protestieren am internationalen Weltfrauentag 1979 zehntausende Frauen in Teheran während einer dreitägigen feministischen Demonstration gegen die Verschleierungspflicht. Sie rufen: „Wir hatten keine Revolution, um rückwärtszugehen“.

Die Proteste sind so groß, dass das neue Regime zunächst nicht auf dem Hijab-Zwang beharrt. Langsam setzt es aber die Mechanismen zur systematischen Unterdrückung der Frau durch. Sukzessive werden ihre Rechte beschnitten. In den 1980er Jahren sind schließlich eine ganze Reihe an Verboten und Degradierungen der Frau in der Gesellschaft etabliert:

  • Das Erbrecht privilegiert Männer.

  • Ehe- und Scheidungsrecht privilegiert Männer.

  • Frauen dürfen ohne Zustimmung des Mannes nicht verreisen.

  • Die Kleiderordnung wird strenger (das gesamte Haar soll nun verdeckt werden).

  • Manteau oder der Tschador werden Pflicht.

  • Schuhe sollen flach und unauffällig sein.

  • Knöchel müssen bedeckt werden.

  • Die Kleidung soll in gedeckten Farben, vorzugsweise schwarz getragen werden.

  • Make-Up und Nagellack sind verboten.

  • Mädchen ab 9 Jahren sind strafmündig und müssen seit 1983 den Hijab tragen.

  • Der Vater entscheidet darüber, ob eine Tochter studieren oder heiraten darf.

  • Ab Sommer 1981 wird die Verschleierung auf der Straße mit Hilfe von Milizionären und der Revolutionswächter durchgesetzt.

Diese Vorschriften und Verbote sind alle in verschiedenen Abschnitten des Islamischen Strafgesetzbuches festgelegt. Während die Kleidervorschriften in den Artikeln 638 ff. verankert sind, sind die weiteren Gesetze in den Abschnitten zu Familie und Ehe niedergelegt. Verstöße werden in der Regel „klassisch“ strafrechtlich verfolgt, während bei den politisch motivierten Inhaftierungen der nationale Sicherheitsaspekt im Vordergrund steht. Die Islamische Republik nennt sämtliche politischen Gefangenen „Sicherheitsgefangene“ und wehrt sich gegen den Vorwurf, dass es politische Gefangene in Iran gibt.

Der lange Weg bis zur Revolution 2022

Als am 16.09.2022 Jina Mahsa Amini stirbt, löst dies ein Trauma bei der Bevölkerung im Iran, aber auch bei der iranischen Diaspora aus. Jahrzehntelang hat das Regime versucht sie zu spalten – Mann gegen Frau, Iraner:innen gegen Kurd:innen, arm gegen reich. Im Iran wurde in den letzten 44 Jahren immer wieder protestiert, entweder um Reformen herbeizuführen oder um das ganze System zu stürzen, wie es jetzt der Fall ist. Und immer wieder spielen die Frauen dabei eine zentrale Rolle.
1988 führt das Regime ein regelrechtes Massaker an seiner eigenen Bevölkerung durch. Von Juli/August bis November kommt es zu massenhaften außergerichtlichen Hinrichtungen. Bis heute ist unklar, wie viele Menschen hierbei getötet wurden. Schätzungen gehen von 5.000 bis 8.000 Hinrichtungen aus. Die Familien der Inhaftierten gehen jeden Freitag nach Khavaran, einem verlassenen Ort im Südosten Teherans. Dort haben die Schergen des Regimes seit den frühen 1980er Jahren die leblosen Körper der politischen Gefangenen verscharrt. Die Vorhut dieses Widerstandes und des Kampfes sind Frauen – Mütter, Töchter, Schwestern, Ehefrauen. Daraus entsteht eine Gruppe von Frauen, die diesen Kampf bis heute weiterführen – die „Mütter von Khavaran“. Daraus entspringt das Iran Tribunal – ein symbolischer Gerichtsprozess, der die Massaker der 1980er Jahre aufklären will. Schätzungsweise 20.000 politische Gefangene wurden zwischen 1981 und 1988 vom Regime ermordet.

Die wohl größten Proteste seit der Islamischen Revolution finden 2009, bei der sogenannten Grünen Bewegung statt. Hier strömen am 15.06.2009 allein in Teheran bis zu 3 Millionen Menschen auf die Straßen und protestierten gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug rund um die Präsidentschaftswahl von Mahmud Ahmadinejad. WHERE IS MY VOTE? ist die Parole der Bewegung. 72 Menschen werden in dieser Zeit getötet, Tausende inhaftiert. Sinnbild dieser schieren Gewalt, die das Islamische Regime seiner Bevölkerung antut, ist ein Video, das nur zwei Wochen nach Beginn der Proteste um die Welt geht: eine 27-jährige Frau wird vor laufender Kamera von den Schergen des Regimes erschossen. Ihr Name ist Neda Agha Soltani. Die Proteste keimen in den folgenden Wochen immer wieder auf, über mehr als drei Monate. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben erlischt allmählich, die Weltgemeinschaft sieht tatenlos dabei zu, die Menschen im Iran kehren in ihre Häuser zurück.
Dennoch geben die Menschen im Iran nicht nach, immer wieder entflammt die Hoffnung auf Freiheit. Und die Ausdrucksformen werden kreativer und nutzen vor allem ein wichtiges Mittel: das Internet.

Seit 2014 wird das Ablegen des Hijabs mit der Kampagne MY STEALTHY FREEDOM – meine heimliche Freiheit – als Protestaktion ausgeübt. Die Kampagne wird 2014 via Facebook von der Journalistin und Aktivistin Masih Alinejad gegründet. Alinejad veröffentlicht ein Foto von sich ohne Hijab auf der Plattform. Hier sollen iranische Frauen Fotos von sich hochladen, auf denen sie keinen Hijab tragen. Es geht nicht um ein Stück Stoff, es geht immer um die Selbstbestimmung der Frau.
2017 kommt dann Alinejads nächste Kampagne WHITE WEDNESEDAY: jeden Mittwoch sind Iranerinnen aufgerufen, als Zeichen ihres Widerstands ein weißes Kopftuch zu tragen oder es ganz abzulegen. Die wohl symbolträchtigste Protestaktion ereignet sich im Dezember 2017. Die damals 31-jährige Vida Mohaved stellt sich auf der Enghelab Straße, also der Straße der Revolution, auf einen Stromkasten, weht mit einem weißen Kopftuch als Fahne, ihre Haare sind nicht bedeckt und offen. Das Bild geht um die Welt, die Protestierende ins Gefängnis.
2019 kommt es im November zu den sogenannten Aban-Protesten, die circa zwei Wochen anhalten. Zwei Wochen, in denen das Regime 1.500 Menschen ermordet, darunter 17 Teenager und 400 Frauen.
Daraus ergibt sich das Kollektiv der sogenannten Madaran dadkhah – „Mütter der Gerechtigkeit“. Dies sind die Mütter der Ermordeten. Ihr Erkennungszeichen ist ein blaues Armband. Viele von ihnen sind mittlerweile auf der Suche nach Gerechtigkeit inhaftiert worden.

Die letzten Jahrzehnte zeigen, dass die aktuellen Proteste nicht aus dem luftleeren Raum entstanden sind. Sie beziehen sich auf ein aggressives Vorgehen eines islamistischen Terrorstaates, der mit Hilfe der Revolutionsgarden, der Sittenpolizei und tausenden freiwilligen Milizionären die Rechte der Menschen systematisch unterdrückt.

Die Frau-Leben-Freiheit Revolution

Was gerade im Iran passiert, ist eine feministische, historisch nie dagewesene Revolution. Wofür kämpfen die Menschen? Frauen und Männer, queere Menschen? Alte und Junge? Arme und Reiche? Es geht um sexuelle Selbstbestimmung, es geht um Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, faire Gerichtsverhandlungen, Fahrradfahren, Fußballstadien besuchen, tanzen oder singen. Es geht schlicht um die Freiheit und die Grundrechte von Menschen – und um den Sturz der Islamischen Republik Iran.
Nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini schneiden sich plötzlich Männer und Frauen aus Iran und dem Ausland symbolisch ihre Haare ab, das Ablegen des Kopftuchs wird – und das ist nicht neu – zum Symbol des Widerstands. Was aber neu ist: Plötzlich kämpfen Menschen jeder sozialen Schicht, jeden Geschlechts für ein und dasselbe – für ihre Freiheit. Der Slogan „Az Kurdistan ta Teheran: Zan Zendegi Azadi“ „Von Kurdistan bis nach Teheran. Frau Leben Freiheit“ zeigt, dass es nicht nur lokale Proteste sind, sondern eine Einigkeit herrscht, die nie da gewesen ist. Gerade die Kurd:innen, die seit Bestehen der Islamischen Republik (und auch schon vorher) systematische Benachteiligung und Unterdrückung erfahren mussten, sind jetzt plötzlich vereint mit den Iraner:innen im ganzen Land. Auch in Teheran hört man die Parolen: „Zahedan wa Kurdistan, chesme cheraghe Iran“ „Zahedan und Kurdistan, Auge und Licht des Iran.“
Allein in den ersten vier Wochen nach Ausbruch der Revolution werden 342 zivile Protestversammlungen in allen 31 Provinzen des Landes registriert, darunter 266 Straßenproteste in 105 größeren Städten und 76 Studentenproteste an allen 69 Universitäten des Landes. Bis zu 20.000 Protestierende werden festgenommen, tausende Anklagen vor den sogenannten Revolutionsgerichten erhoben. Die Gefangenen werden mit diffusen Anklagepunkten wie „Korruption auf Erden“ (Artikel 286-288 Islamisches Strafgesetz) und „Krieg gegen Gott“ (Artikel 279-285 Islamisches Strafgesetz) konfrontiert. Diese beiden Anklagepunkte werden oftmals unter dem Vorwurf gegen Demonstrierende eingesetzt, das Leben anderer durch „Rebellion“ in Gefahr gebracht zu haben. Beide Anklagepunkte werden mit der Todesstrafe geahndet.
In schnellen Scheinverfahren und ohne Zugang zu unabhängigen Anwält:innen werden Dutzende verurteilt. Acht junge Männer werden im Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet. Ihre Namen sind Mohsen Shekari, Majidreza Rahnavard, Mohammad Mehdi Karimi, Seyed Mohammad Hosseini, Saleh Mir Hashemi, Majid Kazemi, Saeed Yaghoubi und Milad Zohrevand.

Trotz der brutalen Niederschlagung der Proteste lassen sich die Freiheitskämpfer:innen nicht unterkriegen. Und es gibt sie nicht erst seit dem 16.09.2022, doch jetzt haben einige von ihnen Namen, Gesichter und Geschichten.
Armita Abbasi ist eine 21-jährige junge Frau, die am 10.10.22 inhaftiert wird, schwer misshandelt und mehrfach vergewaltigt wird, bis sie aufgrund von schweren vaginalen und rektalen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wird. Kurz darauf nehmen die Basij-Milizen die junge Frau wieder mit und bringen sie zurück ins Gefängnis. Schließlich wird sie Anfang Februar 2023 wieder auf Kaution entlassen – die ersten Fotos, die von ihr auf Social-Media verbreitet werden, zeigen die junge Frau ohne Kopftuch und mit Victory-Zeichen.
Oder Nika Shakarami. Als sie gegen das Regime protestiert, ist sie 16 Jahre alt. Sie verschwindet am 20.09.2022 spurlos, ihr Leichnam wird später von iranischen Sicherheitskräften gestohlen. Ihre Familie findet schließlich den leblosen, schwer misshandelten Körper in einer Leichenhalle einer Haftanstalt.
Sepideh Qolian ist eine politische Gefangene, die 2018 für ihren Einsatz für streikende Arbeiter:innen wegen „Verschwörung und Versammlung gegen die nationale Sicherheit“ (Artikel 610 Islamisches Strafgesetz) zu fünf Jahren verurteilt wurde. Sepideh politisiert sich in der Haft, veröffentlicht während dieser Zeit zwei Tagebücher, die auf die miserablen Zustände und sexuelle Gewalt in den Frauengefängnissen aufmerksam machen. Sie beginnt in Haft ein Jura-Studium, will später politische Gefangene verteidigen. Am 15. März 2023 wird sie nach vier Jahren und sieben Monaten entlassen. Noch auf dem Gelände des Evin Gefängnisses ruft sie „Khameini (oberster Führer), du Bestie, wir werden dich unter die Erde ziehen.“ Das Video geht viral und Sepideh wird am gleichen Tag wieder verhaftet, es wird ein neues Verfahren gegen sie eröffnet. Sie wird wegen „Beleidigung des Führers“ (Artikel 514 Islamisches Strafgesetz) erneut zu 2 Jahren verurteilt. War es dumm von Sepideh dieses Video zu machen? Nein! Es war ein bewusster Akt des Widerstandes, welcher zwar Folgen für Sepideh selber hat, jedoch eine klare Message an die Menschen im Iran transportiert: Wir stehen zusammen, mit einem Ziel: ein freier Iran.

Das öffentliche Bild im Iran hat sich geändert. Plötzlich laufen mehr und mehr Frauen ohne Kopftuch herum. Einige ehemalige Inhaftierte werden entlassen und als erstes sehen wir Fotos von ihnen, wie sie sich ohne Hijab in der Öffentlichkeit zeigen, fotografieren oder filmen lassen. Sie sind resilient und beweisen: auch wenn das Regime der eigenen Bevölkerung das Schrecklichste antut, wie etwa die Giftgasanschläge an Schülerinnen wie im Frühjahr 2023 – sie antworten mit zivilem Ungehorsam, protestieren, übersähen die Fassaden der Städte mit regimekritischen Graffitis oder verbrennen Plakate des geistlichen Oberhauptes Ali Khamenei. Jeden Freitag gehen allein in Zahedan in der Provinz Sistan-Belutschistan tausende Menschen auf die Straßen und fordern das Ende der Islamischen Republik Iran.

Jina Mahsa Amini ist durch den gewaltsamen Tod zum Symbol einer revolutionären Bewegung geworden. Ihr Tod ist der Auslöser einer Revolution, die zahlreiche Opfer gekostet hat und noch viele weitere mit sich bringen wird. Noch immer gibt es mehr als 20.000 politische Gefangene. Etwa 550 Menschen sind auf den Straßen getötet worden, darunter 70 Minderjährige. Noch immer sind Umweltschützer:innen in Haft. Noch immer sind Anwält:innen in Haft. Noch immer gibt es Hinrichtungen. Aktuell findet eine regelrechte Hinrichtungswelle statt. Laut Menschenrechtsorganisationen sind im Jahr 2023 mehr als 800 Menschen exekutiert worden, ein trauriger Rekord, der zuletzt 2016 erreicht wurde.
Die Revolution dauert nun über ein Jahr an. Was fest steht: der „Point of no return“ ist längst erreicht. Das diktatorische Regime der Islamischen Republik Iran ist dem Ende geweiht. Der Friedensnobelpreis 2023 ging an die iranische Menschenrechtlerin und politische Gefangene Narges Mohammadi.2 In einem aus dem Gefängnis geschmuggelten Brief anlässlich ihrer Auszeichnung schrieb sie: „Je mehr sie uns einsperren, desto widerstandsfähiger werden wir.“

Was tun?

Diese Revolution wird von allen Menschen getragen, daher müssen wir den Protestierenden im Iran eine Stimme geben, ihre Schallverstärker:innen sein. Wir müssen hinschauen, auf Demonstrationen gehen, uns solidarisieren, unseren Einfluss auf die deutsche Politik geltend machen, Netzwerke bilden und vor allen Dingen uns nicht spalten lassen. Denn die Menschen im Iran rufen neben Parolen wie „Untergang dem Diktator“ auch immer wieder: Na tars-it, Na tars-it, ma hame ba ham hastim. „Fürchtet Euch nicht, fürchtet Euch nicht, wir stehen alle zusammen.“

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  1. Mehr Informationen zu Nahid Taghavi: Instagram: free.nahid, X (ehemals Twitter): mariam_claren.
  2. Siehe dazu ihre Würdigung in STREIT 4/2023, S. 147.