STREIT 3/2018
S. 119-120
LSG Baden-Württemberg, § 1 OEG
Folgeschaden durch traumatisierende Strafverhandlung
1. In einer dem Opferentschädigungsrecht zuzuordnenden Konstellation wie der vorliegenden, bei der sich die Klägerin im Strafverfahren entgegen ihres Wunsches nicht äußern konnte, wird eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid der Bedeutung der mündlichen Verhandlung und der Mitwirkung von ehrenamtlichen Richtern im sozialgerichtlichen Verfahren nicht gerecht.
2. Hat der Strafprozess gegen den Täter für die Geschädigte nicht den therapeutisch gewünschten Aufarbeitungseffekt mit der ihm zukommenden Genugtuungsfunktion, da der Staat den Täter aus ihrer Sicht nicht hinreichend zur Rechenschaft zog und verschlimmert sich dadurch der gesundheitliche Zustand, auch weil wegen der mit dem Strafverfahren für die Geschädigte einhergehenden Belastungen eine konfrontative Trauma-Behandlung nicht möglich war, besteht ein kausaler Zusammenhang im Sinne eines Folgeschadens zwischen dem schädigenden Ereignis (Vergewaltigung) und der sich nach dem Strafprozess verschlimmernden gesundheitlichen Störung.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 07.12.2017, L 6 VG 6/17
Aus dem Sachverhalt:
Die Klägerin begehrt wegen der Folgen einer Vergewaltigung vom 10. Oktober 2010 die Gewährung von Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsrecht. […]
[D]ie Klägerin […] nahm […] den Nachtliner-Bus. Dort wurde der […] Täter auf sie aufmerksam, da sie wegen eines akuten Asthmaanfalles hustete und Atemnot hatte. Sie stieg plangemäß an der Haltestelle aus, musste sich dann hustend nach vorne beugen, woraufhin der Täter sie zudringlich in der Absicht anfasste, sie in den naheliegenden Park zu bringen, was ihren Zustand noch verschlimmerte. Sie gab ihm deutlich zu erkennen, dass er sie in Ruhe lassen und weggehen solle […]. Der Asthma-Anfall verschlimmerte sich, so dass sie von Hustenkrämpfen geschüttelt auf dem Boden kniete. Der Täter trat an die nun hilflose Klägerin heran, schob ihr T-Shirt hoch und fasste ihr zwischen den Beinen unter die Strumpfhose und den Slip hindurch in den Genitalbereich, wobei er mit mindestens einem Finger zweimal hintereinander in ihre Scheide eindrang. […] Der […] Täter […] wurde nach seinem Geständnis aufgrund einer Verständigung mit Urteil vom 12. April 2011 durch das Landgericht Stuttgart […] wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. […]
Am 24. Mai 2011 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), wobei sie angab, sie leide seit der Tat an Schlaf- und schweren Kontaktstörungen, Panikattacken, Dissoziationen und Angstzuständen. […] Der Beklagte hat die Klägerin [...] bei Dr. P. begutachten lassen. Dieser gelangte zu dem Ergebnis, dass es bei der vorbestehenden Borderline-Störung durch die Tat zu einer posttraumatischen Belastungsstörung gekommen sei. […] Der Übergriff begründe […] angesichts der vorbestehenden Erkrankungen […] nur einen schädigungsbedingten Anteil von 20.
Daraufhin erkannte der Beklagte mit Erstanerkennungsbescheid vom 6. März 2013 eine posttraumatische Belastungsstörung im Sinne der Entstehung als Folge der Gewalttat vom 10. Oktober 2010 an, wobei der dadurch bedingte GdS 20 betrage und daher der Klägerin eine Beschädigtengrundrente nicht zustehe, wohingegen sie Anspruch auf Heilbehandlung ab dem 10. Oktober 2010 habe. Der […] Widerspruch blieb erfolglos […].
Hiergegen hat die Klägerin […] Klage […] erhoben […]. Das SG hat die Klägerin […] nervenärztlich begutachten lassen. Der Sachverständige Dr. St. ist in seinem Gutachten […] zu dem Ergebnis gelangt, dass im Vordergrund nach wie vor die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ stehe. Dazu gekommen sei aufgrund der Tat eine posttraumatische Belastungsstörung. […] Nicht nur das schädigende Ereignis, sondern das Erleben des Gerichtsverfahrens hätten zu einer weiteren psychischen Beeinträchtigung geführt. […] Die Verschlechterung im Rahmen des Gerichtsverfahrens könne aber nicht als Folge des schädigenden Ereignisses eingestuft werden, so dass der durch die Tat begründete GdS bei 20 liege. Gestützt hierauf hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. November 2016 […] abgewiesen […].
Gegen den […] Gerichtsbescheid hat die Klägerin […] Berufung […] eingelegt […]. Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat Dr. St. erneut mit einer Begutachtung beauftragt. Dieser ist zunächst in seinem Gutachten vom 19. Mai 2017 zu dem Ergebnis gelangt, dass […] sich an seinem ursprünglichen Gutachten keine Änderungen ergäben. Auf weitere Nachfrage hat er […] dargelegt, dass unter Berücksichtigung der zusätzlichen Folgen des Strafprozesses und der damit einhergehenden Verschlechterung bei bekannten weiteren deutlichen psychischen Funktionseinschränkungen vor der Tat der GdS insgesamt auf 30 geschätzt werden müsse. […]
Aus den Gründen:
Die Berufung der Klägerin ist […] teilweise begründet. […] In einer dem Opferentschädigungsrecht zuzuordnenden Konstellation wie der vorliegenden, bei der sich die Klägerin im Strafverfahren entgegen ihres Wunsches nicht äußern konnte, ist die erstinstanzliche Entscheidung durch Gerichtsbescheid […] der Bedeutung der mündlichen Verhandlung und der Mitwirkung von ehrenamtlichen Richtern im sozialgerichtlichen Verfahren nicht gerecht geworden. […]
Die Berufung ist nur insoweit begründet, als die Klägerin die Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach einem GdS von 30 ab 1. April 2011 erstrebt hat. […] Rechtsgrundlage für den von ihr geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. […]
Problematisch ist […], inwieweit die psychische Störung allein […] der Tat angelastet bzw. ob zu einem Vor- oder Nach- bzw. Folgeschaden abzugrenzen ist. […]
Schädigungsbedingt ist der Anteil […] nach der Tat nur mit einem GdS von 20 anzunehmen, wie oben dargelegt. Dass die psychischen Schäden in vollem Umfang ausschließlich der Tat angelastet werden können, wie dies Prof. Dr. B. angenommen hat, ist für den Senat in Übereinstimmung mit den Sachverständigen angesichts der Vorerkrankungen nicht überzeugend dargelegt.
Bei der Klägerin ist […] der Folgeschaden in Form der traumatisierenden Strafverhandlung hinzugekommen, dessen Folgen einen weiteren GdS von 10 begründen, wie dies Dr. St. und ihm folgend der Versorgungsarzt Dr. G. gesehen haben und damit rentenberechtigend ist, was das SG verkannte. Insoweit liegt kein entschädigungsunfähiger Nachschaden vor, der sich unabhängig von der Schädigung oder den Schädigungsfolgen entwickelt hat (vgl. dazu Knickrehm, a. a. O., § 1 Rz. 24; BSG, Urteil vom 8. Oktober 1987 – 4b RV 49/86, SozR 3100 § 30 Nr. 71). […]
Es […] besteht ein kausaler Zusammenhang im Sinne eines Folgeschadens zwischen dem schädigenden Ereignis (Vergewaltigung) und der sich nach dem Strafprozess verschlimmernden gesundheitlichen Störung. Die Klägerin hat insoweit auch für den Senat nachvollziehbar geltend gemacht, dass der Strafprozess für sie nicht den therapeutisch gewünschten Aufarbeitungseffekt mit der ihm zukommenden Genugtuungsfunktion hatte, da der Staat den Täter aus ihrer Sicht nicht hinreichend zur Rechenschaft zog. Sie ist, wie dies durch das Urteil bestätigt wird, von dem Strafgericht überhaupt nicht zu der Tat vernommen worden und konnte daher dem Täter nicht, wie sie dies vorhatte, ins Gesicht sagen, was er ihr angetan hat, obwohl vorher ihre Aussagetüchtigkeit durch das Gutachten von Dr. P. bestätigt worden ist.
Zusätzlich hat sich der Umstand ausgewirkt, dass der Täter nicht die von ihr erwartete Haftstrafe erhielt, sondern nach dem Prozess aus der Untersuchungshaft auf Bewährung freigelassen worden ist, welches die Ängste der Klägerin, die in unmittelbarer Nähe des Täters wohnhaft war, nachvollziehbar verstärkt hat. Der Sachverständige Dr. St. hat hierzu dargelegt, dass erst durch den Strafprozess ihr Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein nochmals deutlich beeinträchtigt wurden, so dass es als Folge des Strafverfahrens zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung der affektiven Komponenten, einer verstärkten denkinhaltlichen Beeinflussung, im Erleben auch des subjektiven Gerechtigkeitsgefühls gekommen ist. Insoweit liegt daher ganz unzweifelhaft ein Kausalzusammenhang mit dem schädigenden Ereignis vor, denn ohne die Vergewaltigung hätte sich die Klägerin nicht dem für sie traumatisierenden Strafprozess ausgesetzt, wobei insoweit auch die Dauer des Verfahrens wie der Umstand, dass aus ihrer Sicht nur ihre Glaubwürdigkeit von Gerichts wegen angezweifelt wurde, eine weitere Rolle spielen.
Dies gilt umso mehr, als sie die zeitnah nach der Tat angestrebte und dringend erforderliche medizinische Behandlung in dem Zentralinstitut für seelische Gesundheit in M. ab 30. November 2010 nicht erfolgreich beenden konnte, da aufgrund der aktuellen Belastungen durch die Gerichtsverhandlung eine konfrontative Trauma-Behandlung nicht möglich war, was der Senat dem Entlassungsbericht entnimmt, und sich deswegen die nicht behandelten Symptome sogar noch irreversibel verstärkt haben.
Durch das Gerichtsverfahren selbst ist es somit zu einer nachweisbaren weiteren Schädigung gekommen. Die Klägerin hat nach eigener Schilderung das Verfahren so erlebt, dass ihr die Würde weggenommen wurde, allein dadurch, dass sie keine Aussage machen konnte. Die Schadenswiedergutmachung, die dazu geführt hat, dass der Täter 100,-- EUR im Monat an sie zahlen muss, wurde von ihr so aufgefasst, dass der Täter frei gekommen ist, während sie bezahlt werde wie eine „Hure“. Auch Prof. Dr. B. hat einen massiven Vertrauensverlust der Klägerin festgestellt. Das unzureichend empfundene Strafmaß hat seiner Einschätzung nach zur Prolongierung und Verstärkung der Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung erheblich beigetragen. Dr. St. hat deswegen zu Recht auf die dezidierte Nachfrage des Senats das Erleben des Gerichtsverfahrens als weitere psychische Beeinträchtigung eingestuft, die zu einer messbaren Verschlechterung, d. h. insgesamt einem GdS von 30 geführt hat. […]
Anmerkung von Susette Jörk auf S. 125