STREIT 4/2019
S. 174-180
VG Münster, §§ 3, 3a, 3b, 3c AsylG, §§ 3, 4 AsylVfG
Geschlechtsspezifische Verfolgung für alleinstehende Irakerin
Alleinstehenden Frauen, die keine schutzbereiten männlichen Familienangehörige im Irak haben, droht landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der irakische Staat oder andere Organisationen sie schützen könnten.
(Leitsatz der Redaktion)
Urteil des VG Münster vom 2.10.2018 – 6a K 5132/16.A
Zum Sachverhalt:
Die am … in Faida im Irak geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und jesidischen Glaubens. Sie reiste eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit ihrem Ehemann […] am 28. Juli 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … einen Asylantrag, beschränkt auf die Gewährung internationalen Schutzes.
Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend: Sie sei mit ihrem Mann nach Deutschland gekommen, weil sie ihm habe folgen müssen […]. Nun habe sie sich aber von ihrem Ehemann getrennt. Als allein stehende Frau könne sie nicht in den Irak zurück. Sie habe dort niemanden mehr. Alle Angehörigen hätten den Irak verlassen. […]
Aus den Gründen:
[…] Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet (Nr. 2), dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2 a) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2 b).
Gemäß § 3 a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG kann als eine solche Verfolgung insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten.
Nach § 3 b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion auch die Religionsausübung im öffentlichen Bereich sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.
Nach § 3 c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr.1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3 a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3 b Abs. 2 AsylG). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff, wobei die Zielgerichtetheit sich nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst bezieht, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt. (Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 – 10 C 52.07 –, juris, Rn. 22.)
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. (Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, juris, Rn. 19.)
Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht dem Maßstab, der in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bei der Prüfung des Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) angewandt wird, indem auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abgestellt wird. (Vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 – Rs. C 175/08, Abdulla, juris.) […]
Die Klägerin hat bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 a AsylG zu befürchten. Für die Klägerin, die keine gegen sie persönlich gerichtete Verfolgung geltend macht, besteht für den Fall einer Rückkehr in den Irak die Gefahr der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3 b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. AsylG). Nach § 3 b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Das ist hier der Fall. Die alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen gemäß § 3 a Abs. 2 Nr. 6 AsylG in Gestalt von Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen, ausgesetzt.
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen.
Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen.
Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 S. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss. Diese ursprünglich für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar. (Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 – 10 C 11.08 –, juris, mit weiteren Nachweisen.)
In Anwendung dieser Maßgaben ist eine Gruppenverfolgung der alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige im Irak anzunehmen. Alleinstehenden Frauen, die keine schutzbereiten männlichen Familienangehörige im Irak haben, droht landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der irakische Staat oder andere Organisationen sie schützen könnten.
Der Auskunftslage zufolge ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten, ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung und ihnen droht Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen.
Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken.
In der irakischen Verfassung ist zwar die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben, Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Frauen werden noch immer in Ehen gezwungen, rund 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10-14 Jahren. 10 % der irakischen Frauen sind Witwen, viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden. Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Sie müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden. Im Rahmen einer Ehescheidung wird das Sorgerecht für Kinder ganz überwiegend den Vätern (und ihren Familien) zugesprochen. Viele Frauen und Mädchen sind auch durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt vermehrt Berichte, dass minderjährige Frauen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Frauen. (Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand Dezember 2017) vom 12. Februar 2018, S. 13, 14.)
Allein lebende Frauen sind im gesamten Irak, nicht allein unter Minderheitenangehörigen, ein völlig unübliches Phänomen – allenfalls findet man Witwen bzw. Familien, d.h. Frauen mit ihren Kindern, die im Zuge der diversen kriegerischen Auseinandersetzungen ihr männliches Familienoberhaupt verloren haben. Junge Frauen, auch aus wohlhabenden bzw. bildungsnahen Familien, leben in aller Regel bis zu ihrer Verheiratung bei den Eltern. Stirbt der Ehemann und ist die Frau noch jung, ihre Kinder noch klein, kehrt sie entweder in ihre eigene Familie zurück oder aber lebt bei der Familie ihres verstorbenen Mannes. Studiert eine Frau in einer anderen Stadt als der Heimatstadt der Eltern, so wird dies normalerweise nur gestattet, wenn sie dort bei Verwandten leben kann. Die permanente Kontrolle unverheirateter bzw. verwitweter oder geschiedener Frauen durch männliche Familienmitglieder ist zentraler Bestandteil irakischer Moral- und Ehrvorstellungen. Eine Frau, die allein oder mit einem oder mehreren Kindern aus einer früheren Beziehung lebt, fällt nicht nur auf, sie wird vielmehr von breiten gesellschaftlichen Schichten gemieden bzw. sozial ausgegrenzt, von Männern wie auch von Frauen. Für eine alleinstehende Frau ohne verwandtschaftliche Kontakte und Unterstützung erweisen sich zahlreiche Alltagshandlungen wie etwa das Finden einer Wohnung als extrem schwierig. Je jünger die Frau ist, umso schwieriger ihre Lage: Zwar trifft die soziale Ausgrenzung auch ältere Frauen – selbst solche, deren Männer als „Helden“ gestorben sind –, das Misstrauen gegenüber allein lebenden Frauen wird jedoch mit zunehmendem Alter geringer, d.h. in dem Maß, in dem eine Frau nicht mehr als sexuell aktiv wahrgenommen wird. Hat eine Frau dieses Alter noch nicht erreicht, besteht zudem die Gefahr sexueller Übergriffe und Belästigungen durch Nachbarn etc. Alleinstehende Frauen ohne männlichen „Schutz“ sind dieser Gefahr in höherem Ausmaß ausgesetzt als innerhalb der (Groß-) Familie lebende Frauen. Was die Arbeitsmarktsituation von Frauen anbelangt, so ist es bis heute in breiten Schichten der irakischen Gesellschaft, die kurdisch verwalteten Gebiete eingeschlossen, nicht üblich, dass Frauen einer Erwerbstätigkeit außerhalb ihres eigenen Hauses nachgehen. (Vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien v. 27. November 2006, S. 14-16.)
Das VG Gelsenkirchen führt zudem im Urteil vom 8. Juni 2017 (8 a K 1971/16.A – juris, STREIT 2017, 179-187) aus:
„Bereits in einer Stellungnahme des UNHCR vom 20. Juni 2006 betreffend die damalige „Situation von Frauen im Irak“ wird ausgeführt, dass sich nach dem Sturz der ehemaligen irakischen Regierung im April 2003 die Lage der Frauen im Irak in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht insgesamt kontinuierlich weiter verschlechtert habe. Diese Entwicklung sei neben den anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen und Regierungs- bzw. Koalitionskräften sowie dem Fehlen eines effektiven staatlichen Gewaltmonopols und der daraus resultierenden landesweit extrem angespannten Sicherheitslage vor allem auf die Hinwendung großer Teile der Bevölkerung zu streng-islamischen Wert- und Moralvorstellungen zurückzuführen. Hierdurch gerieten Frauen im Irak zunehmend unter gesellschaftlichen Druck, sich traditionell-islamischen Verhaltensmustern anzupassen, wobei eine wachsende Bereitschaft verschiedener Gruppierungen festzustellen sei, die Unterordnung unter solche Verhaltensstandards auch unter Anwendung oder Androhung von Gewalt durchzusetzen (Seite 1). Im Irak gebe es zahlreiche ungeschriebene, zunehmend restriktive Verhaltensregeln für Frauen. Hierzu zählten beispielsweise das landesweit geltende Verschleierungsgebot oder für Frauen insbesondere im Süd- und Zentralirak bestehende Verbote, ohne männliche Begleitung das Haus zu verlassen oder Auto zu fahren. Die Einhaltung solcher in Anknüpfung an das weibliche Geschlecht auferlegter faktischer Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts werde nicht selten gerade von (männlichen) Familienangehörigen überwacht. Zu berücksichtigen sei dabei, dass ungeschriebene Forderungen nach einer weiteren Einschränkung der Rechte und insbesondere der Bewegungsfreiheit der Frauen unter dem Eindruck einer tatsächlich deutlich gestiegenen Anzahl sexueller Übergriffe auf Frauen im Irak und entsprechenden Warnungen in Moscheen immer breitere Unterstützung fänden. UNHCR habe in seiner Stellungnahme zur Situation von Frauen im Irak (Aktualisierte Anmerkungen von UNHCR zur gegenwärtigen Situation von Frauen im Irak, November 2005) auf eine Vielzahl von Fällen hingewiesen, in denen Frauen, die sich beispielsweise dem Verschleierungsverbot widersetzt haben, Opfer von Säureattentaten geworden seien. UNHCR seien darüber hinaus mindestens 75 Fälle bekannt geworden, in denen irakische Frauen wegen des Verstoßes gegen islamische Verhaltensregelungen getötet worden seien. Mehrfach sei in der Presse davon berichtet worden, dass Frauen, die sich unverschleiert oder in westlicher Kleidung oder ohne männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit gezeigt haben, auf offener Straße gekidnappt und kahl geschoren worden seien – in einigen Fällen verbunden mit der Warnung, bei erneuter Zuwiderhandlung gegen islamische Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften ermordet zu werden. Insofern sei davon auszugehen, dass Frauen, die sich den traditionellen Kleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften nicht anpassten, unabhängig von ihrem familiären Status einem beachtlichen Risiko unterlägen, Opfer schwerwiegender Eingriffe in ihre physische Integrität zu werden (Seite 2 f.). Gegen solche Übergriffe und Einschüchterungen sei für Frauen derzeit im Irak weder effektiver staatlicher noch subsidiärer Schutz durch Angehörige verfügbar. Die einzige Möglichkeit, den Bedrohungen oder der Anwendung von Gewalt wegen der Nichtbeachtung fundamentalistisch geprägter, diskriminierender Verhaltensregeln zu entgehen, bestehe in der völligen Unterwerfung der betroffenen Frau unter die restriktiven Verhaltensstandards. Ein Unterschied zwischen Frauen mit familiärer Bindung und solchen ohne familiäre Kontakte bestehe dabei nur insofern, als für Frauen, die im Familienverbund lebten und von ihren Familienmitgliedern versorgt werden könnten, auch bei Anpassung an die konservativen islamischen Fundamentalisten geforderte Lebensweise das wirtschaftliche Überleben gesichert sei, während alleinstehende Frauen praktisch kaum eine Chance hätten, ohne Übertretung der geforderten Verhaltensstandards wirtschaftlich zu überleben. Die Unterordnung unter islamische Sitten und Gebräuche und die Anpassung an die in Irak herrschenden Moral- und Lebensvorstellungen einschließlich der Aufgabe einer qualifizierten Berufstätigkeit aber würde von den betroffenen Frauen geradezu eine Verleugnung ihrer durch westliche Werte geprägte Identität und Lebenseinstellung fordern. Frauen, deren Persönlichkeit durch eine westliche Orientierung geprägt sei, die sich durch ein selbstbewusstes Auftreten, eine gute schulische und/oder berufliche Ausbildung oder das Streben nach persönlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit nach außen manifestiere, seien im Irak grundsätzlich auch dann bedroht und gezwungen, ihre gesamte Lebenseinstellung und Lebensweise zu verändern, wenn sie gemeinsam mit ihren Ehemännern oder ihren Eltern in den Irak zurückkehrten (Seite 3).“
Das Deutsche Orient-Institut führt in seiner Stellungnahme vom 17. Juni 2008 an das Verwaltungsgericht Göttingen aus (Seite 4 f.), die zunehmende Radikalisierung von Teilen der irakischen Gesellschaft hin zu fundamentalistischen radikalislamischen Überzeugungen stelle insbesondere für die Sicherheit der Frau eine Gefährdung dar. So werde verstärkt Wert auf eine traditionell islamische Kleidung gelegt, was das Kopftuch in den meisten Fällen beinhalte. Dabei werde auch von islamistischen Anschlägen etwa auf Friseur- und Schönheitssalons berichtet, dies besonders im Süden des Iraks und für den kurdisch geprägten Norden nicht in gleicher Weise. Die „Ehrenmorde“ blieben auch im Norden des Irak aber noch Teil der Wirklichkeit. Jedenfalls könne konstatiert werden, dass Frauen aufgrund der teilweise dominierenden radikalislamischen Miliztruppen verstärkt die rigiden Bekleidungsvorschriften befolgen müssten, die Rede sei von einer „Kopftuchpflicht“. Bei einer als unreligiös beschriebenen Lebensweise sei zu vermuten, dass diese Lebensführung zu Problemen in der irakischen und auch in der nordirakischen Gesellschaft führen könne. Auch schienen Morde bei unzureichender Befolgung der Kleidervorschriften praktiziert zu werden. Bei einer als unreligiös beschriebenen Lebensweise von Frauen könne dies zu Problemen in der irakischen und in der nordirakischen Gesellschaft führen.
Das Europäische Zentrum für kurdische Studien kommt in seinem Gutachten vom 15. August 2008 an das Verwaltungsgericht Göttingen zu dem Ergebnis, dass die irakische-kurdische Gesellschaft eine äußerst konservative Gesellschaft sei, auch und gerade hinsichtlich der Rolle von Frauen. Einerseits studierten in den großen Städten zahlreiche junge Frauen oder gingen einer beruflichen Tätigkeit nach; andererseits seien Frauen in der Öffentlichkeit kaum präsent (Seite 1). Zum Beispiel seien Cafés und Restaurants Männern vorbehalten. Im städtischen Umfeld der Mittelklasse könnten bereits viele kurdische Frauen ihren zukünftigen Ehemann selbst auswählen, in Kleinstädten, auf dem Land und in der Unterschicht würden bis heute Ehen vorwiegend arrangiert, oft im (weiteren) familiären Umfeld. Doch sei es bis in die Gegenwart völlig unüblich, dass eine Frau allein oder mit anderen Frauen zusammenlebe (Seite 2). Ferner sei der Islam die dominierende Religion im kurdisch verwalteten Nordirak. Die Zahl der Frauen, die Kopftuch oder den Tschador trügen, sei in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen. Gleichzeitig werde jedoch niemand zum Beten gezwungen, es sei auch in den großen Städten möglich, sich ohne Kopftuch frei zu bewegen. Insbesondere in Suleymaniya seien viele Frauen „modern“, d.h. durchaus auch körperbetont, gekleidet, wenngleich es klare Bekleidungstabus gebe: Im Fall von Frauen seien etwa Röcke oder kurze Hosen, die nicht mindestens die Knie bedeckten, Trägerhemden, kurze Ärmel, die nicht mindestens bis zum Ellenbogen reichten, und bauchfreie T-Shirts oder Pullover (mit einem Streifen wahrnehmbarer Haut) verboten. Ein westlich geprägter Lebensstil einer Frau würde im kurdisch verwalteten Nordirak einen klaren Tabubruch darstellen (Seite 4). Eine irakische-kurdische Familie, die entgegen aller Normen einen westlichen Lebensstil pflege, würde sowohl von Seiten der eigenen Verwandten als auch von Freunden/Bekannten ausgegrenzt werden (Seite 5). Dies ziehe massiven Druck und Ausgrenzung nach sich. Eine Frau, deren Verhalten als „ehrlos“ eingestuft werde, werde verstärkt sexuellen Avancen und Übergriffen ausgesetzt sein. Gewalttätige Übergriffe männlicher Verwandter bis hin zu „Ehrenmorden“ seien nicht auszuschließen (Seite 6).
Gemäß einer weiteren Auskunft des Europäischen Zentrums für kurdische Studien an das Bayerische Verwaltungsgericht München vom 9. November 2011 (Seite 8 f.) sei es nach wie vor grundsätzlich schwierig, sich als alleinstehende Frau ohne Familie in Kurdistan-Irak aufzuhalten. Am einfachsten sei dies – unter sozialen (gesellschaftlichen wie arbeitstechnischen) Aspekten – in den großen Städten der Region, unter anderem in F. , jedoch mit dem Nachteil der dort extrem hohen Mieten. Da es keine staatliche Unterstützung für alleinstehende Frauen gebe – der Aufenthalt in diversen Frauenhäusern der Region könne immer nur eine Übergangslösung sein –, sei die Möglichkeit, allein zu leben, davon abhängig, ob die entsprechende Person eine Arbeit finde oder nicht. Anders als für alleinstehende Männer sei die Zahl der für Frauen zur Verfügung stehenden Jobs deutlich geringer; in Frage kämen hier vor allem Beschäftigungen innerhalb der staatlichen Verwaltung. Alles in allem sei es nicht unmöglich, sich als alleinstehende Frau ohne Kontakte zur Familie in Kurdistan-Irak aufzuhalten, wohl aber sehr schwierig – zumal dann, wenn der Herkunftsort einer Person aus persönlichen Gründen für eine Rückkehr ausscheide.
Nach den Förderungsrichtlinien für die Bewertung der internationalen Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden aus dem Irak des UNHCR vom 31. Mai 2012 (vgl. UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Iraq, 31. Mai 2012, S. 34 f. – in englischer Sprache) sei die Gewalt gegen Frauen und Mädchen seit 2003 gestiegen und setze sich unvermindert fort. Frauen und Mädchen seien hiernach im Irak Opfer von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen, Entführungen und Tötungen aus politischen, religiösen oder kriminellen Gründen, sexueller Gewalt, erzwungener Umsiedlung, häuslicher Gewalt, „Ehrenmorden“ und anderen schädlichen traditionellen Praktiken, wie etwa (Sex-)Handel und erzwungener Prostitution. Frauen ohne männliche Unterstützung, einschließlich Witwen, Frauen, deren Ehemänner vermisst würden oder inhaftiert seien, und geschiedenen Frauen, seien am meisten betroffen. Traditionell würden sie nach dem Verlust ihrer Ehemänner mit ihren Familien oder ihren Schwiegereltern mitgehen. Allerdings seien diese Verwandten oft wegen ihrer eigenen wirtschaftlichen Not nicht in der Lage, eine beträchtliche Unterstützung zu bieten.
Nach einem Bericht von Unami Human Rights für Juni/Juli 2014 (vgl. Unami Rights Report on the Protection of Civilians in the Non International Armed Conflict in Iraq, 5 June – 5 July 2014, S. 21 – in englischer Sprache) seien einzelne Frauen und weibliche Haushaltsvorstände besonders anfällig für Drohungen von sexuellen und anderen Formen der physischen Gewalt, Tötungen und dem beeinträchtigten Zugang zu bereits begrenzter humanitärer Hilfe.
Der Schnellrecherche der Länderanalyse der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 15. Januar 2015 zum Thema „Irak: Zwangsheirat“ ist im Hinblick auf alleinstehende Frauen zu entnehmen (vgl. Seiten 2 und 8), dass diese kaum die Möglichkeit hätten, sich dem Willen der Familie zu entziehen. Auch wenn sie nicht mit Ehrenmord bedroht würden, könnten junge Frauen in den seltensten Fällen allein und außerhalb ihres Familienverbandes leben. Frauen, die allein lebten, würden deshalb auch gemäß den Richtlinien von UNHCR zu den verletzlichsten Personengruppen zählen. Ohne die Unterstützung ihrer Verwandtschaft seien viele gezwungen, sich zu prostituieren, Ehen mit älteren Männern oder Zeitehen einzugehen.
Schließlich weist auch das Britische Innenministerium in seinem Länderbericht betreffend den Irak von Juni 2015 (vgl. UK Home Office (June 2015), Country Information and Guidance – Iraq: humanitarian situation in Baghdad, the south (including Babil) and the Kurdistan Region of Iraq, S. 7 bzw. Unterpunkt 2.4.8 – in englischer Sprache), darauf hin, dass einzelne Frauen und Kinder, die in den Irak zurückkehrten, aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters besonders anfällig seien und wahrscheinlich die Schwelle für die Zuerkennung internationalen Schutzes erreichen dürften, wenn sie keine Unterstützungsnetze hätten oder sich nicht finanziell unterstützen können.
Das VG Hannover führt zudem im Urteil vom 26. Februar 2018 (6 A 6292/16 – juris) aus:
„Human Rights Watch berichtete im Februar 2014, die Rechte der Frauen im Irak hätten sich seit dem Golfkrieg 1991 dramatisch verschlechtert. Mit der Erosion von Sicherheit und Stabilität einhergehend, hätten frauenfeindliche Ideologien propagierende Milizen Frauen und Mädchen zur Zielscheibe von Angriffen gemacht und sie eingeschüchtert, sich aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten. Frauen sähen sich dem Risiko ausgesetzt, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden, was ihre fortwährende Viktimisierung im häuslichen Bereich konsolidiere. Die größten Opfer der fortdauernden Unsicherheit seien junge Frauen. Sie würden verwitwet, versklavt, zur frühen Heirat gezwungen, häuslicher Gewalt ausgesetzt oder sexuell belästigt, sobald sie das Haus verließen. Letzteres sei ein neues Phänomen im Irak (Human Rights Watch, No one is safe. Abuses of women in Iraq’s criminal justice system, Februar 2014).”
Das VG Berlin führt im Urteil vom 4. Mai 2017 (22 K 418.16A – juris) aus:
„Von Frauen geführte Haushalte zählen in Irak generell zu den gesellschaftlich schutzbedürftigsten Gruppen, weil Frauen in der Regel über kein eigenes Erwerbseinkommen verfügen, sondern auf die Hilfe Dritter, sei es in Gestalt von Zuwendungen anderer Familienmitglieder, sei es in Form von Spenden von Moscheen oder Hilfeleistungen öffentlicher Stellen angewiesen sind (vgl. UNHCR [2012], S. 35). Außerdem stößt das Alleinleben von Frauen schon aus kulturell-gesellschaftlichen Gründen auf Ablehnung; alleinstehende Frauen haben kaum eine Aussicht darauf, Arbeit oder eine Wohnung zu finden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 15. Januar 2015 zu Irak: Zwangsheirat, S. 7).“
Das VG Aachen führt im Urteil vom 10. Juli 2017 (4 K 113/16.A – juris) folgendes aus:
„Nach den Erkenntnissen der Kammer ist die Lage unverheirateter bzw. alleinstehender Frauen im Irak unabhängig von ihrem Alter, ihren Vermögensverhältnissen oder ihrer sozialen Stellung prekär. Am stärksten betroffen sind nach den hiesigen Erkenntnissen Frauen ohne männliche Unterstützung wie etwa Witwen, geschiedene Frauen oder Frauen, deren Männer vermisst werden. (Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 15. Januar 2015 zu Irak: „Zwangsheirat“, Seite 8 unter Bezugnahme auf einen Bericht des UNHCR vom 31. Mai 2012, abrufbar unter www.ecoi.net/fileupload/20161338807173_4fc77d522.pdf; so auch: VG Ansbach, Urteil vom 7. Oktober 2011 – AN 14 K 11.30039 –, juris Rn. 27. ) Die Lage von Frauen, speziell von alleinstehenden Frauen ohne Schutz der Familie, des Stammes oder des Clans, hat sich nach den vorliegenden Erkenntnissen aufgrund von Unsicherheit, hoher Kriminalität, ungenügendem Schutz durch staatliche Autoritäten, schlechter Infrastruktur sowie der zunehmenden Bedeutung strikter islamischer Werte, die oftmals von Milizen, Familien und Clans durchgesetzt werden, in den letzten Jahren generell verschlechtert. Die Bewegungsfreiheit von Frauen wurde stark eingeschränkt wegen Belästigungen und Drohungen gegen Frauen, weshalb Frauen, vor allem alleinstehende Frauen, heute verstärkt auf Männer als Begleitpersonen angewiesen sind oder vielerorts erst gar nicht mehr das Haus verlassen oder verlassen können. Speziell alleinstehende Frauen ohne Schutz der Familie, des Stammes und Clans oder Unterstützung anderer Personen und Einrichtungen sind nicht in der Lage, Zugang zu grundlegenden Ressourcen ohne diese Unterstützung zu bekommen. (Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 15. Januar 2015 zu Irak: „Zwangsheirat“; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft der Länderanalyse – Irak: Rückkehr einer verwitweten schiitischen Frau mit einem ehelichen und einem unehelichen Kind vom 20. November 2007; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 7. 2. 2017 (Stand: 12. 2016), S. 14.)“
Aufgrund dieser Erkenntnislage sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG hier erfüllt. Die Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige ist eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. AsylG, weil die Verfolgung allein an das weibliche Geschlecht anknüpft.
Diese Handlungen sind aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Diese Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, allein zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten. Für den Eintritt dieser Verletzungen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit.
Die erforderliche „Verfolgungsdichte“ ist anzunehmen, da die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen besteht, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern die Handlungen auf alle sich im Irak aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Wie oben zitiert drohen den alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige jederzeit sexuelle oder andere gewalttätige Übergriffe, Obdachlosigkeit, wirtschaftliche Not, soziale Isolierung und Demütigung. Die genannten Verfolgungshandlungen drohen nicht nur selten, sondern sie sind üblich und drohen jederzeit. Da eine alleinstehende Frau ohne männliche schutzbereite Familienangehörige sich notgedrungen allein in der Öffentlichkeit bewegen muss, um eine Wohnung zu mieten, zu arbeiten und sich zu versorgen, kann sie die bestehenden Gefahren auch nicht umgehen.
Die Verfolgung erfolgt auch im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG „wegen“ der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Die geschilderten Verfolgungshandlungen knüpfen gezielt an das weibliche Geschlecht an.
Die Verfolgung geht von nichtstaatlichen Akteuren aus, ohne dass der Staat, Parteien, Organisationen oder internationale Organisationen bereit und in der Lage sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, §§ 3 c und 3 d AsylG. Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte sind nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. (Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand Dezember 2017) vom 12. Februar 2018, S. 8.) Der irakische Staat lässt dadurch, dass er die in der Verfassung garantierte Gleichstellung von Frauen und Männern nicht auf einfachgesetzlicher Ebene umgesetzt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand Dezember 2017) vom 12. Februar 2018, S. 13), erkennen, dass er den Schutz der Frauen auch nicht beabsichtigt.
Zudem wird auf das obige Zitat von Human Rights Watch (No one is safe. Abuses of women in Iraq‘s criminal justice system, Februar 2014) verwiesen, wonach Frauen dem Risiko ausgesetzt sind, von Mitgliedern der ausschließlich männlichen Polizei oder anderen Sicherheitskräften belästigt und misshandelt zu werden.
Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG ist nicht ersichtlich, da die geschilderte Problematik den bereits zitierten Auskünften zufolge landesweit besteht.
Das Gericht schließt sich der Rechtsprechung, die alleinstehenden Frauen die Flüchtlingseigenschaft wegen einer geschlechtsspezifischen Verfolgung zuerkannt hat, an (vgl. VG Hannover, Urteil vom 26. Februar 2018 – 6 A 6292/16 – juris (Gruppe der jungen, alleinerziehenden Frauen); VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8. Juni 2017 – 8a K 1971/16.A – juris, STREIT 2017, 179-187, junge, alleinstehende Frau mit westlicher Prägung); VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 11. Mai 2012 – VG 5 K 195/09.A – juris (alleinstehende Frau westlicher Prägung); VG Stuttgart, Urteil vom 18. Januar 2011 – A 6 K 615/10 – juris (Gruppe der alleinstehenden Frauen mit westlichem Lebensstil, nicht religiös und ohne finanzielle Mittel); VG Magdeburg, Urteil vom 15. Juni 2007 – 4 A 151/05 MD – juris (alleinstehende Frau westlicher Prägung); VG Augsburg, Urteil vom 16. Mai 2007 – Au 5 K 07.30066 – juris (Gruppenverfolgung alleinstehender Frauen westlicher Prägung).
Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak dort alsbald die beschriebenen Gefahren mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Da die Klägerin sich nach ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung von ihrem Ehemann getrennt hat und im Irak nicht mehr über Familienangehörige verfügt, würde sie allein, insbesondere ohne Ehemann und ohne andere männliche und schutzbereite Familienangehörige, in den Irak zurückkehren. Dabei ist unter Berücksichtigung der oben zitierten Auskünfte und Entscheidungen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass die 22-jährige Klägerin im Irak nicht in der Lage sein würde, eine Arbeit zu finden und ihre Existenzgrundlage zu sichern, dass sie sozial ausgegrenzt und Opfer von Übergriffen würde.