STREIT 3/2019
S. 107
Handreichung zur Lösung von Konfliktfällen vor Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, Arztpraxen und Kliniken
Anlässlich von weiterhin stattfindenden beziehungsweise neu angemeldeten Demonstrationen in unmittelbarer Nähe von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen bitte ich in Ergänzung meines Erlasses vom 7. Juni 2019 um Beachtung folgender Ausführungen und Information des nachgeordneten Bereichs.
Der Staat hat die volle Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung des Beratungskonzepts des SchKG (BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993 – 2 BvF 2/90; zum Beratungskonzept insbesondere VG Freiburg, Beschluss vom 4. März 2011 – 4 K 314/11). Die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen sind integraler Bestandteil dieses Konzepts. Gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag dienen die Beratungsstellen der Unterstützung von Schwangeren und Familien und dem Schutz des ungeborenen Lebens. Vor diesem Hintergrund garantiert das SchKG den Zugang zu Informationen und Beratung für alle Menschen und schreibt zum Schutz des ungeborenen Lebens eine unverzügliche, ergebnisoffene und professionelle Beratung vor. Die Beratungen haben in jedem Fall vertraulich und auf Wunsch auch anonym zu erfolgen. Die gesetzlich vorgeschriebene Schwangerschaftskonfliktberatung soll dem Recht auf Selbstbestimmung der schwangeren Frau Rechnung tragen, welches Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist.
Eine auf Erzeugung von Schuldgefühlen abzielende und in dieser Weise belehrende Einflussnahme, die in erster Linie die Bereitschaft der Frau einschränkt, sich der Konfliktberatung gegenüber zu öffnen, dient weder dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes noch dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Dies gilt umso mehr, als sich die meisten Frauen in der Frühphase der Schwangerschaft in einer besonderen seelischen Lage befinden, in der es in Einzelfällen zu schweren Konfliktsituationen kommen kann.
In jedem Einzelfall ist eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen, die allen betroffenen Grundrechten zu jeweils bestmöglicher Wirkung und Geltung verhilft (vgl. BVerfG, Urteil vom 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198, 210; ständige Rspr.). Dabei sind das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frau (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und der Schutz des ungeborenen Lebens, dem gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 SchKG die gesetzlich ausgestaltete Schwangerschaftskonfliktberatung zu dienen bestimmt ist, in Abwägung zu bringen mit der allgemeinen Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), ggf. der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und ggf. der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) Dritter. Ich verweise auf die in meinem Erlass vom 7. Juni 2019 dargestellte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung.
Die im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vorzunehmende Abwägung der widerstreitenden Interessen wird in der Regel dazu führen, dass an Sonn- und Feiertagen sowie außerhalb der Geschäftszeiten von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen und Arztpraxen die Meinungs- sowie die ggfs. ebenfalls betroffene Versammlungs- und Religionsfreiheit das allgemeine Persönlichkeitsrecht – soweit überhaupt betroffen – der schwangeren Frau überwiegt.
An Werktagen und innerhalb der Öffnungszeiten wird dagegen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit ein Eingriff in die Meinungs-, Versammlung- und Religionsfreiheit in der Regel zulässig, wenn nicht sogar geboten sein. Dies gilt insbesondere für die Fallkonstellation, dass sogenannte Mahnwachen in unmittelbarer Nähe von Beratungsstellen stattfinden sollen.
Zwar beinhaltet die Versammlungsfreiheit auch ein Selbstbestimmungsrecht über den Ort der Veranstaltung. Dieses Recht findet aber seine Schranke, wenn der Versammlungsort darauf ausgerichtet ist, die schwangere Frau in ihrer Konfliktsituation und im Zustand hoher Verletzlichkeit einer Anprangerung und Stigmatisierung auszusetzen (VG Karlsruhe, a.a.O., Rn. 40, juris).
Bei der Abwägung in Konfliktfällen dieser Art ist zudem die staatliche Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung des Beratungsverfahrens zu berücksichtigen, im Rahmen dessen der Frau ein Raum eigener, nicht durch Druck von außen determinierter Verantwortlichkeit zu sichern ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 273).
Vorgesagtes ist durch Erlass entsprechender Verfügungen, im Fall von Mahnwachen oder ähnlicher Veranstaltungen insbesondere durch versammlungsrechtliche Auflagen, sicherzustellen.
Aktives Ansprechen und Bedrängen der ratsuchenden Personen muss ausgeschlossen sein. Ihnen darf nicht der Weg in die Beratungsstelle versperrt werden.
Belästigungen aller Art, z. B. das Aufzwingen eines Gesprächs oder die Übergabe von Informationsmaterial (Flyer o. ä.) müssen ebenfalls ausgeschlossen sein.
Im Regelfall sind die Örtlichkeit einer Versammlung räumlich so weit von der Beratungsstelle entfernt festzulegen oder bestimmte Bereiche auszunehmen, dass kein Sicht- oder Rufkontakt mit der Beratungsstelle mehr besteht.
Auch zeitliche Beschränkungen von Versammlungen sind in Betracht zu ziehen.