STREIT 1/2021
S. 3-8
ILO-Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt
I Einleitung
Bereits die Jahrhunderterklärung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) proklamiert 2019 das Ziel einer Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung.1 Im Rahmen der internationalen Arbeitskonferenz wurde dann im gleichen Jahr ein bemerkenswertes völkerrechtliches Abkommen vereinbart: Das nunmehr jüngste ILO-Übereinkommen Nr. 190 hat die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zum Thema und ergänzt insoweit das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Damit liegt nicht nur eine weltweit gültige Definition von sexueller Gewalt und Belästigung vor, das ILO-Abkommen geht in Teilen sogar über bestehende unionsrechtliche und nationale Bestimmungen aus den Antidiskriminierungs-Richtlinien und dem AGG hinaus. Der vorliegende Beitrag stellt das Abkommen vor und diskutiert offene Fragen.
II Wesentlicher Inhalt des Übereinkommens Nr. 190
Ausweislich der Präambel basiert das Übereinkommen auf der Erkenntnis, „dass jede Person das Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung“ hat, dieses gilt auch für „geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“. Es wird anerkannt, „dass Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt eine Verletzung oder einen Missbrauch der Menschenrechte darstellen können (…), eine Bedrohung für die Chancengleichheit“ darstellen und daher „inakzeptabel und mit menschenwürdiger Arbeit unvereinbar sind“. Zwar kann Gewalt in der Arbeitswelt potentiell jede/n treffen, bekanntermaßen sind jedoch spezielle Gruppen, insbesondere Frauen, überproportional häufig davon betroffen.2 Dem Übereinkommen liegt ein „inklusiver, integrierter und geschlechterorientierter Ansatz zur Verhinderung und Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt“ zugrunde (Art. 4 Abs. 2).3 Gewalt und Belästigung soll folglich nicht fragmentiert und in einzelnen Bereichen wie Gleichbehandlung und Antidiskriminierung oder Arbeitssicherheit getrennt voneinander behandelt werden. Vielmehr sind Gewalt und Belästigung in einem zusammenhängenden Ansatz zu untersagen, zu verhindern und zu thematisieren.4 Das Übereinkommen wird ergänzt durch Empfehlung Nr. 206. Beide Instrumente weisen auf die Bedeutung einer Arbeitskultur hin, die gegenseitigen Respekt und Menschenwürde als Basis für die Prävention und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung zugrunde legt.5 Im Unterschied zu Übereinkommen sind Empfehlungen nicht verbindlich, können aber zusätzlich als Auslegungshilfe herangezogen werden. Als völkerrechtliches Abkommen normiert Übereinkommen Nr. 190 Pflichten des ratifizierenden Staates, dieser hat entsprechende Schutzbestimmungen zu erlassen, die teilweise an die Arbeitgeberseite adressiert sind.
1 Weiter Geltungsbereich
Das Übereinkommen hat einen bemerkenswert weiten Anwendungsbereich, der neben ArbeitnehmerInnen (AN) gem. Art. 2 Abs. 1 auch „andere Personen in der Arbeitswelt“ umfasst. Hierunter fallen einerseits weitere abhängig Beschäftigte, wie Auszubildende, PraktikantInnen und Freiwillige sowie BewerberInnen (nebst Arbeitsuchenden) und AN, deren Arbeitsverhältnis beendet wurde. Freiwillig tätig sind Ehrenamtliche, die nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen und auch kein Praktikum absolvieren. Vom Geltungsbereich des Übereinkommens erfasst sind zudem auch (natürliche) Personen, „die Befugnisse, Pflichten oder Verantwortlichkeiten einer ArbeitgeberIn (…) ausüben“. Die Norm stellt ab auf „erwerbstätige Personen ungeachtet ihres Vertragsstatus“, somit sind auch GeschäftsführerInnen oder andere Leitungspersonen vom Anwendungsbereich des Übereinkommens erfasst. Im Zusammenspiel mit der Formulierung „andere Personen in der Arbeitswelt“, wird durch die gewählte Terminologie deutlich, dass jegliche in der Arbeitswelt Tätige erfasst sind, seien sie in Heimarbeit tätig, als Arbeitnehmerähnliche oder in freiberuflicher Form. Übereinkommen Nr. 190 gilt zudem für alle Geschlechter, auch wenn anerkannt wird, „dass Frauen und Mädchen unverhältnismäßig stark von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung betroffen sind“ (Präambel). Das Übereinkommen erfasst neben dem formellen Sektor explizit auch den informellen Sektor (Art. 2 Abs. 2).
Übereinkommen Nr. 190 gilt für alle Sektoren, sowohl für private als auch für öffentliche ArbeitgeberInnen (Art. 2 Abs. 2). Im Zusammenspiel mit der o.g. verwendeten Terminologie „Personen in der Arbeitswelt“, ergibt sich daher, dass neben Angestellten auch BeamtInnen vom Anwendungsbereich erfasst sind. Maßgeblich sind jeweils die innerstaatlichen Rechtsvorschriften.
2 Zu verhindernde Gewalt und Belästigung
Die zu verhindernde „Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt“ bezieht sich gem. Art. 1 Abs. 1 lit. a) auf vielfältige „inakzeptable Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben“. Umfasst ist explizit „auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“. Hierunter fällt sowohl „Gewalt und Belästigung, die gegen Personen aufgrund ihres Geschlechts gerichtet sind“, als auch Gewalt und Belästigung „von denen Personen eines bestimmten biologischen und sozialen Geschlechts unverhältnismäßig stark betroffen sind“. Es wurde zwar eine neutrale Formulierung gewählt, die sich nicht explizit auf Frauen bezieht, wobei in der Präambel ausgeführt wird, dass geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung überproportional häufig gegen Frauen und Mädchen ausgeübt wird. Dieser Absatz in der Präambel spiegelt intensive Debatten in der Entstehungsphase des Übereinkommens wieder. Wenn doch in erster Linie Frauen und Mädchen Opfer von Gewalt und Belästigung werden, wäre es dann nicht folgerichtig, dieses auch im Text des Übereinkommens selbst deutlich zu machen? Gleichzeitig ist aus Antidiskriminierungsdebatten bekannt, dass auch Männer diskriminiert werden (können), insbesondere wenn sie Minderheitengruppen angehören. Auch Transpersonen fallen folglich in den Anwendungsbereich des Übereinkommens. Insoweit sieht das Abkommen vor, Ursachen und Risikofaktoren zu identifizieren und festzustellen, „in welchen Sektoren oder Berufen und Arbeitssituationen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und andere betroffene Personen Gewalt und Belästigung stärker ausgesetzt sind“ (Art. 8 lit. b) sowie Art. 9 lit. c)) und insoweit auch häusliche Gewalt zu berücksichtigen.6
Erfasst ist zudem Gewalt oder Belästigung durch Dritte wie bspw. KundInnen und Gäste oder andere, mit denen Beschäftigten während der Arbeit zusammenkommen. Dieses ist von besonderer Bedeutung für Beschäftigte in Sektoren wie dem Gesundheitswesen, dem Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Unterhaltungsindustrie, im Verkauf, in der Erziehung, im Transportwesen oder in anderen Dienstleistungsbereichen.7
Im Unterschied zum AGG müssen die gewalttätigen oder belästigenden Verhaltensweisen nicht „unerwünscht“, sondern nur „inakzeptabel“ sein, was einen objektivierten Maßstab darstellt, der unabhängig ist von der Wahrnehmung durch die belästigte Person.8
Auch in Bezug auf die Wirkung des belästigenden Verhaltens geht Übereinkommen Nr. 190 über das AGG hinaus, abgestellt wird nicht nur auf Intention oder Wirkung,9
auch Handlungen, die den genannten Schaden „wahrscheinlich zur Folge haben“ sind von Art. 1 Abs. 1 lit. a) erfasst. Auch eine einmalige Handlung kann eine Belästigung i.S.d. Übereinkommens darstellen, ebenso sind psychischer Missbrauch und Gewalt (psychological abuse/violence)10
sowie deren Auswirkungen erfasst.
3 In der Arbeitswelt
Übereinkommen Nr. 190 bezieht sich gem. Art. 3 auf „Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, die während, im Zusammenhang mit oder infolge der Arbeit auftreten“, mithin am Arbeitsplatz, wobei hierunter nicht nur die „Arbeitsstätte“ fällt, sondern auch öffentliche oder private Räume, in denen Arbeitstätigkeiten nachgegangen wird (Art. 3 lit. a). Insoweit ist auch der häusliche Arbeitsplatz erfasst, an dem (bspw. in der Corona-Pandemie) im Homeoffice gearbeitet wird. Gewalt und Belästigung ist auch zu verhindern an Orten, an denen der/die Beschäftigte „bezahlt wird, eine Ruhepause einlegt oder eine Mahlzeit einnimmt“, auch „sanitäre Einrichtungen, Waschgelegenheiten und Umkleideeinrichtungen“ sind explizit aufgeführt (Art. 3 lit. b).11
Zur Arbeitswelt i.S.d. Übereinkommens gehören auch „arbeitsbezogene Fahrten, Reisen, Ausbildungen, Veranstaltungen oder gesellschaftliche Aktivitäten“ (Art. 3 lit. c), wie bspw. Betriebsfeiern o.ä. Gem. Art. 3 lit. d) ist zudem jegliche „arbeitsbezogene Kommunikation“ erfasst.12
Stellt die ArbeitgeberIn Unterkünfte bereit, so ist auch in diesen Schutz vor Gewalt und Belästigung zu gewähren (Art. 3 lit. e), hierbei ist nicht nur an Ruheräume für ÄrztInnen im Krankenhaus zu denken, sondern auch an Unterkünfte für ErntehelferInnen oder in der Fleischindustrie Tätige, auch diese Gruppen sind von dem Abkommen erfasst, ungeachtet des einschlägigen Vertragsverhältnisses.13
Bemerkenswert ist, dass der Schutz vor Gewalt und Belästigung auch auf dem Arbeitsweg zu gewährleisten ist (Art. 3 lit. f). Dieses kann insbesondere einschlägig sein, wenn bspw. der Arbeitsweg nach dem Ableisten von Überstunden oder bei Nachtschichten gefährlicher wird und bspw. Frauen einen sehr unsicheren Heimweg haben. Dieses ist insbesondere in der globalen Textilindustrie ein Problem, wo massiv Überstunden abzuleisten sind und die beschäftigten Frauen aufgrund des niedrigen Verdienstes in Slums, d.h. äußerst unsicheren Wohngegenden leben. Aber auch in Industrienationen ist die Verpflichtung des Arbeitgebers, für einen sicheren Heimweg zu sorgen, nicht zu unterschätzen.
4 Staatliche Verpflichtungen
Gem. Art. 4 Abs. 2 lit. a) haben Ratifikationsstaaten ein „gesetzliches Verbot von Gewalt und Belästigung“ zu normieren und sicherzustellen, dass einschlägige Politiken sich mit der Thematik beschäftigen (lit. b), insoweit ist eine umfassende Strategie zur Umsetzung zu erarbeiten (lit. c). Sofern „angemessen“, sind „Sanktionen vorzusehen“ (Art. 10 lit. d), zudem sind Durchsetzungs- und Überwachungsmechanismen zu schaffen bzw. zu stärken (Art. 4 Abs. 2 lit. d), gleiches gilt für umfassende Beratungsangebote (Art. 4 lit. e), Art. 9 lit. d), Art. 10 lit. b) v). Empfehlung 206 regt in Nr. 17 Maßnahmen an wie „Beratungs- und Informationsdienste“, einschließlich „24-Stunden-Hotlines, Notdiensten, medizinischer Versorgung und Behandlung und psychologische Unterstützung, Krisenzentren, einschließlich Unterkünften“ sowie „spezialisierte Einheiten der Polizei oder speziell ausgebildetes Personal zur Unterstützung von Opfern“. Diese beratungs- und Unterstützungsangebote sollten auch Opfern von Gewalt und Belästigung aus der informalisierten Wirtschaft zugänglich gemacht werden (vgl. Empfehlung 206, Nr. 11).
a) Zugang zu Abhilfemaßnahmen
Die Ratifikationsstaaten haben sicherzustellen, dass Opfer von Gewalt und Belästigung leichten „Zugang zu Abhilfe-“ und Unterstützungsmaßnahmen haben (Art. 4 Abs. 2 lit. e), diese müssen gem. Art. 10 lit. b) geeignet und wirksam sein. Hierunter fällt nicht nur „angemessener Schadensersatz“14
und „bei einer psychosozialen, physischen oder sonstigen Schädigung oder Erkrankung“ auch Entschädigung, sofern diese Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.15
Empfehlung 206 zeigt zudem auf, dass bei der Entstehung der Norm Maßnahmen wie „das Recht auf Kündigung mit Entschädigung“ (Nr. 14 lit. a) und „Wiedereinstellung“ (Nr. 14 lit. b) als mögliche Abhilfemaßnahmen in Erwägung gezogen wurden. Bedeutsamer für die Praxis dürfte noch die Empfehlung der Übernahme „gerichtlicher Gebühren und Kosten“ (Empfehlung 206 Nr. 14 lit. e) sein, werden doch in der 1. arbeitsrechtlichen Instanz im deutschen System auch bei Obsiegen die Prozesskosten nicht von der Gegenseite übernommen.16
Eine solche Maßnahme würde deutlich über das AGG hinausgehen. Empfohlen werden zudem „Anordnungen, denen zufolge durch sofort vollziehbare Maßnahmen sicherzustellen ist, dass ein bestimmtes Verhalten eingestellt wird oder Politiken oder Praktiken zu ändern sind“ (Empfehlung 206, Nr. 14 lit. d).
Das Übereinkommen verpflichtet in Art. 10 lit. b) zudem dazu, „sichere, faire und wirksame Melde- und Streitbeilegungsmechanismen und -verfahren“ zu schaffen. Neben außerbetrieblichen sind auch „betriebliche Streitbeilegungsmechanismen“ verbindlich vorgesehen, allerdings nur dort, „wo es angemessen ist“. Hier ist im deutschen System an die Einigungsstelle als verbindliche innerbetriebliche Schlichtungsstelle zu denken und es würde sich anbieten, den Katalog der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates aus § 87 Abs. 1 BetrVG entsprechend zu erweitern.
b) Berücksichtigung beim Arbeitsschutz
Art. 12 des Übereinkommens sieht dezidiert vor, bestehende Arbeitsschutzmaßnahmen auf Gewalt und Belästigung auszuweiten und ggfs. spezifische Maßnahmen zu entwickeln. Art. 9 lit. b) normiert zudem, dass „Gewalt und Belästigung und damit verbundene psychosoziale Risiken“ zudem „beim Arbeitsschutzmanagement zu berücksichtigen“ sind. Zwar ist der Arbeitsschutz seit langer Zeit nicht nur technisch zu verstehen und es wird im Arbeitsschutzrecht mittlerweile durchaus auch auf die psychische Gesundheit abgestellt (vgl. § 4 Nr. 1 ArbSchG), worunter Beeinträchtigungen aufgrund von Gewalt und Belästigung subsumiert werden können. Jedoch empfiehlt es sich, zur Klarstellung auch dezidiert auf Gewalt und Belästigung als mögliche Beeinträchtigungen der Beschäftigten hinzuweisen. Auch die in Empfehlung 206 (Nr. 20) vorgesehene „geschlechterorientierte Schulung“ von ArbeitsinspektorInnen, ist sicher sinnvoll, „um Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, einschließlich psychosoziale Gefahren und Risiken, geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung und Diskriminierung“ zu erkennen und dagegen vorgehen zu können. In dieses Schulungsprogramm sollten ebenfalls Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit aufgenommen werden (vgl. § 2 ff ASiG).
Art. 4 Abs. 2 lit. h) Übereinkommen Nr. 190 verpflichtet zudem sicherzustellen, dass Aufsichtsbehörden „wirksame Vorkehrungen für die Aufsicht und Untersuchung in Fällen von Gewalt und Belästigung“ treffen. Insoweit sind die „Gefahren zu ermitteln und die Risiken von Gewalt und Belästigung zu bewerten sowie Maßnahmen zu ihrer Verhinderung und Kontrolle zu ergreifen“ (Art. 9 lit. c). Empfehlung 206 weist darauf hin, dass bei derlei Risikobewertung Faktoren berücksichtigt werden sollten, „durch die die Wahrscheinlichkeit von Gewalt und Belästigung erhöht wird, einschließlich psychosozialer Gefahren und Risiken“. Diese wäre im deutschen Arbeitsschutzrecht bei der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG zu berücksichtigen und Gewalt und Belästigung in die Katalognormen des Abs. 3 aufzunehmen, die exemplarisch aufführen, woraus sich insbesondere eine Gefährdung ergeben kann.
Ferner ist gem. Art. 10 lit. g) Übereinkommen Nr. 190 sicherzustellen, dass die für Arbeitsaufsicht zuständigen Behörden dazu berechtigt sind, „gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt vorzugehen“, was den Erlass einstweiliger Anordnungen einschließt, ebenso Anordnungen, die Arbeit einzustellen, sofern unmittelbare „Gefahr für Leben, Gesundheit oder Sicherheit“ droht (Art. 10 lit. h). Damit korrespondierend normiert Art. 10 lit. g) das Recht, sich von der Arbeit zu entfernen, sofern „hinreichender Grund zu der Annahme“ besteht, dass „aufgrund von Gewalt und Belästigung eine unmittelbare und ernste Gefahr für ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihre Sicherheit“ besteht. In solchen Fällen haben die Betroffenen die Pflicht, die Geschäftsleitung zu informieren, eine Maßregelung ist nicht zulässig.17
Das Recht, sich vom Arbeitsplatz zu entfernen, entspricht § 9 Abs. 3 ArbSchG, die Hürde ist relativ hoch, da ernsthafte Gesundheitsschäden zu befürchten sein müssen. Insoweit sind die Anforderungen des in § 14 AGG normierten Leistungsverweigerungsrechtes etwas geringer.
c) Berücksichtigung häuslicher Gewalt
Zwar fällt häusliche Gewalt im Regelfall nicht unter „Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt“ i.S.v. Art. 1 Abs. 1, dies kann im Einzelfall jedoch anders sein, bspw. wenn der Arbeitsplatz sich im Homeoffice in den häuslichen Bereich verlagert. Doch auch wenn das nicht der Fall ist, verpflichtet Art. 10 lit. f) die Staaten dazu, die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Arbeitswelt anzuerkennen und „ihre Auswirkungen in der Arbeitswelt zu mindern“. Empfehlung 206 führt als entsprechende angemessene Maßnahmen auf, die Opfer von häuslicher Gewalt von der Arbeit freizustellen (lit. a), die Arbeit flexibel zu gestalten und Schutz zu gewähren (lit. b) sowie vorübergehend „Schutz vor Entlassung zu gewähren“,18 wobei diese Maßnahme mit einem Angemessenheitsvorbehalt versehen ist (lit. c). In diesem Zusammenhang wäre auch die Nichtberücksichtigung einer auf der häuslichen Gewalt basierenden Leistungsminderung i.R.d. Leistungsbeurteilung als Maßnahme anzudenken.
III Entstehungsgeschichte19
Der Verabschiedung von Übereinkommen Nr. 190 und Empfehlung Nr. 206 gingen lange Jahre des Campaigning voraus. Insbesondere Frauen, vor allem aus Gewerkschaften und aus Organisationen, welche die marginalisiertesten Werktätigen repräsentieren, hatten sich für ein Übereinkommen zum Schutz vor Gewalt und Belästigung eingesetzt. Die Diskussionen um die Thematik begannen 2009, als die ILO einen Sonderbericht zum Thema „Gender equality at the heart of decent work“ veröffentlichte, aus dem sich die Notwendigkeit neuer ILO-Standards zur Prävention und Bekämpfung geschlechterbasierter Gewalt („genderbased violence“) in der Arbeitswelt ergab.20 2015 sprach der Verwaltungsrat dann das formelle Mandat aus, mit dem Standardsetzungsprozess („standard setting process“) für ein neues Instrument zu Gewalt und Belästigung zu beginnen. Damit wurde anerkannt, dass es deutliche Schutzlücken im ILO-System gibt, auch wenn bereits einige vorhandene Standards auf Gewalt und Belästigung angewandt werden können. Jedoch adressiert einerseits kein Instrument die Thematik spezifisch, vor allem aber beziehen die klassischen Instrumente nicht alle schutzwürdigen Gruppen in der Arbeitswelt ein. Der intensivierte Arbeitsprozess begann mit einem dreigliedrigen21 ExpertInnentreffen in 201622 und formellen Verhandlungen in zwei Komitees auf der Internationalen Arbeitskonferenz 2018 und 2019. In diesem Rahmen wurde hart debattiert, einerseits darüber, ob tatsächlich ein Übereinkommen notwendig ist (und nicht eine Empfehlung ausreicht), aber auch darüber, ob sich das Abkommen nicht dezidiert auf die am häufigsten von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt Betroffenen, die Frauen, begrenzen sollte. Es wurde schlussendlich ein weiter Anwendungsbereich gewählt, der auch andere Gruppen unter den Schutzschirm des Abkommens lässt, ohne aus den Augen zu verlieren, dass „Frauen und Mädchen unverhältnismäßig stark von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung betroffen sind“ (Präambel).
IV Was ist neu – Unterschiede zum geltenden Recht
Einige der im Übereinkommen Nr. 190 genannten Verpflichtungen sind bereits im deutschen Recht umgesetzt. Das Übereinkommen hat jedoch einen umfassenderen Ansatz als die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien und das deutsche AGG (als Umsetzungsgesetz) und geht daher teilweise über geltendes Recht hinaus. So erfasst das Übereinkommen alle in der Arbeitswelt Tätigen, ungeachtet ihres Status. Anders als beim AGG fallen auch Leitungspersonen ohne AN-Status sowie BeamtInnen in den Anwendungsbereich, gleiches gilt für ehrenamtlich und freiberuflich Tätige. Zudem gilt das Abkommen dezidiert auch für den informellen Sektor, wobei sich in diesem Bereich der Schattenwirtschaft die Problematik ergibt, dass zumeist kein formeller Arbeitgeber vorhanden ist, an den Pflichten adressiert werden könnten. Zudem dürfte die Umsetzung in diesem Sektor weitgehend der staatlichen Einflussnahme entzogen sein. Allerdings könnten Beratungs- und Unterstützungsangebote sich dezidiert auch an in der informalisierten Ökonomie Tätige richten.
Auch die Definition von Gewalt und Belästigung ist weiter als im AGG, da die gewalttätigen oder belästigenden Verhaltensweisen nicht „unerwünscht“, sondern nur „inakzeptabel“ sein müssen (s.o.), auf ein feindliches Umfeld wird nicht abgestellt.23
Auch einmalige Handlungen können für eine (sexuelle) Belästigung nach Art. 1 Abs. 1 Übereinkommen Nr. 190 ausreichend sein, während dies nach dem AGG nur ausnahmsweise der Fall ist, wenn die Belästigungshandlung ein feindliches Umfeld zur Folge hat.24
Von Art. 1 Abs. 1 lit. a) des Übereinkommens Nr. 190 sind zudem Handlungen, die den genannten Schaden „wahrscheinlich zur Folge haben“ erfasst. Das Übereinkommen stellt zudem auf die Arbeitswelt und nicht auf den Arbeitsplatz ab, auch diesbzgl. ist der Anwendungsbereich deutlich weiter als im AGG, insbesondere da auch der Arbeitsweg erfasst ist. Darüber hinaus ist auch häusliche Gewalt zu berücksichtigen, wie herausgearbeitet.
Angesichts der starken Betonung eines leichten Zuganges zu Unterstützungs- und Beratungsangeboten in Übereinkommen Nr. 190 sowie in Empfehlung 206, ist in Frage zu stellen, ob auf innerbetrieblicher Ebene die Beschwerdestellen nach § 13 AGG diese Funktion erfüllen können, sind sie doch in der Praxis zumeist in der Personalabteilung angesiedelt.25
Auch die Übernahme der Prozesskosten für die 1. Instanz wäre ein begrüßenswertes Novum, gleiches gilt für die Einführung eines verbindlichen innerbetrieblichen Streitbeilegungsmechanismus über die Einigungsstelle. Darüber hinaus wären Ergänzungen im Arbeitsschutzrecht angezeigt, um (geschlechtsspezifische) Gewalt und Belästigung als Gefahrenquelle für die Gesundheit der Beschäftigten stärker zu berücksichtigen, insbesondere bei der Gefährdungsbeurteilung.
V Umsetzung
Als völkerrechtliches Abkommen im Rahmen der ILO ist ein Übereinkommen erst nach Ratifikation für einen Staat bindend,26 es tritt zudem gem. § 14 Abs. 2 Übereinkommen 190 erst zwölf Monate nach Ratifikation durch zwei Mitglieder in Kraft. Der Startschuss wurde am 25. Juni 2020 gegeben, als nach Uruguay auch Fiji das Übereinkommen ratifizierte. Am 25.07.2021 wird Übereinkommen Nr. 190 somit formell in Kraft treten. Deutschland hat sich noch nicht zu einer Ratifikation durchringen können, auch wenn in einer Pressemitteilung des Arbeitsministeriums bereits im Juni 2019 eine „schnelle Ratifizierung“ angekündigt wurde.27 Diskussionen über eine Ratifikation laufen zudem in Belgien, Frankreich, Kanada und Namibia.
VI Ausblick
Gewalt und (sexualisierte) Belästigung von Mädchen und Frauen sowie gegen andere Minderheiten ist nach wie vor ein großes Problem, nicht zuletzt im Arbeitsleben. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass neben der Istanbul-Konvention des Europarates nun ein weiteres völkerrechtliches Instrument (der ILO) vorliegt, das die Problematik umfassend behandelt und die Ratifikationsstaaten neben dem Ergreifen vielfältiger Maßnahmen zu einem umfassenden Bereitstellen von Beratungs- und Unterstützungsangeboten verpflichtet, die auch an Beschäftigte der informalisierten Ökonomie adressiert sind und bestehende Verpflichtungen sinnvoll ergänzen. Es bleibt zu hoffen, dass auch Deutschland das Abkommen rasch ratifiziert und die Bestimmungen umsetzt.
- ILO, Centenary Declaration for the Future of Work, International Labour Conference, 108th Session, Genf 2019. ↩
- ILO, GB. 328/INS/17/5, Abs. 6; Anhang I, Nr. 12. ↩
- Alle genannten Artikel sind solche des Übereinkommens Nr. 190, es sei denn, sie sind anderweitig gekennzeichnet. ↩
- Dieses soll sowohl auf gesetzlichem Wege, als auch mittels politischer Kampagnen und durch Tarifverträge geschehen, vgl. ILO, Governing Body, 337th Session, Matters arising out of the work of the 108th Session (2019) of the International Labour Conference. Follow-up to the resolution concerning the elimination of violence and harassment in the world of work, Nr. 8. ↩
- ILO, Policy Brief, July 2020, ILO-Violence and Harassment Convention No. 190 and Recommendation No. 206, S. 2. ↩
- Vgl. zudem: ILO, Governing Body, 337th Session, Matters arising out of the work of the 108th Session (2019), Nr. 11. ↩
- Empfehlung 206, Nr. 8 lit. b); ILO, Policy Brief, July 2020, ILO-Violence and Harassment Convention No. 190 and Recommendation No. 206, S. 5. ↩
- Zwar ist auch das Kriterium „unerwünscht“ aus § 3 Abs. 3 AGG nicht so auszulegen, dass eine erkennbare Ablehnung durch die Betroffenen notwendig ist, vgl. Däubler-Schrader/Schubert, § 3 AGG, Rn. 85 (4. Aufl.). ↩
- In § 3 AGG wird die Terminologie „bezweckt oder bewirkt“ verwendet. ↩
- ILO, Policy Brief, July 2020, ILO-Violence and Harassment Convention No. 190 and Recommendation No. 206, S. 5. ↩
- Aufgrund des erkennbar weit gewünschten Anwendungsbereiches sind die Orte, „wo die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer bezahlt wird“ als eigener Tatbestand zu lesen, der von den Orten zu trennen ist, an denen eine Ruhepause verbracht oder eine Mahlzeit eingenommen wird. ↩
- Auch diejenige, „die durch Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglicht wird“. ↩
- Sei es, dass sie als Soloselbstständige freiberuflich tätig sind oder als Entsandte in einem anderen EU-Land eingesetzt werden. ↩
- Empfehlung 206, Nr. 14 lit. c). ↩
- Empfehlung 206, Nr. 15. ↩
- Anders sieht es nur aus, wenn eine private Rechtschutzversicherung oder gewerkschaftlicher Rechtschutz besteht. ↩
- Ein Maßregelungsverbot ist im deutschen Recht bereits in § 16 AGG normiert. ↩
- Der empfohlene Schutz bezieht sich auf Kündigungen, die auf der häuslichen Gewalt und ihren Folgen basieren, hiervon ausgenommen sind Kündigungen aus anderem Grund (bspw. betriebsbedingte Kündigungen). ↩
- Dieser Abschnitt basiert in Teilen auf dem Kapitel 1.1 Background, in: ILO, Policy Brief, July 2020, ILO-Violence and Harassment Convention No. 190 and Recommendation No. 206, S. 3. ↩
- ILO, Report VI: Gender equality at the heart of decent work”, Genf 2009. ↩
- Anders als andere UN-Organisationen ist die ILO dreigliedrig aufgebaut, d.h. nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Sozialpartner sind auf allen Ebenen der Organisation vertreten, siehe vertiefend: Zimmer, § 5 ILO, Rn. 7, in Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht 2019. ↩
- ILO, Report of the Meeting of Experts on Violence against Women and Men in the World of Work (October 2016), GB. 329/INS/INF/3. ↩
- Anders §§ 3 Abs. 3 und 4 AGG, vgl. Schrader/Schubert, in: Däubler (Hrsg.), § 3 AGG, Rn. 86 ff. ↩
- BT-Drs. 16/1780, S. 33; BAG 18.5.2017, NZA 2017, 1531 (1541); Schrader/Schubert, in: Däubler, § 3 AGG, Rn. 90. ↩
- Siehe Ausführungen von Buschmann, in: Däubler, § 13 AGG, Rn. 17 ff. ↩
- Vgl. Art. 14 I Übereinkommen Nr. 190. ↩
- https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/ilo-verabschiedet-konvention-gegen-gewalt-und-belaestigung-in-arbeitswelt.html (15.9.2020). ↩