STREIT 3/2019

S. 127-130

LSG Niedersachsen-Bremen, §§ 10, 34 SGB II

Keine Sanktion bei Arbeitsaufgabe wegen Pflege von Angehörigen

1. § 34 SGB II bietet keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Feststellungsbescheides über dem Grunde nach zu erstattende SGB II-Leistungen, denn die Norm vermittelt keine Befugnis des Grundsicherungsträgers, über bloße Elemente oder Vorfragen des Ersatzanspruchs, die nicht unmittelbar selbst schon Rechte und Pflichten begründen, zu entscheiden.
2. § 34 Abs. 1 SGB II setzt als objektives Tatbestandsmerkmal ein sozialwidriges Verhalten des Erstattungspflichtigen voraus. Entscheidend kommt es dabei darauf an, dass ein Verhalten im Hinblick auf die im SGB II verankerten Wertungsmaßstäbe als missbilligenswert erscheint.
3. Die Pflege von Angehörigen gehört zu den familiären Pflichten, die eine Arbeitsaufnahme unzumutbar machen können, wenn die Pflege nicht anderweitig sichergestellt werden kann (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 4 SGB II). Bei der erforderlichen Einzelfallbetrachtung, ob die Pflege auf andere Weise sichergestellt werden kann, etwa durch Dritte oder Pflegedienste, ist ebenfalls die Überlegung mit einzubeziehen, ob die pflegebedürftige Person dem zustimmt, denn die zu pflegende Person bleibt ein eigenständiges Individuum mit Selbstbestimmungsrecht.
(Leitsätze der Redaktion)

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom vom 12.12.2018, L 13 AS 162/17

Aus dem Sachverhalt:
Streitig ist die Verpflichtung der Klägerin zum Ersatz erbrachter Geldleistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1980 geborene, ledige Klägerin [...] bewohnte seit dem 1. Juli 2007 gemeinsam mit ihrer 1952 geborenen schwerbehinderten (Grad der Behinderung 70, Merkzeichen G) und pflegebedürftigen Mutter, Frau K., eine 80 qm große Wohnung in L. [...] Am 20. August 2013 nahm die Klägerin eine [...] Vollzeitbeschäftigung als Hallenaufsicht bei der M. in N. mit einer Höchstarbeitszeit von 169 Stunden monatlich auf. Laut Arbeitsvertrag vom 19. August 2013 verteilte sich die variable Arbeitszeit auf Abruf auf die ganze Woche (einschließlich Samstag und Sonntag), betrug mindestens vier Stunden pro Tag und fand im Schichtsystem (einschließlich Nachtschicht) statt. Der Arbeitgeber verpflichtete sich, die Lage der Arbeitszeit mindestens vier Tage im Voraus durch Aushang eines Dienstplans mitzuteilen. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund eines am 13. November 2013 geschlossenen Aufhebungsvertrags vorzeitig zum 30. November 2013. Die Mutter der Klägerin bezog im streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII und erhielt Pflegegeld i. H. v. 400 € monatlich. [...] Nach einem Gutachten des Gesundheitsamts des Beklagten vom 13. Mai 2013 besteht bei ihr ein Grundpflegebedarf von 120 Minuten täglich, die Pflegestufe II ist anerkannt.
Die für den Beklagten handelnde Gemeinde L. (folgend Beklagter) bewilligte der Klägerin [...] Leistungen nach dem SGB II [...]. Mit Bescheid vom 9. Mai 2014 stellte der Beklagte fest, dass die Klägerin die ihr ab dem 1. Dezember 2013 erbrachten Leistungen nach dem SGB II zu ersetzen habe. Sie habe ihr Arbeitsverhältnis bei der M. per Aufhebungsvertrag [...] auf eigenen Wunsch [...] gelöst und damit die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts durch ihr sozialwidriges Verhalten ab dem 1. Dezember 2013 herbeigeführt. Dieses Verhalten erfülle die Voraussetzungen für den Ersatz der gezahlten Leistungen nach dem SGB II. [...] Nach der Verschlechterung des Gesundheitszustands ihrer Mutter hätte sie gem. § 2 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) bis zu zehn Tage von ihrem Arbeitsplatz fernbleiben können, um eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren. Darüber hinaus besitze ihre Mutter die Pflegestufe II, weshalb die Pflege nicht ausschließlich durch die Klägerin geleistet werden müsse. Die Pflege könne beispielsweise durch einen Pflegedienst/eine Pflegekraft durchgeführt werden, ohne dass Mehrkosten entstünden. [...]
Mit Bescheid vom 3. Dezember 2015 machte der Beklagte den dem Grunde nach bestandskräftig festgestellten Ersatzanspruch, den er mit einem Betrag i. H. v. 17.110,47 € bezifferte, für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis 30. November 2015 gegenüber der Klägerin geltend. Darüber hinaus verfügte er die Aufrechnung des Ersatzanspruchs mit den Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i. H. v. monatlich 30 % des Regelbedarfs (zurzeit 121,20 €) längstens bis zum 31. Januar 2019. Zur Begründung wiederholte er den Gesetzeswortlaut des § 34 SGB II. Härtegründe habe die Klägerin nicht vorgetragen. Nach Abwägung aller entscheidungserheblichen Umstände mache der Beklagte gem. § 43 SGB II, beschränkt auf drei Jahre, von seiner Aufrechnungsmöglichkeit Gebrauch. [...]
Mit der [...] Klage macht die Klägerin geltend, dass ihr Verhalten objektiv nicht sozialwidrig gewesen sei. [...]
Der Beklagte ist dem entgegengetreten und hat ausgeführt, dass der Ersatzanspruch dem Grunde nach mit dem Bescheid vom 9. Mai 2014 [...] bestandskräftig festgestellt sei. Diesen Bescheid müsse sie gegen sich gelten lassen. Gegenstand dieser Klage sei nur noch die Höhe des Ersatzanspruchs, die zutreffend festgestellt worden sei.
Mit Urteil vom 23. Februar 2017 hat das SG die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die Klägerin aufgrund der Bestandskraft des Bescheides vom 9. Mai 2014 dem Grunde nach zum Ersatz der ab Dezember 2013 ausgezahlten Leistungen verpflichtet sei. [...]

Aus den Gründen:
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist begründet.
Sowohl der Grundlagenbescheid vom 9. Mai 2014 [...] als auch der Zweitbescheid vom 3. Dezember 2015 in der Fassung des [...] Widerspruchsbescheids vom 7. März 2016 sind rechtswidrig, da weder eine Befugnis zum Erlass des Feststellungsbescheids (dazu unter 2a) noch ein sozialwidriges Verhalten vorgelegen haben (dazu unter 2b). [...]
2) Entgegen der Auffassung des Beklagten ist vorliegend zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34 SGB X erfüllt sind, insbesondere ist festzustellen, ob der Abschluss des Aufhebungsvertrags vom 13. November 2013 sozialwidrig gewesen ist. Der Überprüfung der Sozialwidrigkeit steht zunächst nicht die materielle Bestandskraft, d. h. die Bindungswirkung des Bescheides vom 9. Mai 2014 [...] entgegen. Nach der Rechtsprechung des BSG liegt es im freien Ermessen der Behörde, trotz Verfristung eine Sachentscheidung zu treffen, weil die Sachherrschaft bei der Behörde verbleibe (vgl. BSG, Urteil vom 12. Oktober 1979 – 12 RK 19/78 – juris Rn. 19 ff.). Der Beklagte hat sich nach Einlegung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 3. Dezember 2015 nicht auf die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids vom 9. Mai 2014 berufen, sondern ist nach der maßgeblichen Sicht eines verständigen Beteiligten mit dem Widerspruchsbescheid vom 7. März 2016 erneut in eine vollständige Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34 SGB II und damit in eine erneute Sachprüfung eingetreten. Damit hat er den Anspruch auf umfassende Rechtsverfolgung neu eröffnet und kann sich nicht bei der Überprüfung des Höhenbescheides auf die Bindungswirkung des Grundlagenbescheides berufen (vgl. zum Zweitbescheid BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 4 AS 33/17 R – juris Rn. 10).

a) Die formelle Rechtswidrigkeit des Grundlagenbescheids folgt aus der fehlenden Befugnis des Beklagten zum Erlass eines solchen Bescheids. § 34 SGB II bietet nach Auffassung des Senats keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines derartigen Feststellungsbescheides. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) für den damaligen Kostenersatzanspruch nach § 92a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) entschieden, dass eine eigenständige Feststellung über die Verpflichtung zum Kostenersatz, bei der die Heranziehung zum Kostenersatz einer gesonderten Regelung vorbehalten bleibt, durch das Gesetz nicht ausgeschlossen sei (Urteil vom 5. Mai 1983 – 5 C 112/81 – juris Rn. 9). Dieser Auffassung vermag sich der Senat aber für den in § 34 SGB II geregelten Ersatzanspruch nicht anzuschließen. In dieser Vorschrift kommt lediglich die Befugnis zum Erlass eines Verwaltungsakts zur Durchsetzung des Ersatzanspruchs (sog. Leistungsbescheid, vgl. BSG, Urteil vom 16. April 2013 – B 14 AS 55/12 R – juris Rn. 12) zum Ausdruck. Eine Befugnis des Grundsicherungsträgers, über bloße Elemente oder Vorfragen des Ersatzanspruchs, die nicht unmittelbar selbst schon Rechte und Pflichten begründen, zu entscheiden, ist ihr demgegenüber nicht zu entnehmen (vgl. dazu grundlegend Urteil des Senats vom 12. Dezember 2018 – L 13 AS 111/17).

b) Die materielle Rechtswidrigkeit des Grundlagen- und Zweitbescheides folgt aus der fehlenden Sozialwidrigkeit des von der Klägerin geschlossenen Aufhebungsvertrags. Der Klägerin war die am 20. August 2013 aufgenommene Vollzeitbeschäftigung als Hallenaufsicht im Hinblick auf die übernommene Pflege ihrer Mutter nicht zumutbar. Nach § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II a. F. ist, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 2. November 2012 – B 4 AS 39/12 R – juris Rn. 16 ff. und vom 16. April 2013 – B 14 AS 55/12 R – juris Rn. 18 ff.) setzt § 34 Abs. 1 SGB II als objektives Tatbestandsmerkmal ein sozialwidriges Verhalten des Erstattungspflichtigen voraus. Diese ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung ist erforderlich, weil es sich bei § 34 SGB II um eine Ausnahme von dem Grundsatz handelt, dass existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind. Verschuldensgesichtspunkte spielen bei der Feststellung eines Hilfebedarfs keine Rolle. Dieser Grundsatz einer verschuldensunabhängigen Deckung des Existenzminimums würde durch eine weitreichende – und nicht nur auf begründete und eng zu fassende Ausnahmefälle begrenzte Ersatzpflicht – konterkariert. Diesem Verständnis entspricht die Entstehungsgeschichte der Norm und die Rechtsprechung des BVerwG zu den Vorgängervorschriften im Sozialhilferecht (z. B. Urteil vom 24. Juni 1976 – V C 41.74 – BVerwGE 51, 61/63: „Der Nachrang-Grundsatz gebietet die Heranziehung zum Kostenersatz auch in Fällen, in denen die Hilfeleistung zugunsten von unterhaltsberechtigten Angehörigen etwa wegen Arbeitsscheu oder Verschwendungssucht des Unterhaltspflichtigen notwendig wird.“).
Entgegen den Grundsätzen des SGB II und damit „sozialwidrig“ verhält sich der Betroffene demnach, wenn es ihm aus eigener Kraft möglich (gewesen) wäre, die Hilfebedürftigkeit abzuwenden und sein Verhalten diesen Möglichkeiten zuwiderläuft. Ob ein Verhalten als sozialwidrig einzustufen ist oder nicht, ist eine Frage der Umstände des Einzelfalles. Entscheidend kommt es dabei darauf an, dass ein Verhalten im Hinblick auf die im SGB II verankerten Wertungsmaßstäbe als missbilligenswert erscheint. Unter systematischen Gesichtspunkten drücken die im SGB II kodifizierten Wertmaßstäbe (§ 2 Nachranggrundsatz, § 31 Minderungstatbestände) aus, welches Verhalten als dem Grundsatz der Eigenverantwortung vor der Inanspruchnahme der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zuwiderlaufend angesehen wird (BSG, Urteil vom 2. November 2012 – B 4 AS 38/12 R –, juris Rn. 20 m. w. N.). Welche Anstrengungen von den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in Erfüllung ihrer Obliegenheiten aus § 2 SGB II gefordert werden können, wird u. a. durch § 10 SGB II konkretisiert (vgl. u. a. Böttiger in Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 10 Rn. 1 c). Welche Arbeit unzumutbar ist, ist eine rechtliche Wertung und wird durch das SGB II nicht definiert. Im allgemeinen Sprachgebrauch meint zumutbar eine hinnehmbare, erträgliche Belastung und unterliegt einer Einzelfallbetrachtung. Wann nach den Wertungsmaßstäben des SGB II das Tragen der Last, eine bestimmte, nicht selbst gewählte Arbeit zu verrichten, erträglich ist, entscheiden die Tatbestände des § 10 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II. Dabei ist die Unzumutbarkeitswertung – entgegen der Auffassung des Beklagten – unabhängig vom Wissen und Wollen der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person. Verkennt diese, dass eine Arbeit unzumutbar ist, so ändert dies nichts an der Zumutbarkeitsbewertung, die nach dem gesetzlichen Regelungsplan eine strikte Wertung darstellt, die weder heilbar ist noch obsolet wird, wenn die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person die unzumutbare Arbeit zunächst ausübt (vgl. Böttiger in Eicher/Luik a. a. O. § 10 Rn. 8 f.).
Nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 SGB II ist einer erwerbsfähigen Person jede Arbeit zumutbar, es sei denn, dass die Ausübung der Arbeit mit der Pflege einer oder eines Angehörigen nicht vereinbar wäre und die Pflege nicht auf andere Weise sichergestellt werden kann. Danach gehört die Pflege von Angehörigen zu den familiären Pflichten, die eine Arbeitsaufnahme unzumutbar machen können. Pflege meint jede Art der aufgrund körperlicher, seelischer oder geistiger Krankheit oder Behinderung erforderlich werdenden Hilfe bei der Alltagsgestaltung (vgl. Bender in Gagel, SGB II/III, § 10 Rn. 28 a). Es ist nicht vorgeschrieben, dass ein bestimmter Grad der Pflegebedürftigkeit vorliegen muss. Denkbar wäre auch, dass eine Arbeit mit der Pflege unvereinbar erscheint, wenn ein Angehöriger ohne Pflegestufe (jetzt Pflegegrad) gepflegt wird, wobei die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit allerdings im Grundsatz zumutbar ist, wenn der pflegerische Aufwand so gering ist, dass kein Anspruch auf Leistungen der Pflegekasse besteht (vgl. Hackethal in juris-PK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 10 Rn. 24, Bender in Gagel, a. a. O. § 10 Rn. 28 a; Böttiger in Eicher/Luik a. a. O. § 10 Rn. 67). Die Bundesagentur für Arbeit hat für das bis zum 31. Dezember 2016 geltende Pflegeversicherungsrecht in ihren Durchführungsanweisungen (10.14) Richtwerte in Anlehnung an § 15 Abs. 1 und 3 SGB XI definiert, die nach Auffassung des Senats als Orientierungshilfe herangezogen werden können. Danach ist bei der Pflege eines Angehörigen der Pflegestufe II mit einem Zeitaufwand für die Grundpflege von mindestens zwei Stunden täglich eine Arbeit bis zu sechs Stunden pro Tag zumutbar. Diese Vorgabe ist keinesfalls schematisch anzuwenden und entbindet die Behörde nicht von ihrer Amtsermittlungspflicht. Stets sind die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Gerade bei der Pflege von Angehörigen der ehemaligen Pflegestufe II dürfte eine Arbeit im Umfang von sechs Stunden täglich problematisch sein, da bei dieser Pflegestufe der Pflegebedarf definitionsgemäß mindestens dreimal täglich angefallen ist (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI a. F.).
Entgegen der Auffassung des Beklagten konnte die Pflege der Mutter jedenfalls nicht kurzfristig auf andere Weise sichergestellt werden. In Betracht kommt grundsätzlich die Pflege durch Verwandte, Freunde oder Pflegedienste. Bei der erforderlichen Einzelfallbeurteilung der Sicherstellung einer Pflege durch Dritte ist ebenfalls die Überlegung mit einzubeziehen, ob die Pflegeperson dem zustimmt, denn der zu Pflegende bleibt ein eigenständiges Individuum mit Selbstbestimmungsrecht (vgl. Sander in GK-SGB II, Stand Dezember 2012, § 10 Rn. 50; Bender in Gagel a. a. O., § 10 Rn. 29 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 30. März 2000 – B 3 KR 23/99 R –, juris Rn. 17). Vorliegend ist bereits zweifelhaft, ob die Mutter der Klägerin mit einer Pflege durch einen Dritten einverstanden gewesen wäre. Nachvollziehbar ist in der mündlichen Verhandlung nochmals ihre anspruchsvolle Erwartungshaltung und Eigenwilligkeit dargelegt worden. Die Klägerin ist auch deshalb in den vergangenen Jahren ausschließlich für ihre Mutter da gewesen. Beide wohnen bis heute in einem gemeinsamen Haushalt. Für die restlichen Familienmitglieder, die in eigenen Haushalten leben, ist es selbstverständlich, dass die Klägerin ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt und sich um die Mutter kümmert. Die Geschwister der Klägerin sind darüber hinaus selbst berufstätig und auch deshalb nicht ohne Weiteres in der Lage gewesen, die Pflegetätigkeiten der Klägerin zu ersetzen. Selbst wenn die Klägerin ihre Mutter vom Einsatz einer externen Pflegekraft hätte überzeugen können, wären jedenfalls die bestehenden Verständigungsschwierigkeiten nicht ohne Weiteres zu überwinden gewesen. Die Mutter der Kläger spricht ausschließlich Arabisch. Der Senat ist nicht überzeugt, dass eine bezahlbare Pflegeperson mit entsprechender Sprachqualifikation kurzfristig hätte gefunden werden können.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände war der Klägerin die im August 2013 aufgenommene Vollzeitbeschäftigung als Hallenaufsicht mit maximal 40 Stunden wöchentlich bei variabler Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit objektiv unzumutbar. Die Gemeinde L. hat als zuständiger Träger der Sozialhilfe bei der Mutter der Klägerin die Pflegestufe II anerkannt. Das Gesundheitsamt des Beklagten hat bei dieser mit Gutachten vom 13. Mai 2013 einen Grundpflegebedarf von 120 Minuten täglich festgestellt. Der Senat sieht keine Veranlassung, diese Feststellungen, die im Übrigen auch nicht bestritten werden, anzuzweifeln. Laut dem mit der U. geschlossenen Arbeitsvertrag vom 19. August 2013 war die Klägerin verpflichtet, im Schichtsystem und auf Abruf zu arbeiten bei einer Mindestarbeitszeit von vier Stunden täglich. Dabei war die Lage und Dauer der Arbeitszeit der Klägerin erst vier Tage vor dem Einsatz mitzuteilen. Aufgrund dieser Variabilität konnte die für die Pflege der Mutter allein zuständige Klägerin die definitionsgemäß dreimal täglich anfallende Pflege nicht dauerhaft bewerkstelligen. Selbst die Beschäftigungsförderung des Beklagten O. hat die Einschränkungen der Klägerin aufgrund der Pflege der Mutter erkannt und ihr diese bei der weiteren beruflichen Planung entgegengehalten. So ist der Klägerin im Zusammenhang mit dem von ihr geäußerten Wunsch, eine Ausbildung als Flugbegleiterin zu absolvieren, aufgegeben worden, die Vereinbarkeit dieser Tätigkeit mit der Pflege ihrer Mutter zu recherchieren. Darüber hinaus ist ihr im März 2014 eine Informationsveranstaltung für eine betriebliche Ausbildung in Teilzeit angeboten worden, die sich nach dem Inhalt der dazu übersandten Einladung insbesondere an Menschen gerichtet hat, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen.
Der Beklagte kann der Klägerin schließlich nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass sie im Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrages sowohl von der Verpflichtung zur Erbringung ihrer Arbeitsleistung im Schichtsystem (einschließlich Nachtschicht) als auch von der Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter Kenntnis gehabt habe. Unabhängig davon, dass die Frage der Zumutbarkeit einer Tätigkeit nach den obigen Ausführungen nach objektiven Maßstäben zu beurteilen ist, muss einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aufgrund der in § 2 SGB II geregelten Erwerbsobliegenheit die Möglichkeit gegeben werden, die Vereinbarkeit einer Beschäftigung mit der im Wertesystem des SGB II ebenfalls anerkannten Pflege eines Angehörigen auszutesten, ohne sich im Falle des Scheiterns einem Ersatzanspruch auszusetzen. Bei gegenteiliger Sichtweise würden diejenigen Personen, die einen Versuch unternehmen, ihre Hilfebedürftigkeit durch Aufnahme einer unzumutbaren Arbeit zu überwinden, im Verhältnis zu denjenigen leistungsberechtigten Personen, die einen Arbeitsversuch von vornherein mit dem Argument der Unzumutbarkeit unterlassen, schlechter gestellt. Das stünde nach Auffassung des Senats im Widerspruch zu den auf Eingliederung in das Arbeitsleben zielenden Wertungen des SGB II.

3) Selbst wenn vorliegend zugunsten des Beklagten eine Bindungswirkung des Grundlagenbescheides vom 9. Mai 2014 bejaht würde, führte das zu keiner anderen Entscheidung. Denn die Durchsetzung des offensichtlich rechtswidrig festgestellten Ersatz­anspruchs bedeutete jedenfalls eine Härte i. S. d. § 34 Abs. 1 S. 3 SGB II (in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung), die der Geltendmachung des Anspruchs [...] entgegenstünde. Bei dem Begriff der Härte handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der vollumfänglich durch die Gerichte überprüft werden kann. Das Gesetz ist insoweit offen formuliert. Erforderlich sind besondere Umstände, die die Ersatzpflicht abweichend von der Regel als atypisch erscheinen lassen. Ein in diesem Sinne atypischer Sachverhalt ist nur gegeben, wenn im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Geltendmachung der Ersatzpflicht auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck, den Nachrang der Leistungen nach dem SGB II wiederherzustellen, als unzumutbar und unbillig erscheinen lassen (Stotz in Gagel, a. a. O., § 34 Rn. 60; Silbermann in Eicher/Luik, a. a. O., § 34 Rn. 53; Schwitzky in Münder, SGB II, 6. Auflage § 34 Rn. 25). Unbilligkeit in diesem Sinne liegt nach Auffassung des Senats auch dann vor, wenn der durch einen rechtswidrigen Grundlagenbescheid bestandskräftig festgestellte Ersatzanspruch dem Grunde nach offensichtlich nicht besteht, es mithin im konkreten Einzelfall am Nachrang der Leistungen nach dem SGB II fehlt. Es widerspräche der Wertung des Gesetzes, eine derartige offensichtliche materielle Rechtswidrigkeit eines Grundlagenbescheides im Rahmen der Überprüfung des Höhenbescheides, mit dem zudem noch von der Behörde ausdrücklich etwaige Härtegründe geprüft werden, unberücksichtigt zu lassen, zumal die Behörde über § 44 Abs. 2 SGB X auch von Amts wegen gehalten wäre, einen offensichtlich rechtswidrigen Grundlagenbescheid aufzuheben.