STREIT 3/2019
S. 122-126
EuGH, Art. 4, 5 u. 7 RL 92/85/EWG v. 19.10.1992, Art. 19 RL 2006/54 EG v. 5.7.2006, Art. 2 RL 2003/88/EG v. 4.11.2003
Besonderer Schutz stillender Nachtschichtarbeiterinnen
1.) Art. 7 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz ist dahin auszulegen, dass er auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens Anwendung findet, in der die betroffene Arbeitnehmerin Schichtarbeit leistet, in deren Rahmen sie ihre Arbeit nur zum Teil während der Nachtzeit verrichtet.
2.) Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) ist dahin auszulegen, dass er auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens Anwendung findet, in der eine Arbeitnehmerin, der die Ausstellung eines ärztlichen Attests über das Vorliegen eines ihrem Arbeitsplatz innewohnenden Risikos für das Stillen versagt und in der Folge die Geldleistung wegen des Risikos während der Stillzeit verwehrt wurde, die Beurteilung der Risiken ihres Arbeitsplatzes vor einem nationalen Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle des betreffenden Mitgliedstaats anficht, wenn die Arbeitnehmerin Tatsachen vorbringt, die vermuten lassen, dass diese Beurteilung keine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation umfasst hat und dass daher eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 2006/54 vorliegt; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. Es obliegt dann dem Beklagten, den Beweis dafür beizubringen, dass die Beurteilung der Risiken tatsächlich eine solche konkrete Prüfung umfasst hat und dass daher keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.
(Tenor der Entscheidung)
Urteil des EuGH „Gonzalez Castro“ vom 19.9.2018 – C 41/17
Zum Sachverhalt:
1) Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) (ABl. 2006, L 204, S. 23), sowie der Art. 4, 5 und 7 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (ABl. 1992, L 348, S. 1).
2) Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Isabel González Castro auf der einen und Mutua Umivale (Berufsgenossenschaft Umivale, im Folgenden: Mutua Umivale), ihrer Arbeitgeberin, der Prosegur España SL (im Folgenden: Prosegur), und dem Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) (Nationales Institut der sozialen Sicherheit, Spanien, im Folgenden: INSS) auf der anderen Seite wegen der Weigerung, ihr Arbeitsverhältnis ruhen zu lassen und ihr eine Geldleistung wegen Risiken während der Stillzeit zu gewähren.
[…]
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
26) Ausweislich der Vorlageentscheidung ist Frau González Castro als Sicherheitsbedienstete bei Prosegur beschäftigt.
27) Am 8. November 2014 brachte sie einen Jungen zur Welt, den sie in der Folge stillte.
28) Seit März 2015 geht Frau González Castro ihrer Tätigkeit in variablen achtstündigen Wechselschichten in einem Einkaufszentrum nach.
29) Im Wachdienst an ihrer Arbeitsstätte wird sie im Allgemeinen mit einem anderen Sicherheitsbediensteten eingesetzt, außer bei folgenden Schichten, bei denen sie allein im Einsatz ist: montags bis donnerstags von 0.00 bis 8.00 Uhr, freitags von 2.00 bis 8.00 Uhr, samstags von 3.00 bis 8.00 Uhr und sonntags von 1.00 bis 8.00 Uhr.
30) Frau González Castro leitete bei Mutua Umivale, einer privaten Berufsgenossenschaft ohne Gewinnerzielungsabsicht, bei der die Berufsrisiken versichert sind, das in Art. 26 des Gesetzes 31/1995 vorgesehene Verfahren zur Erlangung von finanziellen Leistungen wegen des Risikos während der Stillzeit ein. Zu diesem Zweck beantragte sie gemäß der nationalen Rechtsvorschriften bei der Berufsgenossenschaft, ihr ein ärztliches Attest über das Vorliegen eines ihrem Arbeitsplatz innewohnenden Risikos für die Stillzeit auszustellen.
31) Nachdem ihr Antrag von Mutua Umivale abgelehnt worden war, legte sie Widerspruch ein. Auch dieser wurde zurückgewiesen.
32) Gegen die zurückweisende Entscheidung erhob Frau González Castro Klage beim Juzgado de lo Social n° 3 de Lugo (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 3 von Lugo, Spanien).
33) Nachdem auch ihre Klage abgewiesen worden war, legte Frau González Castro gegen die entsprechende Entscheidung ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Obergericht Galicien, Spanien) ein.
[…]
37) Unter diesen Umständen hat das Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Obergericht Galicien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1.) Ist Art. 7 der [Richtlinie 92/85] dahin auszulegen, dass die Nachtarbeit, zu der Arbeitnehmerinnen im Sinne des Art. 2 dieser Richtlinie, also auch stillende Arbeitnehmerinnen, nicht verpflichtet werden dürfen, nicht nur die Arbeit erfasst, die vollständig in der Nachtzeit erbracht wird, sondern auch die Schichtarbeit, wenn – wie im vorliegenden Fall – einige der betreffenden Schichten auf die Nachtzeit entfallen?
2.) Gelten in einem Rechtsstreit, in dem das Vorliegen einer Gefährdungslage während der Stillzeit einer Arbeitnehmerin streitig ist, in Bezug auf die in Art. 5 der [Richtlinie 92/85] […] geregelten Voraussetzungen für die Beurlaubung einer Arbeitnehmerin während der Stillzeit und gegebenenfalls für die Gewährung der nach nationalem Recht an diese Situation anknüpfenden Sozialleistung gemäß Art. 11 Nr. 1 der [Richtlinie 92/85] die besonderen Regelungen über die Beweislast, die Art. 19 Abs. 1 der [Richtlinie 2006/54] […] vorsieht?
3.) Kann Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 dahin ausgelegt werden, dass in einem Rechtsstreit, in dem das Vorliegen einer Gefährdung während der Zeit des natürlichen Stillens mit entsprechender Beurlaubung gemäß Art. 5 der [Richtlinie 92/85], der […] in spanisches Recht umgesetzt wurde, streitig ist, „Tatsachen [vorliegen], die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung“ einer stillenden Arbeitnehmerin „vermuten lassen“, wenn i) die Arbeitnehmerin als Sicherheitsbedienstete Schichtdienst leistet und in einigen Schichten während der Nachtzeit und darüber hinaus alleine arbeitet und zudem ii) Sicherheitsrunden geht und sich gegebenenfalls um Notfälle (Straftaten, Brände oder andere Vorkommnisse) kümmert, ohne dass iii) nachgewiesen ist, dass an der Arbeitsstätte ein für das natürliche Stillen oder gegebenenfalls das Abpumpen von Muttermilch geeigneter Raum vorhanden ist?
4.) Wenn in einem Rechtsstreit, in dem das Vorliegen einer Gefährdung während der Zeit des natürlichen Stillens mit entsprechender Beurlaubung streitig ist, „Tatsachen …, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 der [Richtlinie 2006/54] in Bezug auf Art. 5 der [Richtlinie 92/85] – der in spanisches Recht umgesetzt wurde – nachgewiesen sind: Kann von der stillenden Arbeitnehmerin verlangt werden, dass sie, um nach nationalem Recht – durch das Art. 5 Abs. 2 und 3 der [Richtlinie 92/85] umgesetzt wird – von der Arbeit beurlaubt werden zu können, nachweist, dass die Umgestaltung der Arbeitsbedingungen und/oder der Arbeitszeiten technisch und/oder sachlich nicht möglich oder nicht zumutbar ist und ein Arbeitsplatzwechsel technisch und/oder sachlich nicht möglich oder nicht zumutbar ist? Oder müssen solche Umstände vielmehr von den Beklagten (Arbeitgeber und Träger der an die Aussetzung des Arbeitsvertrags geknüpften Sozialleistung) nachgewiesen werden?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
38) Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 92/85 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens Anwendung findet, in der die betroffene Arbeitnehmerin Schichtarbeit leistet, in deren Rahmen sie ihre Arbeit nur zum Teil während der Nachtzeit verrichtet.
[…]
42) Der Wortlaut dieser Vorschrift enthält jedoch keinerlei nähere Angabe zur genauen Tragweite des Begriffs „Nachtarbeit“. […]
45) Dabei definiert die Richtlinie 2003/88 in ihrem Art. 2 Abs. 4 den Nachtarbeiter als „jede[n] Arbeitnehmer, der während der Nachtzeit normalerweise mindestens drei Stunden seiner täglichen Arbeitszeit verrichtet“ und „jede[n] Arbeitnehmer, der während der Nachtzeit gegebenenfalls einen bestimmten Teil seiner jährlichen Arbeitszeit verrichtet“. Darüber hinaus präzisiert Art. 2 Abs. 3 dieser Richtlinie, dass der Begriff „Nachtzeit“ als „jede, in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegte Zeitspanne von mindestens sieben Stunden, welche auf jeden Fall die Zeitspanne zwischen 24 Uhr und 5 Uhr umfasst“ zu verstehen ist.
46) Aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen und insbesondere dem Gebrauch der Wendungen „jede … Zeitspanne“, „mindestens drei Stunden seiner … Arbeitszeit“ und „einen bestimmten Teil seiner … Arbeitszeit“ ergibt sich, dass eine Arbeitnehmerin, die wie im Ausgangsverfahren Schichtarbeit leistet, in deren Rahmen sie ihre Arbeit nur zum Teil während der Nachtzeit verrichtet, als während der „Nachtzeit“ arbeitend anzusehen ist und daher als „Nachtarbeiter“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen ist.
47) Da es im Interesse der schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillenden Arbeitnehmerinnen liegt, dass im Einklang mit dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 die besonderen Bestimmungen der Richtlinie 92/85 im Hinblick auf die Nachtarbeit auf sie Anwendung finden, insbesondere um den Schutz, der ihnen diesbezüglich gewährt werden muss, zu verstärken, dürfen diese besonderen Bestimmungen nicht ungünstiger ausgelegt werden als die allgemeinen Bestimmungen der Richtlinie 2003/88, die für andere Gruppen von Arbeitnehmern gelten.
48) Folglich ist davon auszugehen, dass eine Arbeitnehmerin wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende „Nachtarbeit“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 92/85 leistet und grundsätzlich unter diese Bestimmung fällt.
49) Diese Auslegung wird durch den Zweck von Art. 7 der Richtlinie 92/85 bestätigt.
[…]
51) Wäre eine stillende Arbeitnehmerin, die wie im Ausgangsverfahren Schichtarbeit leistet, vom Anwendungsbereich von Art. 7 der Richtlinie 92/85 mit der Begründung auszuschließen, dass sie nur einen Teil ihrer Arbeit nachts verrichte, würde dies dazu führen, dieser Bestimmung teilweise ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen. Die betroffene Arbeitnehmerin könnte nämlich einem Risiko für ihre Gesundheit oder Sicherheit ausgesetzt sein, und der ihr nach dieser Bestimmung zustehende Schutz wäre erheblich verringert.
52) Hinsichtlich der Modalitäten der Anwendung von Art. 7 der Richtlinie 92/85 auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens ist klarzustellen, dass die betroffene Arbeitnehmerin ein nach den von den Mitgliedstaaten zu bestimmenden Einzelheiten ausgestelltes ärztliches Attest vorlegen muss, in dem die Notwendigkeit im Hinblick auf ihre Sicherheit und ihren Gesundheitsschutz bestätigt wird, um in den Genuss der in Abs. 2 dieses Artikels aufgeführten Schutzmaßnahmen, nämlich die Umsetzung an einen Arbeitsplatz mit Tagarbeit oder anderenfalls eine Beurlaubung, zu kommen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies vorliegend der Fall ist.
53) Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 92/85 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens Anwendung findet, in der die betroffene Arbeitnehmerin Schichtarbeit leistet, in deren Rahmen sie ihre Arbeit nur zum Teil während der Nachtzeit verrichtet.
Zur zweiten, zur dritten und zur vierten Frage
54) Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren und in diesem Zusammenhang alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil vom 19. Oktober 2017, Otero Ramos, C‑531/15, EU:C:2017:789, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung1
).
[…]
56) Im vorliegenden Fall ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren maßgebliche nationale Regelung, nämlich Art. 26 des Gesetzes 31/1995, die Art. 4 und 7 der Richtlinie 92/85 ohne eindeutige Unterscheidung umsetzt und insbesondere vorsieht, dass das Ruhen des Arbeitsvertrags wegen Risiken während der Stillzeit und die Gewährung der damit in Zusammenhang stehenden Sozialleistung nur gewährt werden kann, wenn nach der Beurteilung des Arbeitsplatzes der betroffenen Arbeitnehmerin nachgewiesen wird, dass dieser ein solches Risiko beinhaltet und es nicht möglich ist, die Arbeitsbedingungen dieser Arbeitnehmerin umzugestalten oder die Betroffene auf einen anderen Arbeitsplatz umzusetzen. […]
59) Aufgrund dieser Erwägungen ist die zweite, die dritte und die vierte Frage des vorlegenden Gerichts, die zusammen zu prüfen sind, so zu verstehen, dass es wissen möchte, ob Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens Anwendung findet, in der eine Arbeitnehmerin, der die Ausstellung des ärztlichen Attests über das Vorliegen eines Risikos für das Stillen, das ihr Arbeitsplatz beinhaltet, versagt und in der Folge die Geldleistung wegen des Risikos während der Stillzeit verwehrt wurde, die Beurteilung der Risiken ihres Arbeitsplatzes vor einem nationalen Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle des betreffenden Mitgliedstaats anficht. Für den Fall einer bejahenden Antwort fragt das vorlegende Gericht, wie diese Bestimmungen in einem solchen Fall anzuwenden sind.
60) Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem System ihrer nationalen Gerichtsbarkeit die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, nach denen es dann, wenn Personen, die sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert halten und bei einem Gericht bzw. einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.
61) Art. 19 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2006/54 stellt insbesondere klar, dass die Regeln über die Beweislastumkehr in Abs. 1 dieser Vorschrift auch auf die Situationen Anwendung finden, die von der Richtlinie 92/85 erfasst werden, sofern die Frage einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts angesprochen ist.
[…]
63) Der Umstand, dass das Risiko, das der Arbeitsplatz einer stillenden Arbeitnehmerin beinhaltet, nicht gemäß den Anforderungen von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 92/85 beurteilt wurde, ist als eine ungünstigere Behandlung einer Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutterschaftsurlaub im Sinne dieser Richtlinie anzusehen und stellt eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 dar (Urteil vom 19. Oktober 2017, Otero Ramos, C‑531/15, EU:C:2017:789, Rn. 62 und 63).
64) Der Gerichtshof hat hierzu ausgeführt, dass die Risikobeurteilung des Arbeitsplatzes einer stillenden Arbeitnehmerin den Anforderungen von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 92/85 nur genügt, wenn sie eine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung der individuellen Situation der betreffenden Arbeitnehmerin umfasst, um festzustellen, ob ein Risiko für die Gesundheit oder Sicherheit dieser Arbeitnehmerin oder die Gesundheit oder Sicherheit ihres Kindes besteht (Urteil vom 19. Oktober 2017, Otero Ramos, C‑531/15, EU:C:2017:789, Rn. 51).
65) Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass die Risikobeurteilung nach Art. 4 der Richtlinie 92/85 den Zweck verfolgt, schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillende Arbeitnehmerinnen und ihr Kind insofern zu schützen, als der Arbeitgeber für den Fall, dass diese Beurteilung ergibt, dass der Arbeitsplatz einer solchen Arbeitnehmerin ein Risiko für ihre Gesundheit oder ihre Sicherheit beinhaltet, Auswirkungen auf ihre Schwangerschaft oder auf das Stillen ihres Kindes hat, gemäß Art. 5 der Richtlinie verpflichtet ist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass sie diesem Risiko ausgesetzt ist.
66) Wie die Generalanwältin in Nr. 61 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist Art. 4 der Richtlinie 92/85 die allgemeine Bestimmung, in der niedergelegt ist, welche Maßnahmen in Bezug auf alle Tätigkeiten zu ergreifen sind, bei denen ein spezifisches Risiko für schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillende Arbeitnehmerinnen bestehen kann. Art. 7 dieser Richtlinie ist hingegen eine Sonderbestimmung, die für Nachtarbeit gilt, die nach Ansicht des Unionsgesetzgebers ein besonderes Risiko für schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillende Arbeitnehmerinnen darstellen kann.
[…]
68) Die nach Art. 7 der Richtlinie 92/85 vorgesehene Beurteilung der Risiken des Arbeitsplatzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillenden Arbeitnehmerinnen kann daher nicht weniger strengen Anforderungen unterliegen als denen, die im Rahmen von Art. 4 dieser Richtlinie gelten.
69) Diese Auslegung wird dadurch untermauert, dass die Leitlinien, die nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 92/85 als Leitfaden für die in Art. 4 Abs. 1 vorgesehene Beurteilung dienen sollen, ausdrücklich auf die Nachtarbeit Bezug nehmen.
[…]
71) Aus den Leitlinien ergibt sich zudem, dass die Risikobeurteilung des Arbeitsplatzes einer stillenden Arbeitnehmerin eine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung der individuellen Situation der betreffenden Arbeitnehmerin umfassen muss (Urteil vom 19. Oktober 2017, Otero Ramos, C‑531/15, EU:C:2017:789, Rn. 46 und 51).
72) Folglich ist in Übereinstimmung mit den Ausführungen der Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge davon auszugehen, dass die im Rahmen von Art. 7 der Richtlinie 92/85 durchgeführte Risikobeurteilung des Arbeitsplatzes der betroffenen Arbeitnehmerin eine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung der individuellen Situation der Arbeitnehmerin umfassen muss, um zu ermitteln, ob ihre Gesundheit oder ihre Sicherheit oder die Gesundheit oder Sicherheit ihres Kindes einem Risiko ausgesetzt sind. Anderenfalls würde eine Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutterschaftsurlaub im Sinne dieser Richtlinie ungünstiger behandelt; dies stellte eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 dar, die die Anwendung von Art. 19 Abs. 1 dieser Richtlinie gestatte.
73) Hinsichtlich der Art und Weise der Anwendung dieser Bestimmung ist darauf hinzuweisen, dass die in dieser Vorschrift vorgesehenen Beweisregelungen dann nicht zur Anwendung kommen, wenn die betroffene Arbeitnehmerin eine Umgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen oder, wie im Ausgangsverfahren, eine finanzielle Leistung wegen des Risikos während der Zeit des Stillens verlangt, und dass daher eine Risikobeurteilung ihres Arbeitsplatzes gemäß Art. 4 Abs. 1 oder gegebenenfalls gemäß Art. 7 der Richtlinie 92/85 durchzuführen ist. Erst in einer späteren Phase, in der eine Entscheidung über diese Risikobeurteilung von der betroffenen Arbeitnehmerin bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle angefochten wird, finden diese Beweisregelungen Anwendung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Oktober 2017, Otero Ramos, C‑531/15, EU:C:2017:789, Rn. 67).
74) Somit obliegt es nach Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 der Arbeitnehmerin, die sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen oder Beweise vorzubringen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen (Urteil vom 19. Oktober 2017, Otero Ramos, C‑531/15, EU:C:2017:789, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75) In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens bedeutet dies, dass die betroffene Arbeitnehmerin vor dem vorlegenden Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle des in Rede stehenden Mitgliedstaats Tatsachen oder Beweise vorbringen muss, die geeignet sind, darauf hinzudeuten, dass die Risikobeurteilung ihres Arbeitsplatzes, die in der nationalen Regelung, die insbesondere die Art. 4 und 7 der Richtlinie 92/85 in innerstaatliches Recht umsetzt, vorgesehen ist, keine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation umfasst hat und sie daher diskriminiert worden ist.
76) Im vorliegenden Fall ist der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorgelegten Akten zu entnehmen, dass Frau González Castro bei Mutua Umivale das auf Erlangung einer Geldleistung wegen Risiken während der Stillzeit gerichtete Verfahren eingeleitet hat und zu diesem Zweck unter Verwendung eines von Mutual Umivale hierfür zur Verfügung gestellten Formulars am 9. März 2015 ein ärztliches Attest beantragt hat, das bestätigte, dass ihr Arbeitsplatz ein Risiko für das Stillen beinhaltet.
77) Im Rahmen dieses Verfahrens übermittelte Prosegur Mutua Umivale am 13. März 2015 eine Erklärung, in der das Unternehmen angab, weder versucht zu haben, die Arbeitsbedingung des Arbeitsplatzes von Frau González Castro anzupassen noch sie auf einen anderen Arbeitsplatz umzusetzen, weil es der Auffassung war, dass die von Frau González Castro ausgeübten Tätigkeiten und ihre Arbeitsbedingungen keine Auswirkungen auf das natürliche Stillen hätten.
78) Allerdings enthält diese Erklärung, die in Form eines von Mutua Umivale bereitgestellten Musterschreibens abgegeben wurde, keinerlei Begründung, wie Prosegur zu dieser Schlussfolgerung gelangt war. Sie scheint nicht auf einer spezifischen Prüfung unter Berücksichtigung der individuellen Situation der betroffenen Arbeitnehmerin zu beruhen.
[…]
80) Unter diesen Umständen scheint es, wie die Generalanwältin in den Nrn. 70 und 77 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, dass die Bewertung der Risiken, die der Arbeitsplatz von Frau González Castro beinhaltet, keine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation umfasste und dass die Betroffene diskriminiert wurde. Es ist letztlich Sache des für die Würdigung des Sachverhalts der bei ihm anhängigen Rechtssache allein zuständigen vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist.
81) Sollte dies bejaht werden, obliegt es dem Beklagten des Ausgangsverfahrens, zu beweisen, dass die Risikobeurteilung gemäß der nationalen Regelung, die die Art. 4 und 7 der Richtlinie 92/85 in innerstaatliches Recht umsetzt, eine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung der individuellen Situation von Frau González Castro umfasste […].
82) Außerdem ist hinzuzufügen, dass dieselben Beweisregeln im Rahmen von Art. 5 oder gegebenenfalls Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 92/85 Anwendung finden. Insbesondere dann, wenn eine stillende Arbeitnehmerin eine Beurlaubung während des gesamten Zeitraums, der für den Schutz ihrer Sicherheit oder ihrer Gesundheit erforderlich ist, beantragt, und Nachweise beibringt, die geeignet sind, aufzuzeigen, dass die in den Art. 5 Abs. 1 und 2 oder Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Schutzmaßnahmen nicht in Betracht kamen, obliegt es dem Arbeitgeber, nachzuweisen, dass diese Maßnahmen technisch oder sachlich möglich waren und in der Situation der betroffenen Arbeitnehmerin vernünftigerweise verlangt werden konnten.
83) Nach alledem ist auf die zweite, die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens Anwendung findet, in der eine Arbeitnehmerin, der die Ausstellung eines ärztlichen Attests über das Vorliegen eines ihrem Arbeitsplatz innewohnenden Risikos für das Stillen versagt und in der Folge die Geldleistung wegen des Risikos während der Stillzeit verwehrt wurde, die Beurteilung der Risiken ihres Arbeitsplatzes vor einem nationalen Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle des betreffenden Mitgliedstaats anficht, wenn die Arbeitnehmerin Tatsachen vorbringt, die vermuten lassen, dass diese Beurteilung keine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation umfasst hat und dass daher eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 2006/54 vorliegt; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. Es obliegt dann dem Beklagten, den Beweis dafür beizubringen, dass die Beurteilung der Risiken tatsächlich eine solche konkrete Prüfung umfasst hat und dass daher keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. […]
- Urteil vom 19.10.2017, Otero Ramos, C 531/15, abgedruckt in STREIT 2018, 61 ff. mit Anmerkung von Kerstin Feldhoff: Unmittelbare Diskriminierung einer stillenden Arbeitnehmerin wegen unzureichender mutterschutzrechtlicher Gefährdungsbeurteilung des Arbeitsplatzes STREIT 2018, 51ff. ↩