STREIT 1/2021
S. 41-46
VG Minden, Art. 4 EU-Grundrechtecharta; Art. 3, 23 VO 604/2013; § 113 VwGO; § 29 AsylG
Keine Überstellung nach Italien im Asylverfahren für alleinerziehende Mutter mit Kind
1. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist zu berücksichtigen, dass Kinder besondere Bedürfnisse haben und extrem verletzlich sind. Dementsprechend müssen die Aufnahmebedingungen für Kinder an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für ihre Psyche entsteht.
2. Das italienische Asylsystem weist derzeit systemische Schwachstellen für alleinerziehende Mütter auf, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, weil die derzeitigen Aufnahmebedingungen für Angehörige dieser Gruppe gegen Art. 4 EU-Grundrechtecharta verstoßen.
3. Alleinerziehende Mütter, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, dürfen deshalb nur bei Vorliegen einer aktuellen und belastbaren individuellen Zusicherung seitens der italienischen Behörden nach Italien überstellt werden, dass für sie nach ihrer Ankunft eine ihren Bedürfnissen entsprechende Unterkunft zur Verfügung steht. Derzeit fehlt es an einer solchen Zusicherung.
4. Den Ausführungen der Sachverständigen Romer, die für die Schweizerische Flüchtlingshilfe arbeitet, misst das Gericht einen besonderen Erkenntniswert zu.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Minden vom 13.11.2019, 10 K 2275/19.A
Zum Sachverhalt:
Die […] Klägerin gibt an, die nigerianische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Sie reiste nach eigenen Angaben Anfang Juni 2019 über Italien in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 25. Juni 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag. Eine Eurodac-Anfrage des Bundesamtes ergab für die Klägerin einen Treffer der Kategorie 1, wonach sie im Februar 2017 in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Dem an die italienischen Behörden gerichteten Wiederaufnahmegesuch stimmte das italienische Innenministerium mit Schreiben vom 8. Juli 2019 zu.
Mit Bescheid vom 9. Juli 2019 […], lehnte das Bundesamt ihren Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1) […]. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Asylantrag der Klägerin sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG unzulässig, weil nicht die Bundesrepublik Deutschland, sondern Italien für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig sei. […] Am […] wurde die Tochter der Klägerin geboren […].
Aus den Gründen:
Der Bescheid des Bundesamts vom 09. Juli 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Dies gilt zunächst für die unter Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids verfügte Ablehnung des Asylantrages der Klägerin als unzulässig. Diese Regelung lässt sich nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG stützen. Danach ist ein Asylantrag unter anderem dann unzulässig, wenn nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31; im Folgenden: VO 604/2013) ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt: Zwar ist Italien gemäß Art. 23 Abs. 1 VO 604/2013 für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig [a)]. […] Jedoch entfällt die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013, weil die Lebensbedingungen in Italien für alleinstehende Mütter und Familien mit Kindern systemische Schwachstellen aufweisen [c)] […], so dass gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 VO 604/2013 die Beklagte zuständig geworden ist. […]
a) Italien ist gemäß Art. 23 Abs. 1 VO 604/2013 für die Klägerin zuständig. […]
c) Jedoch entfällt die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013. Danach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Art. 8 bis 15 VO 604/2013 vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen. Letzteres ist hier der Fall. […]
bb) […] Ein Verstoß gegen Art. 4 GrCh liegt […] vor, wenn die drohende Behandlung eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle ist grundsätzlich erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Fehlen von Bett, Brot, Seife“) und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-163/17 (Jawo) –, Inf-AuslR 2019, 236, Rn. 91 f., sowie – C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) –, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 89 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 – A 4 S 749/19 –, juris Rn. 40.). […]
cc) Bei Kindern ist die Erheblichkeitsschwelle nicht erst bei Vorliegen der vorstehend unter bb) aufgeführten Voraussetzungen erreicht. Vielmehr ist ihren Bedürfnissen besonders Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. August 2017 – 2 BvR 863/17 –, Asylmagazin 2017, 408, Rn. 16). Dies liegt darin begründet, dass die Frage, ob eine Behandlung als unmenschlich oder erniedrigend und damit als gegen Art. 4 GrCh verstoßend einzustufen ist, von sämtlichen Umständen des Einzelfalls (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-163/17 (Jawo) –, Inf-AuslR 2019, 236, Rn. 91, sowie – C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 89), insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie in einigen Fällen auch vom Geschlecht, dem Alter und dem Gesundheitszustand der betroffenen Person abhängt (vgl. EGMR, Urteile vom 28. Februar 2008 – 37201/06 (Saadi/ Italien) –, NVwZ 2008, 1330, Rn. 130 und 134, und vom 28. Juni 2011 – 8319/07 u.a. (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich) –, NVwZ 2012, 681, Rn. 213 und 216; s.a. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 – C-233/18 (Haqbin) –, www.curia.europa.eu, Rn. 54 f. (zur Verhängung von Sanktionen gemäß Art. 20 Abs. 4 RL 2013/33/EU).
Dementsprechend ist bei Kindern zu berücksichtigen, dass sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verletzlich sind. Das gilt auch, wenn die Kinder von ihren Eltern begleitet werden. Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Asylsuchende müssen an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht. Anderenfalls ist die Schwelle erreicht, die erforderlich ist, um einen Verstoß gegen Art. 4 GrCh zu begründen (vgl. EGMR, Urteil vom 04. November 2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, NVwZ 2015, 127, Rn. 99 und 119 m.w.N.).
dd) Einer drohenden Verletzung von Art. 4 GRCh kann im konkreten Einzelfall dadurch vorgebeugt werden, dass der überstellende Staat die Überstellung im Zusammenwirken mit dem anderen Mitgliedstaat so organisiert, dass eine solche Verletzung nicht eintreten kann. […]
gg) Gemessen an dem […] dargelegten rechtlichen Maßstab lagen die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 für alleinerziehende Mütter und Familien mit Kindern jedenfalls zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor. Das italienische Asylsystem weist eine diese Personengruppe betreffende Schwachstelle auf, weil die Lebensbedingungen für Angehörige dieser Gruppe gegen Art. 4 GRCh verstoßen [(1)]. Dies gilt insbesondere auch für alleinerziehende Mütter und Familien mit Kindern, die – wie die Klägerin – in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, über den noch nicht abschließend entschieden wurde. Außerdem fehlt es an einer hinreichenden Zusicherung der familien- und kindgerechten Unterbringung seitens der italienischen Behörden [(2)].
(1) Die Lebensumstände für alleinerziehende Mütter und Familien mit Kindern verstoßen in Italien sowohl nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer (vgl. z.B. VG Minden, Urteile vom 29. Juli 2019 – 10 K 2945/18.A, vom 30. Juli 2019 – 10 K 690/17.A –, vom 01. August 2019 – 10 K 2964/18.A – (sämtlich unveröffentlicht)) als auch der Rechtsprechung vieler anderer Verwaltungsgerichte (vgl. z.B. VG Göttingen, Urteil vom 11. Januar 2019 – 3 A 219/18 –, juris Rn. 16 ff. (Annahme eines Abschiebungsverbots); VG Würzburg, Urteile vom 28. Februar 2019 – W 10 K 18.50496 -, juris Rn. 32 ff. (schwangere Frau) und vom 10. Juni 2019 – W 10 S 19.50166 –, juris Rn. 44 ff. (Annahme eines Abschiebungsverbots) sowie Beschlüsse vom 16. Juli 2019 – W 10 S 19.50223 –, juris Rn. 49 und vom 18. September 2019 – W 10 S 19.50614 –, juris Rn. 28; VG Magdeburg, Urteil vom 02. Mai 2019 – 8 A 126/19 –, juris Rn. 16 ff.; VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 03. Juni 2019 – 34 K 1487/17.A –, juris Rn. 23 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 03. Juni 2019 – 15 L 1100/ 19.A –, juris Rn. 37 ff. und Urteil vom 26. Juli 2019 – 12 K 1565/19.A –, juris Rn. 23 ff.; VG Hannover, Urteil vom 04. Juni 2019 – 5 A 121714/17 –, juris Rn. 27; a.A. VG Berlin, Beschluss vom 10. Juli 2019 – 3 L 380/19A –, juris Rn. 20; VG Trier, Beschluss vom 05. April 2019 – 7 L 1263/19.TR –, juris Rn. 28 ff.; VG Ansbach, Beschluss vom 15. April 2019 – AN 14 S 19.50278 –, juris Rn. 21 ff.; VG Hamburg, Beschluss vom 04. März 2019 – 9 AE 5844/18 –, juris Rn. 9 ff.) derzeit weiterhin (zu den Verhältnissen 2017 vgl. z.B. VG Minden, Urteile vom 05. September 2019 – 10 K 7561/17.A –, juris, und vom 20. September 2019 – 10 K 10479/17.A –, juris, jeweils m.w.N.) gegen Art. 4 GRCh. Diese Rechtsprechung weicht nicht – wie von der Beklagten in mehreren Parallelverfahren geltend gemacht – von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen ab. Dieses hat – soweit bekannt – bisher noch keine inhaltliche Entscheidung zur Überstellung von alleinerziehenden Müttern oder Familien mit Kindern nach Italien getroffen. Der von der Beklagten zitierte Beschluss vom 7. Januar 2019 trifft keine Entscheidung in der Sache, sondern weist den Antrag auf Zulassung der Berufung mit der Begründung ab, dass der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht ordnungsgemäß dargelegt worden sei (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 07. Januar 2019 – 13 A 888/18.A -, juris Rn. 1, 6 ff., 18 ff.; ebenso OVG LSA, Beschluss vom 29. März 2018 – 3 L 114/18 –, juris Rn. 2, 4, 8, 11, 20).
(a) Nach der Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) hat die Klägerin in Italien ihr Recht auf Unterbringung verloren, sodass sie und ihre Tochter nach ihrer Überstellung weder in einer staatlichen Unterbringungseinrichtung aufgenommen werden, noch ihnen mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zeitnah eine adäquate Unterbringung bei einer karitativen Organisation zur Verfügung steht.
(aa) Art. 23 Abs. 3 des Decreto Legislativo 18 agosto 2015, n. 142 (Dekret 142/2015) sieht vor, dass der Präfekt der Region, in welcher die für den Asylsuchenden zuständige Unterbringungseinrichtung liegt, im Einzelfall über den Entzug des Rechts auf Unterbringung entscheidet, wenn der Asylsuchende die Einrichtung ohne Benachrichtigung der Präfektur verlassen hat oder dort gar nicht erst einzieht. […]
Mit dem Entzug der Unterkunft verliert der Asylsuchende auch den Zugang zu allen weiteren in der Unterkunft erbrachten staatlichen Leistungen. […]
Geldleistungen für Asylsuchende, die nicht in einer staatlichen Unterkunft untergebracht sind, sind im italienischen Recht nicht vorgesehen (vgl. aida, Country Report: Italy, Februar 2017, S. 66, März 2018, S. 76, und April 2019, S. 86). Von Kirchen, Kommunen, Wohltätigkeitsorganisationen und Privatpersonen gestellte Unterbringungsmöglichkeiten bieten keinen adäquaten Ersatz für eine fehlende staatliche Unterbringung. […]
Selbst bei erheblichen Anstrengungen von Nichtregierungsorganisationen gelingt es nicht immer, unmittelbar im Anschluss an die Überstellung eine Unterkunft für alleinerziehende Mütter und Familien mit Kindern zu finden. Aus diesem Grund ist nicht auszuschließen, dass diese mehrere Tage auf der Straße leben müssen, bevor sie untergebracht werden. In Ausnahmefällen werden Familienangehörige auch getrennt untergebracht, wobei es manchmal auch zur Inobhutnahme des Kindes durch staatliche Behörden und zu einer Trennung von Kindern von ihren Eltern kommt. Ist ein Kind erst einmal in staatlicher Obhut, ist es sehr schwierig, das Kind wieder mit seinen Eltern zu vereinen (vgl. Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 2275/19.A u.a., S. 7 und 10).
(bb) […] Die Klägerin wäre daher im Falle ihrer Überstellung ohne ausreichende Geldmittel auf Bekannte oder Notunterkünfte angewiesen, ansonsten droht ihr Obdachlosigkeit oder ein Leben in informellen Siedlungen oder verlassenen Gebäuden zu den dort üblichen erbärmlichen Bedingungen, insbesondere in hygienischer Hinsicht. […]
Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Romer in der mündlichen Verhandlung ist auch nicht zu erwarten, dass die Klägerin bei einer Überstellung nach Italien infolge einer dort erstmalig erfolgenden Stellung eines Asylantrags für ihre in Deutschland geborene Tochter mit dieser zusammen untergebracht würde. Vielmehr ist es nach Auskunft der Sachverständigen Romer in der Vergangenheit in vergleichbaren Fällen des öfteren vorgekommen, dass Mutter und Kind getrennt und Letzteres ohne seine Mutter in einer staatlichen Einrichtung für Kinder untergebracht wurde. […]
(b) […] Die für eine Unterbringung der Klägerin und ihrer Tochter allein in Betracht kommenden Erstaufnahmeeinrichtungen (CARA-, CDA- oder CAS-Zentren) sind für eine Unterbringung von Kindern in der Regel nicht ausreichend ausgestattet. Die in den Erstaufnahmeeinrichtungen lediglich angebotene Basisversorgung ist für vulnerable Personengruppen – zu denen alleinerziehende Mütter und Familien mit Kindern gehören – nicht ausreichend (so auch UKUT, Urteil vom 04. Dezember 2018 – R (on the application of SM & Others) v Secretary of State for the Home Department (Dublin Regulation – Italy) –, [2018] UKUT 00429 (IAC), Rn. 323, 325). Dies steht aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen Romer in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts fest. Diesbezüglich hat die Sachverständige auf Grundlage ihrer erst im September 2019 unternommenen Aufklärungsreise nach Italien sowie den durch die Beziehungen zu staatlichen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen vor Ort gewonnen Informationen ausgeführt, dass in den von ihr besuchten Erstaufnahmeeinrichtungen separate Zimmer für die gemeinsame Unterbringung von alleinerziehenden Müttern oder Eltern mit ihren Kindern vorgehalten wurden. Jedoch stellte die Unterbringung von alleinerziehenden Müttern oder Familien mit Kindern in den von der Sachverständigen besuchten CAS-Zentren aufgrund des geringen Platzes eine „sehr enge und schwierige Situation“ (z.B. vier Mütter mit Kindern in einem kleinen Zimmer) dar. Ferner waren die Familienbereiche oft nicht räumlich von den Unterkünften der anderen Asylsuchenden abgetrennt und sanitäre Anlagen, deren Zustand oft unzureichend war, wurden mit den daraus resultierenden Nachteilen von allen in der Einrichtung untergebrachten Personen gemeinsam benutzt. In der Mehrzahl der besuchten Zentren war abgesehen von Nahrung für Kleinkinder zudem keine spezielle Ausstattung für Kinder, insbesondere kein Spielzeug oder ein separater Raum für Kinder zum Spielen vorhanden. Die Familien wurden ferner zusammen mit Personen mit psychischen Problemen im gleichen Zentrum untergebracht. Personal war in den Einrichtungen nicht durchgängig anwesend. Insgesamt beschrieb die Sachverständige eine „schwere“ und nicht kinderfreundliche Stimmung in den Unterbringungseinrichtungen, welche unter den Familien nicht nur in Einzelfällen eine Atmosphäre der Anspannung und Angst erzeugte. […]
(2) Ausgehend von der Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch des Bundesverfassungsgerichts zur Erforderlichkeit einer Zusicherung der Behörden des Zielstaats der Abschiebung bei durchgreifenden Zweifeln an einer adäquaten Unterbringung von alleinerziehenden Müttern und Familien mit Kindern (vgl. EGMR, Urteil vom 04. November 2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, NVwZ 2015, 127, Rn. 120 f.; BVerfG, Beschlüsse vom 17. September 2014 – 2 BvR 939/14 –, NVwZ 2014, 1511, Rn. 16, und – 2 BvR 1795/14 –, juris Rn. 14 – zu Kleinstkindern –, und vom 10. Oktober 2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 23) dürfen diese aufgrund der vorstehend beschriebenen Lebensumstände nur bei Vorliegen einer belastbaren individuellen Zusicherung, dass für sie nach ihrer Ankunft eine ihren Bedürfnissen entsprechende Unterkunft zur Verfügung steht, nach Italien überstellt werden.
(a) Eine solche Zusicherung muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte detaillierte und zuverlässige Informationen über die materiellen Bedingungen in den betreffenden Unterkünften enthalten (vgl. EGMR, Urteil vom 04. November 2014 – 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) –, NVwZ 2015, 127, Rn. 119 und 121). […]
(b) Darüber hinaus muss eine solche Zusicherung folgenden Anforderungen entsprechen: Sie muss unter Angabe von Namen und Alter der betroffenen Person garantieren, dass eine ihrem Alter und/oder deren besonderen Bedürfnissen entsprechende Unterkunft bei der Ankunft (hier: in Italien) zur Verfügung steht und dass Eltern und Kinder bei der Unterbringung nicht getrennt werden. Dabei reicht es aus, dass die zuständige Behörde des Abschiebezielstaats ein Schreiben mit Namens- und Altersangabe sowie einer Anerkennung als Familieneinheit verfasst und in diesem Schreiben (implizit) auf allgemeine Garantien einer familiengerechten Unterbringung in der Form eines Rundschreibens hinweist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 2015 – 2 BvR 602/15 –, juris Rn. 5; Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15. Januar 2018 – D-7302/2017 –, Rn. 8.3.1; Österreichischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 23. Januar 2018 – Ra 2018/20/0001 –, Rn. 7), solange diese Rundschreiben hinreichend aktuell sind (vgl. Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 09. Dezember 2015 – E-6261/2015 –, Rn. 4.5.2.)
(c) Die aktuelle Zusicherung der italienischen Dublin-Einheit mit Rundschreiben 1/2019 („circular letter n. 1/2019“) vom Januar 2019 entspricht diesen Anforderungen nicht. […]Da das Rundschreiben keine bestimmten Aufnahmeeinrichtungen benennt, liegen bereits die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderten detaillierten und zuverlässigen Informationen über die materiellen Bedingungen in den betreffenden Unterkünften nicht vor. […]
(d) Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen hält das Gericht die von den italienischen Behörden abgegebene Zusicherung aber auch deshalb nicht für belastbar, weil aufgrund konkreter Anhaltspunkte zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass in der Vergangenheit von den italienischen Behörden abgegebene Zusicherungen häufig, d.h. über ein paar vernachlässigbare Einzelfälle hinaus, nicht befolgt wurden.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hatte bereits aufgrund einer im Februar und März 2016 durchgeführten Aufklärungsreise nach Italien Zweifel daran geäußert, dass alleinerziehende Mütter und Familien mit Kindern tatsächlich Zugang zu den in den vorstehend aufgeführten Rundschreiben reservierten Plätzen haben, weil es nicht gelungen sei, transparente und eindeutige Informationen bezüglich der praktischen Umsetzung der in der Vergangenheit erteilten Zusicherungen zu erhalten (vgl. SF, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S. 41, 63 f. und 74; Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 2275/19. A u.a., S. 11 f.)
Zudem hat ein vom Danish Refugee Council in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe durchgeführtes Monitoring (vgl. DRC/SF, Is Mutual Trust Enough? The Situation of Persons with Special Reception Needs upon Return to Italy, 09. Februar 2017, S. 10 ff., sowie Mutual Trust is Still not Enough – The Situation of Persons with Special Reception Needs Transferred to Italy under the Dublin III Regulation, 12. Dezember 2018, S. 23 ff. und 28) konkrete Hinweise im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte („specific indication in the case file“) (vgl. EGMR, z.B. Beschluss vom 17. November 2015 -54000/11 (A.T.H.) –, HUDOC Rn. 39) darauf ergeben, dass die italienischen Behörden auch in dem hier zu beurteilenden Zeitraum in einer nicht zu vernachlässigenden Anzahl von Fällen vulnerable Personen, darunter auch alleinerziehende Mütter und Familien mit Kindern, nach ihrer Ankunft in Italien für einen substantiellen Zeitraum nicht oder nicht ihren besonderen Bedürfnissen entsprechend unterbringen (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 4. Juli 2018 – 22 L 5076/17.A –, juris Rn. 39; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2019 – 1a K 4879/18.A –, juris Rn. 61 ff.).
Diese Sachlage hat die Sachverständige Romer unter Schilderung konkreter aktueller Fälle in der mündlichen Verhandlung bestätigt (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 2275/19.A u.a., S. 6 f., 9 ff., 11 und 15).
Hierbei handelt es sich nicht nur um einige zu vernachlässigende Einzelfälle (so aber noch EGMR, Beschluss vom 15. Mai 2018 – 67981/16 (H u.a.) –, HUDOC, Rn. 21). […]
Inzwischen ist auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von seiner vorstehend referierten Auffassung abgerückt und klärt den Sachverhalt durch Fragen an die Beteiligten (vgl. EGMR, Entscheidung vom 2. August 2019 – 41100/19 (A.B./Finnland) –, HUDOC S. 5 f.) bzw. Fragen an die beklagte Regierung sowie die nicht am Verfahren beteiligte Regierung Italiens (vgl. EGMR, Entscheidung vom 5. September 2019 – 46595/19 (M.T./the Netherlands) –, HUDOC S. 2. f.) auf. […]