STREIT 1/2018

S. 39-40

LSG Hessen, § 8 Abs. 1 SGB VII

Leibesvisitation als Arbeitsunfall

Die versicherte Tätigkeit wird nicht durch polizeiliche Maßnahmen unterbrochen, wenn diese in einem Ursachenzusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit stehen.
Erleidet die Versicherte aufgrund einer polizeilichen Maßnahme (Leibesvisitation) einen Gesundheitsschaden (hier: Gefühle des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und Ohnmacht), ist dieses Ereignis als Arbeitsunfall festzustellen.
(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des LSG Hessen vom 17.10.2017, L 3 U 70/14

Aus dem Sachverhalt:
Die Beteiligten streiten, ob ein Ereignis als Arbeitsunfall festzustellen ist.
Die 1973 geborene Klägerin ist bei der D. AG beschäftigt. Am 7. Januar 2012 […] verrichtete die Klägerin zusammen mit ihrem Kollegen F. ihren Dienst von 14.00 Uhr bis 22.30 Uhr am Service-Point des Fernbahnhofs […]. Der Mitarbeiter F., der für die örtliche Bahnsteigaufsicht zuständig war, übergab um ca. 15.00 Uhr der Klägerin einen Rucksack. Der Rucksack wurde von der Klägerin als Fundsache nach den entsprechenden Richtlinien behandelt. Im Beisein des Kollegen F. wurde der Rucksack geöffnet und dessen Inhalt dokumentiert. Gegen 15.30 Uhr erschienen zwei Beamte der Bundespolizei am Service-Point und fragten nach dem Rucksack. Nachdem ein Beamter den Rucksack in Augenschein genommen und per Funk Kontakt mit der Bundespolizeiinspektion am G. aufgenommen hatte, stellte er das Fehlen von Geld (500 Euro und 15.000 Rubel) und Schmuck fest. Er verlangte von der Klägerin die Herausgabe des Rucksackes, woraufhin die Klägerin dem Beamten den Rucksack gegen Unterschrift aushändigte. Nach ca. 30 Minuten kehrte der Beamte zurück und teilte der Klägerin mit, aus der Fundsache fehle auch eine Festplatte. Der Kollege F. wurde um 18.30 Uhr von Bundespolizeibeamten aufgefordert, sie unter Mitnahme seiner persönlichen Sachen zum Revier zu begleiten. Der Kollege F. kehrte nach ca. 15 Minuten zurück.
Wenig später – gegen 19.00 Uhr – wurde die Klägerin von zwei Beamtinnen der Bundespolizei abgeholt und ebenfalls aufgefordert, ihre persönlichen Sachen, Mantel und Tasche mitzunehmen. Laut polizeilichem Protokoll durchsuchten die Beamtinnen von 19.10 Uhr bis 19.25 Uhr die von der Klägerin mitgeführten Sachen, die Klägerin selbst musste sich entkleiden und einer Leibesvisitation unterziehen. Die Klägerin trat am Sonntag, dem 8. Januar 2012, ihren Dienst wieder an. Ab Montag, dem 16. Januar 2012 wurde sie krankgeschrieben. In ihrer Patientenkartei wird hierzu ausgeführt: „Steht unter psychischem Druck, da sie bei der D. wegen einer Fundsache mit Bundespolizei Probleme bekommen hat, sie steht jetzt wohl fast unter Verdacht, Geld entwendet zu haben. Ist bis auf die Unterhose gefilzt worden. Bundespolizei ermittelt weiter gegen sie. Jetzt Schlafstörungen, ist massiv belastet, Unruhe, hat wieder angefangen zu rauchen, fühlt sich verfolgt.“ Vom 14. März 2012 bis 18. April 2012 erfolgte eine stationäre Behandlung der Klägerin […]. Es wurde eine „akute Belastungsreaktion“ diagnostiziert und unter anderem zur Krankheitsvorgeschichte ausgeführt: „Frau A. arbeitet beim Service der D. am E-Stadter G. Auslöser für ihre aktuellen Beschwerden war eine in Augenscheinnahme am 7.1.2012. Hier wurde die Patientin, wie sich im Nachhinein herausstellte, völlig ungerechtfertigt genötigt, sich komplett zu entkleiden und vollständig kontrollieren zu lassen. Seit diesem Zeitpunkt zog Frau A. sich immer mehr in sich zurück und verlor vollkommen ihr Vertrauen in sich selbst und die Außenwelt. Seither ist die Patientin arbeitsunfähig geschrieben.“ Mit einem am 23. April 2012 eingegangenen Schreiben machte die Klägerin das Ereignis bei der Beklagten als Arbeitsunfall geltend.
Mit Bescheid vom 27. April 2012 teilte die Beklagte der Klägerin mit, […] ein eigentliches Unfaller­eignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung liege nicht vor. Den dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juli 2012 zurück. […] Die Klägerin hat hiergegen […] Klage erhoben. […]
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 20. März 2014 die Klage abgewiesen und in den Gründen ausgeführt, die Klägerin habe zwar nach dem Ereignis vom 7. Januar 2012 eine mittlerweile abgeklungene Anpassungsstörung erlitten, diese sei aber nicht als Folge eines Arbeitsunfalls aufzufassen. Die Arbeitsschicht der Klägerin am 7. Januar 2012 sei rechtlich wesentlich durch eine private Verrichtung in Form der Leibesvisitation durch die Beamtinnen der Bundespolizei unterbrochen worden. Denn die Handlungstendenz der Klägerin sei im Moment des Mitkommens auf die Wache der Bundespolizei nicht auf eine betriebsdienliche Tätigkeit gerichtet gewesen. Im Wesentlichen habe das Mitkommen und das Zulassen der Leibesvisitation den eigenen Angelegenheiten der Klägerin gedient. Sie sei untersucht worden, da sie im Verdacht gestanden habe, mit dem Abhandenkommen von Geld, Schmuck und der Festplatte im Rucksack etwas zu tun gehabt zu haben. Die Beamten der Bundespolizei hätten mit der Einwilligung der Klägerin ihre Sachen durchsucht. Entscheidend sei, dass die Klägerin immer als Tatverdächtige behandelt worden sei, ebenso wie ihre beiden Kollegen. Insofern habe auch allein die Abwehr des Verdachtes einer Straftat im Vordergrund des Handelns der Klägerin gestanden. Betriebliche Interessen hätten zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr gespielt. […] Gegen das […] Urteil hat die Klägerin […] Berufung eingelegt.

Aus den Gründen:
Auf die zulässige Berufung der Beklagten sind das erstinstanzliche Urteil und die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufzuheben, denn die Klägerin hat am 7. Januar 2012 einen Arbeitsunfall erlitten. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 27. April 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juli 2017, mit dem die Beklagte die Feststellung eines Arbeitsunfalls abgelehnt hat. Ob die Klägerin wegen des Arbeitsunfalls Ansprüche auf Leistungen hat, ist nicht zu entscheiden, weil diesbezüglich noch keine Verwaltungsentscheidung ergangen ist.
Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII) Unfälle von Versicherten infolge einer versicherten Tätigkeit. […] Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls sind hier nachgewiesen.
Der Unfallbegriff erfordert nach Abs. 1 Satz 2 ein „von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis“. Als Einwirkung ist die durch einen äußeren Vorgang ausgelöste Änderung des physiologischen Körperzustandes zu verstehen, die von dem Gesundheitserstschaden zu unterscheiden ist. Mit dem Erfordernis wird zum Ausdruck gebracht, dass ein allein aus innerer Ursache (aus dem Menschen selbst) kommendes Geschehen nicht als Unfall anzusehen ist. Das Tatbestandsmerkmal „zeitlich begrenzt“ ist in Abs. 1 Satz 2 nicht näher bestimmt. Nach herrschender Meinung muss die Einwirkung höchstens innerhalb einer Arbeitsschicht erfolgt sein (Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 8 Rdnrn. 11 und 12). Der durch die Einwirkung von außen verursachte Gesundheitserstschaden umfasst jedes Hervorrufen oder Steigern eines von den normalen körperlichen oder psychischen Funktionen nachteilig abweichenden Zustands, auch ohne damit verbundene Schmerzen. Ein besonderer Ausprägungsgrad des Gesundheitserstschadens ist nicht erforderlich. Anders als in der Krankenversicherung muss er nicht zu einer Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit geführt haben (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., 1.4.2, S. 11).
„Unfallereignis“ sind im vorliegenden Fall die die Klägerin unmittelbar betreffenden polizeilichen Maßnahmen insgesamt, so das Abführen zur Wache, die Durchsuchung der persönlichen Gegenstände der Klägerin und die Leibesvisitation. Auslöser und Ursache dieser polizeilichen Maßnahmen war allein die berufliche Tätigkeit der Klägerin, die die Klägerin ordnungsgemäß den dienstlichen Vorschriften entsprechend ausgeübt hat. Privat veranlasste Handlungen der Klägerin, die Anlass zu den polizeilichen Maßnahmen hätten geben können, gab es zweifellos nicht. Die berufliche Tätigkeit der Klägerin war folglich ursächlich für das von außen auf den Körper der Klägerin einwirkende Ereignis, die polizeilichen Maßnahmen. Sie standen in einem inneren bzw. sachlichen Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit der Klägerin.
Der Auffassung, die Klägerin habe ihre berufliche versicherte Tätigkeit durch eine private Verrichtung unterbrochen, als sie zur Wache mitgekommen und die Leibesvisitation sowie die Durchsuchung ihrer Sachen zugelassen habe, kann sich der Senat nicht anschließen. Unterbrochen wurde die berufliche Tätigkeit der Klägerin durch eine Einwirkung von außen, nämlich die polizeilichen Maßnahmen, die zunächst die polizeiliche Aufforderung beinhalteten, den Arbeitsplatz zu verlassen und sich in Begleitung der Beamtinnen zur Wache zu begeben, um dort die Durchsuchung der Person und von deren Sachen vorzunehmen. Aufgrund der §§ 43 Abs. 1 Ziffer 2 und 44 Abs. 1 Ziffer 1 BPolG sind Bundespolizeibeamte befugt, eine Person und die von ihr mitgeführten Sachen zu durchsuchen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person Sachen mit sich führt, die sichergestellt werden dürfen. Nach § 43 Abs. 5 BPolG kann eine Person festgehalten und zur Dienststelle mitgenommen werden, wenn die Durchsuchung auf andere Weise nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten durchgeführt werden kann.
Der Umstand, dass die Klägerin sich der Aufforderung der Beamtinnen, sie zur Wache zu begleiten, nicht widersetzte, kann nicht die Annahme rechtfertigen, die Klägerin habe sich entschieden, ihre betriebliche Tätigkeit für eine „private Verrichtung“ zu unterbrechen. Der Klägerin kann auch nicht der Versicherungsschutz mit dem Argument versagt werden, die polizeilichen Maßnahmen hätten allein und überwiegend dem Interesse der Klägerin gedient, den Verdacht, eine Straftat begangen zu haben, abzuwehren. Denn entscheidend ist, ob die polizeilichen Maßnahmen in einem Kausalzusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit der Klägerin standen oder privat veranlasste Handlungen der Klägerin diese Maßnahmen verursacht haben. Im Übrigen liegt die Feststellung, ob ein Mitarbeiter die betriebliche Tätigkeit genutzt hat, um eine Straftat zu begehen, auch im Interesse des Arbeitgebers. Dies gilt umso mehr, wenn ein Arbeitnehmer verdächtigt wird, Gegenstände entwendet zu haben, die sich – wie hier – in dienstlicher Verwahrung befunden haben. Die polizeilichen Maßnahmen und deren Duldung durch die Klägerin dienten deshalb objektiv auch wesentlich betrieblichen Interessen.
Die polizeilichen Maßnahmen haben bei der Klägerin nach dem Gutachten des Dr. H. unmittelbar zu Gefühlen des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und Ohnmacht geführt, so dass ein Gesundheitserstschaden in Folge des Ereignisses ebenfalls gegeben ist. […]