STREIT 1/2018

S. 41

BGH, § 406e Abs. 1 StPO

Akteneinsicht der Nebenklägerin beeinträchtigt nicht die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage

Beschluss des BGH vom 05.04.2016, 5 StR 40/16

Aus den Gründen
(…)
Der Senat hat bereits entschieden, dass grundsätzlich keine Erörterungspflicht in Bezug auf eine etwaige Kenntnis eines Nebenklägers vom Inhalt der Verfahrensakten besteht (BGH, Beschluss vom 15. März 2016 – 5 StR 52/16).
Regelmäßig drängt auch in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen die Aufklärungspflicht das Gericht nicht dazu, Feststellungen zur Wahrnehmung des sich aus § 406e Abs. 1 StPO ergebenden Akten­einsichtsrechts zu treffen. Auch in solchen Fällen bedarf es im Rahmen der Beweiswürdigung in der Regel keiner ausdrücklichen Würdigung des Umstands, dass ein Verletzter vermittelt durch einen Rechtsanwalt Zugang zum Inhalt der Ermittlungsakten – insbesondere auch zu Niederschriften seiner früheren Vernehmungen – hatte. Denn mit der Wahrnehmung dieses gesetzlich eingeräumten Verletztenrechts geht nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (a.A. wohl OLG Hamburg, Beschluss vom 24.10.2014 – 1 Ws 110/14, NStZ 2015, 105, 107; BeckOK-StPO / Eschelbach, § 261 Rn. 55.3).
Durch die generalisierende Annahme, dass mit Akteneinsicht durch den Nebenklägervertreter die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Belastungszeugen stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, würde zudem seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden (vgl. zu § 52 StPO: LR-StPO / Ignor/Bertheau, 26. Aufl., § 52 Rn. 40).
Maßgeblich sind stets die Umstände des Einzelfalls. Diese können etwa dann zu einer ausdrücklichen Bewertung möglicher Aktenkenntnis des (einzigen) Belastungszeugen im Rahmen der Beweiswürdigung drängen, wenn Hinweise auf eine konkrete Falschaussagemotivation des Zeugen oder Besonderheiten in seinen Aussagen hierzu Anlass geben. Daran fehlt es hier.
In der Person der Nebenklägerin oder in ihren Aussagen liegen keine Umstände vor, durch die das Landgericht sich zu einer Erstreckung der Beweisaufnahme auch auf den genannten Gesichtspunkt hätte gedrängt sehen müssen und die eine ausdrückliche Würdigung auch dieses Aspekts im Rahmen der durch das Landgericht eingehend und sorgfältig vorgenommenen Analyse der Angaben der Nebenklägerin erforderlich gemacht hätten.

Anmerkung der Redaktion
Nachdem zunehmend Gerichte das Akteneinsichtsrecht von Nebenklägerinnen unter Verweis auf Schwierigkeiten der Beweiswürdigung abgelehnt hatten, hat der BGH nun klargestellt, dass die Akteneinsicht ein grundlegendes Recht ist, dessen Ausübung die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Nebenklägerin nicht in Frage stellt.
Ausführlich hat sich mit den Argumenten bereits das OLG Braunschweig auseinandergesetzt, dessen Urteil vom 03.12.2015 (1 Ws 309/15) wir in STREIT Heft 2/2017, S. 76-79 abgedruckt haben.
Aufgrund der Ratifizierung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ist die Bundesrepublik verpflichtet, den wirksamen Schutz der von Gewalt Betroffenen auch im Strafverfahren sicherzustellen. Dazu gehören nach Art. 56 Ziff. d) der Konvention auch das Recht, Beweise vorzulegen und gehört zu werden. Dieses Recht darf, wie das OLG Braunschweig richtig ausführte, nicht dadurch eingeschränkt werden, dass der Nebenklägerin die Akteneinsicht verweigert wird.
Siehe dazu auch die neue Publikation des Deutschen Instituts für Menschenrechte: Heike Rabe, Britta Leisering (2018): Die Istanbul-Konvention. Neue Impulse für die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt, Kap. 4.5.1, S. 50, unter www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/show/die-istanbul-konvention/

Istanbul-Konvention
Artikel 56 – Schutzmaßnahmen

1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um (…)
d) den Opfern in Übereinstimmung mit den Verfahrensvorschriften des innerstaatlichen Rechts die Möglichkeit geben, gehört zu werden, Beweismittel vorzulegen und ihre Ansichten, Bedürfnisse und Sorgen unmittelbar oder über eine Vermittlerin beziehungsweise einen Vermittler vorzutragen und prüfen zu lassen;
e) den Opfern geeignete Hilfsdienste zur Verfügung stellen, damit ihre Rechte und Interessen in gebührender Weise vorgetragen und berücksichtigt werden;
f) sicherstellen, dass Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre und des Bildes des Opfers getroffen werden können;
g) sicherstellen, dass ein Kontakt zwischen Opfern und Tätern beziehungsweise Täterinnen in den Räumlichkeiten der Gerichte und der Strafverfolgungsbehörden soweit möglich vermieden wird;
h) den Opfern unabhängige und fähige Dolmetscherinnen und Dolmetscher zur Verfügung stellen, wenn die Opfer im Verfahren als Partei auftreten oder Beweismittel vorlegen; (…)
www.coe.int/conventionviolence