STREIT 1/2019

S. 43-47

VGH BW, Art. 1, Art. 2, Art. 4, Art. 5 GG, § 2 Abs. 2 PolG BW 1992

Polizeiliches Verbot der Gehsteigberatung vor einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle

Das an einen privaten Verein gerichtete Verbot, unmittelbar vor einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle Personen auf eine Schwangerschaftskonfliktsituation anzusprechen und ihnen unaufgefordert Broschüren, Bilder oder Gegenstände zu diesem Thema zu zeigen oder zu überreichen (sog. Gehsteigberatung), kann auch unter Berücksichtigung der Meinungs- und der Glaubensfreiheit dieses Vereins zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der schwangeren Frauen gerechtfertigt sein (hier bejaht; Bestätigung der Senatsrechtsprechung, vgl. Beschl. v. 10.06.2011 – 1 S 915/11 – ESVGH 62, 27 = NJW 2011, 2532 = VBlBW 2011, 468).
Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 11.10.2012, 1 S 36/12

Aus den Gründen:
Der Kläger wendet sich gegen das Verbot der Durchführung so genannter Gehsteigberatungen vor der vom Beigeladenen unterhaltenen Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle. […]
Der Beigeladene unterhält in der H.-Straße in Freiburg eine nach § 9 des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten – SchKG – staatlich anerkannte Beratungsstelle.
Ab dem Spätsommer des Jahres 2010 organisierte der Kläger vor dieser Beratungsstelle so genannte Gehsteigberatungen. Die Gehsteigberatung richtet sich vornehmlich an Frauen, die nach Einschätzung der in Freiburg für den Kläger tätigen Gehsteigberaterin die Schwangerschaftskonfliktberatung in Anspruch nehmen könnten. Auf welche Art und Weise die zur Zielgruppe gehörenden Personen im Rahmen der Gehsteigberatung angesprochen werden, ist im einzelnen zwischen den Beteiligten streitig. Die Gehsteigberaterin wird in der Regel begleitet von einer „stillen Beterin“ oder einem „stillen Beter“, d.h. von einer Person, die in der Nähe still Rosenkränze betet. Die Gehsteigberatung wurde in dieser Form in der Regel an drei Wochentagen in der Zeit von 9 bis 12 Uhr und von 14 bis 16 Uhr durchgeführt. Diese Uhrzeiten entsprachen weitestgehend den Öffnungszeiten der Beratungsstelle des Beigeladenen. […]
Mit Schreiben vom 07.10.2010 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass einer Gehsteigberatung in der H.-Straße nicht zugestimmt werden könne. Hingegen bestünden keine Einwände, wenn die Gehsteigberatung an der Ecke K.-​Straße/H.-Straße stattfände. Sollte diesem Vorschlag nicht zugestimmt werden, sei beabsichtigt, die Ansprache von hilfesuchenden Personen in Form der Gehsteigberatung durch Erlass eines kostenpflichtigen Untersagungsbescheides zu unterbinden. Der Kläger erwiderte, es werde um Verständnis gebeten, dass die den rechtlichen Vorgaben entsprechenden Gehsteigberatungen fortgeführt würden.
Nachdem der Beigeladene in der Folgezeit erneut über zunehmende Beschwerden seiner Klientinnen berichtet und sich an die Presse gewandt hatte, erließ die Beklagte am 16.02.2011 gegenüber dem Kläger den streitgegenständlichen Bescheid, in welchem ihm sowie den von ihm beauftragten Personen – unter Anordnung der sofortigen Vollziehung (II.) und Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 250 € (III.) – untersagt wurde, im gesamten Bereich der H.-Straße, Freiburg i.Br., Personen auf eine Schwangerschaftskonfliktsituation anzusprechen oder ihnen unaufgefordert Broschüren, Bilder oder Gegenstände zu diesem Thema zu zeigen oder zu überreichen, d.h. so genannte Gehsteigberatungen durchzuführen (I.). Für die Entscheidung wurde eine Verwaltungsgebühr von 100 € festgesetzt (IV.). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, die Art und Weise der Kontaktaufnahme und der Gesprächsführung sowie die Übergabe abschreckenden Informationsmaterials setze die betroffenen Frauen in einer ohnehin angespannten emotionalen Situation gleichsam einem Spießrutenlauf aus, was sie in ihren Persönlichkeitsrechten verletze. Daher sei die Untersagung der Gehsteigberatung in der H.-Straße auf der Grundlage der §§ 1, 3 PolG die erforderliche und angemessene Maßnahme. […]

Über die Art und Weise der Durchführung der Gehsteigberatung durch Mitarbeiter des Klägers in Freiburg hat der Senat durch Vernehmung von 11 Zeugen Beweis erhoben. […]
Der angefochtene Bescheid der Beklagten und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg sind rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). […]
2.) Die Untersagungsverfügung ist auch inhaltlich hinreichend bestimmt (vgl. § 37 Abs. 1 LVwVfG). […] Soweit nach dem Wortlaut der Verfügung allgemein das Ansprechen von „Personen“ auf einen Schwangerschaftskonflikt verboten wurde, wird bereits aus der Umschreibung der Verbotshandlungen mit dem Begriff der „Gehsteigberatung“ im Tenor hinreichend deutlich, dass das Verbot sich nur auf das Ansprechen von Personen bezieht, die zur Zielgruppe der vom Kläger angebotenen Beratung gehören können. […] In räumlicher Hinsicht ergibt die Auslegung und die durch die Beklagte im gerichtlichen Verfahren erfolgte Klarstellung, dass das Verbot nur für den etwa 70 m langen Abschnitt der H.-Straße, an dem die Beratungsstelle des Beigeladenen liegt, gelten soll. […] Entsprechend endet das Verbot in östlicher Richtung an der Ecke H.-Straße/K.-Straße, weil dort der Sichtkontakt mit der Beratungsstelle abbricht und die anzusprechenden Frauen in dem Strom der Passanten aufgehen. […]

3.) Das von der Untersagungsverfügung erfasste Verhalten des Klägers und der für ihn in Freiburg tätigen Gehsteigberaterin stellt eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, die ein Einschreiten auf der Grundlage der §§ 1, 3 PolG rechtfertigt.
a) Die Anwendung der polizeilichen Generalklausel der §§ 1, 3 PolG ist weder durch das Straßenrecht noch durch das Versammlungsrecht gesperrt.
aa) Die Anwendung der polizeilichen Generalklausel ist nicht durch vorrangige Vorschriften des Straßenrechts gesperrt. Denn die von der Beklagten untersagte Gehsteigberatung ist straßenrechtlich noch als Gemeingebrauch und nicht als Sondernutzung anzusehen (vgl. zu entsprechenden Formen des „politischen Meinungskampfes“ näher BVerfG [Kammer], Beschl. v. 18.10.1991 – 1 BvR 1377/91 – NVwZ 1992, 53; BVerwG, Urt. v. 07.06.1978 – 7 C 5.78 – BVerwGE 56, 63 <67 f.>), zumal ihre Erscheinungsformen nicht der erwerbswirtschaftlichen Nutzung des Straßenraums dienen und damit als noch dem „kommunikativen Verkehr“ zugehörig einzustufen sind (vgl. zur Abgrenzung im Einzelnen: VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.07.1996 – 5 S 472/96 – VBlBW 1997, 64; Sauthoff, NVwZ 1990, 223 <225>; Schnebelt/Sigel, Straßenrecht in Baden-Württemberg, 2. Aufl., Rn. 287 ff.; Lorenz/Will, Straßengesetz Baden-Württemberg, 2. Aufl., § 13 Rn. 22 ff.). […]
bb) Die Gehsteigberatung ist auch keine öffentliche Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes. Eine Versammlung wird dadurch charakterisiert, dass eine Personenmehrheit durch einen gemeinsamen Zweck inhaltlich verbunden ist. […] Hier zielt die Ansprache seitens der im Auftrag des Klägers tätigen Gehsteigberaterin auf eine individuelle Kommunikation mit Einzelpersonen, nicht aber auf die für die Annahme einer Versammlung konstitutive Kommunikation vermittels einer eigens zu diesem Zweck veranlassten Gruppenbildung (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.08.2007 – 6 C 22.06 – NVwZ 2007, 1434 <Rn. 15>).

b) Eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit liegt vor, weil die vom Kläger im räumlichen Geltungsbereich der Untersagungsverfügung praktizierte Gehsteigberatung mit dem erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts insbesondere derjenigen angesprochenen Frauen führt, die sich tatsächlich in einer Schwangerschaftskonfliktsituation befinden.
aa) Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit nach § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG umfasst die Rechte und Rechtsgüter der Einzelnen; dazu gehört neben Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 – 1 BvR 233, 241/81 – BVerfGE 69, 315 <352>) auch das durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl. Senatsurteile vom 22.02.1995 – 1 S 3184/94 – VBlBW 1995, 282 <283> und vom 08.05.2008 – 1 S 2914/07 – VBlBW 2008, 375 <376> m.w.N. = NVwZ-​RR 2008, 700 <701>).
bb) Das in Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht dient dem Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre und der Erhaltung ihrer Grundbedingungen, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998 -1 BvR 1531/96 – BVerfGE 99, 185 <193>; Beschl. v. 25.10.2005 – 1 BvR 1696/98 – BVerfGE 114, 339 <346>; Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 – BVerfGE 120, 274 <303>). Im Sinne eines Schutzes vor Indiskretion hat hiernach jedermann grundsätzlich das Recht ungestört zu bleiben. Dem Einzelnen wird ein Innenbereich freier Persönlichkeitsentfaltung garantiert, in dem er „sich selbst besitzt“ und in den er sich frei von jeder staatlichen Kontrolle und sonstiger Beeinträchtigung zurückziehen kann (BVerfG, Entscheidung vom 16.07.1969 – 1 BvL 19/63 – BVerfGE 27, 1 <6> m.w.N.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 149). Diese Privatsphäre umfasst zum einen Rückzugsräume im Wortsinne, aber auch Themen der engeren Lebensführung, „deren öffentliche Erörterung als peinlich oder zumindest unschicklich empfunden wird“ (Di Fabio, a.a.O.).
cc) Daran gemessen greift die Ansprache durch einen Fremden auf die Themen Schwangerschaft oder gar Schwangerschaftskonflikt in die Privatsphäre der betroffenen Frauen ein. Die Grundrechte sind zwar primär Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Sie konstituieren jedoch gleichzeitig eine Werteordnung, die auch die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten mittelbar prägt, indem sie bei der Auslegung des einfachen Rechts – hier der polizeilichen Generalklausel – zu beachten ist. Zumindest in der Frühphase der Schwangerschaft, in der diese noch nicht äußerlich erkennbar ist, entscheidet die Frau darüber, die Schwangerschaft publik zu machen oder geheim zu halten. Der Schutz der Privatsphäre ist umso intensiver, je näher der Sachbereich der Intimsphäre steht. Gerade das erste Drittel der Schwangerschaft, in dem sich die überwiegende Mehrzahl der ratsuchenden Frauen befinden dürfte, weist eine große Nähe zur Intimsphäre auf, so dass für die Frage der Eingriffsrechtfertigung auch dann ein sehr hohes Schutzniveau für das allgemeine Persönlichkeitsrecht zugrundezulegen ist, wenn man die Schwangerschaft nicht sogar pauschal der Intimsphäre der Frau zuordnet (so noch BVerfG, Urt. v. 25.02.1975 – 1 BvF 1/74 u.a. [Schwangerschaftsabbruch I] – BVerfGE 39, 1 <42>). In der Frühphase der Schwangerschaft befinden sich die meisten Frauen in einer besonderen seelischen Lage, in der es in Einzelfällen zu schweren Konfliktsituationen kommt. Diesen Schwangerschaftskonflikt erlebt die Frau als höchstpersönlichen Konflikt. Die Umstände erheblichen Gewichts, die einer Frau das Austragen eines Kindes bis zur Unzumutbarkeit erschweren können, bestimmen sich nicht nur nach objektiven Komponenten, sondern auch nach ihren physischen und psychischen Befindlichkeiten und Eigenschaften (BVerfG, Urt. v. 28.05.1993 – 2 BvF 2/90 u.a. [Schwangerschaftsabbruch II] – BVerfGE 88, 203 <265>). Die emotionalen Konflikte und persönlichen Lebensumstände, die Frauen in dieser Phase über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken lassen, berühren regelmäßig ebenfalls die Privatsphäre der Frau, unter anderem ihre Beziehung zum Vater des Kindes, ihre weitere Lebensplanung und die Beziehung zu dem in ihr wachsenden Kind.
Gerade in dieser Konfliktsituation hat die schwangere Frau, die eine anerkannte Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsucht, ein Recht darauf, von fremden Personen, die sie auf der Straße darauf ansprechen, in Ruhe gelassen zu werden.
Der Senat ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die für den Kläger in Freiburg tätige Gehsteigberaterin Frauen in unmittelbarer Nähe der von der Beigeladenen unterhaltenen Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle regelmäßig in einer Art und Weise angesprochen hat, die diese in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. […] Der Kläger muss sich das Verhalten seiner Gehsteigberaterin auch zurechnen lassen, weil diese nach einer nur kurz währenden Anfangsphase im Juli/August 2010, in der sie auf eigene Verantwortung tätig war, die Gehsteigberatung im Auftrag des Klägers ausgeübt hat. […]

Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der angesprochenen Frauen erhält dadurch zusätzliches Gewicht, dass die Ansprache mit den Worten „Sind Sie schwanger?“ in der Öffentlichkeit auf einer belebten Straße in einer für unbeteiligte Dritte wahrnehmbaren Weise erfolgte. Nach der glaubhaften Aussage der Zeugin S. haben auch andere umstehende Personen wahrgenommen, wie sie von Frau F. mit diesen Worten angesprochen wurde.
Vertieft wird der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die den angesprochenen Frauen angebotenen Faltblätter, die mit Sätzen wie „Kinder sind Gottes schönstes Geschenk. Jedes Kind hat das Recht, auf die Welt zu kommen, ob es erwünscht ist oder nicht“ oder „Bitte unternimm jetzt nichts, was DEINEM KIND WEHTUT, denn du wirst es später bereuen“ klar Position beziehen und im Ergebnis einen Schwangerschaftsabbruch nicht als moralisch vertretbar erscheinen lassen. Die Aussage „Glaube an Dich und folge Deinem Herz – Bitte behalte Dein Baby“ ist nicht nur ein eindringlicher und emotionaler Appell, sondern suggeriert auch, dass im Grunde jede Frau ihr Kind austragen will und nur durch äußere Einflüsse davon abgebracht wird. In diesem Kontext erscheinen die Hilfsangebote an die Mutter lediglich als Mittel zum Zweck, die Mutter um jeden Preis zum Austragen des Kindes zu bewegen. Das ebenfalls verteilte Faltblatt des „Lebenszentrum Wien“ geht noch darüber hinaus. Es konfrontiert die Frauen, die die Faltblätter annehmen, unvermittelt mit Bildern blutverschmierter und zerstückelter Föten und ist geeignet, einschüchternd und verstörend zu wirken. Diese Wirkung ist umso stärker, als auf der Außenseite der Faltblätter zunächst der Eindruck erweckt wird, es gehe ausschließlich um ein beratendes Hilfsangebot.
Unerheblich für das Vorliegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist, dass möglicherweise nicht alle Frauen ablehnend auf die Ansprache reagieren. Entscheidend ist angesichts der Vielzahl der betroffenen Grundrechtsträgerinnen, dass eine nicht unerhebliche Zahl von ihnen die objektiv gegebene Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch subjektiv als solche empfindet. Daher bedarf es keiner Beweiserhebung zu der Frage, ob es Frauen gibt, die dankbar für die Ansprache sind. […]

Die Auffassung des Klägers, seine Tätigkeit greife lediglich in die weniger schützenswerte Sozialsphäre der angesprochenen Frauen ein, weil die Frage des Hilfsangebots in einer Schwangerschaftssituation eher die Sozial- als die Privatsphäre der Schwangeren betreffe, geht an der Realität der von ihm in Freiburg praktizierten Form der Gehsteigberatung vorbei. Mit der Sozialsphäre ist das Ansehen des Einzelnen in der Öffentlichkeit gemeint. Sie beschreibt einen Bereich, der ohnehin von der Umwelt nicht abgeschirmt werden kann (vgl. Di Fabio, a.a.O., Art. 2 Abs. 1 Rn. 160). Wie bereits dargelegt, geht es im vorliegenden Fall nicht um das Ansehen der betroffenen Frauen in der Öffentlichkeit, sondern um einen sensiblen Bereich der engeren Lebensführung und den Bereich der Gedanken- und Gefühlswelt eines Menschen als psychischem Innenbereich. Die eigene Gedanken- und Gefühlswelt in einem persönlichen Konflikt bleibt auch dann privat, wenn sie mit einem gesellschaftlichen Konflikt zusammenhängt. Daher geht auch der Verweis des Klägers auf den Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.06.2010 (1 BvR 1745/06 [Abtreibungsgegner] – NJW 2011, 47) fehl, in dem es nicht um den Schutz der Privatsphäre schwangerer Frauen, sondern um den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eines Schwangerschaftsabbrüche vornehmenden Arztes ging.

c) Nachdem die Beklagte ihre Verfügung nicht darauf gestützt hat, lässt der Senat offen, ob eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit darüber hinaus deshalb gegeben ist, weil die vom Kläger praktizierte Form der Gehsteigberatung das Beratungskonzept des Schwangerschaftskonfliktgesetzes beeinträchtigt, welches der Erfüllung der dem Staat obliegenden Schutzpflicht für das ungeborene Leben dient (vgl. zum Schutz des Lebens als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit Wolf/Stephan/Deger, Polizeigesetz für Baden-​Württemberg, 6. Aufl., § 1 Rn. 50 m.w.N.). […]
d) Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen ist nicht durch die Grundrechte des Klägers gerechtfertigt. […]
aa) Die durch Art. 5 Abs. 1 GG / Art. 10 EMRK geschützte Meinungsfreiheit des Klägers und der von ihm beauftragten Personen gebietet es nicht, den in der Verfügung untersagten Verhaltensweisen Vorrang vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen einzuräumen.
Allerdings ist der personelle Schutzbereich der durch Art. 5 Abs. 1 GG / Art. 10 EMRK geschützten Meinungsfreiheit zugunsten des Klägers – einer juristischen Person des Privatrechts – eröffnet (vgl. BVerfG, Beschl. v. 09.10.1991 – 1 BvR 1555/88 – BVerfGE 85, 1 <11 ff.>; Beschl. v. 13.02.1996 – 1 BvR 262/91 – BVerfGE 94, 1 <7 ff.>; Schulze-​Fielitz, in: Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 5 Rn. 116) und die von der Verfügung erfassten Äußerungen und Verhaltensweisen können auch in sachlicher Hinsicht den Schutz der Meinungsfreiheit beanspruchen. […] Der von der Meinungskundgabe thematisch Betroffene muss die Meinung grundsätzlich ebenso „aushalten“ wie der Meinungslose und der Desinteressierte, wobei Kehrseite der Meinungsäußerungsfreiheit die selbstverständliche Freiheit des Einzelnen ist, von Meinungen anderer verschont zu bleiben und ihnen auszuweichen. Art. 5 Abs. 1 GG schützt auch bei Themen von besonderem öffentlichen Interesse keine Tätigkeiten, mit denen Anderen eine bestimmte Meinung aufgedrängt werden soll (BVerfG [Kammer], Beschl. v. 08.06.2010 – 1 BvR 1745/06 – a.a.O. S. 48).
Für die im Wege praktischer Konkordanz vorzunehmende Abwägung ist zunächst von Bedeutung, dass die Gehsteigberatung über eine bloße Meinungskundgabe hinausgeht. Wie auch die von der Gehsteigberaterin verwendeten Flyer zeigen, zielt sie darauf, den angesprochenen Frauen eine bestimmte Meinung aufzudrängen und sie zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen.
Von entscheidendem Gewicht ist im Rahmen der Abwägung des weiteren, dass die Gehsteigberatung ausschließlich in einem lediglich ca. 70 m langen Abschnitt der H.-Straße untersagt wurde. Diese Straße müssen die schwangeren Frauen notwendigerweise passieren, um die Beratungsstelle des Beigeladenen zu erreichen. Sie haben daher keine Möglichkeit der Gehsteigberatung auszuweichen. Dem Kläger und seinen Mitgliedern bleibt es jedoch möglich, die Gehsteigberatung im restlichen Stadtgebiet durchzuführen und seine Meinung in Freiburg an anderen Stellen kund zu tun. […]

bb) Die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Klägers gebietet es ebenfalls nicht, den in der Verfügung untersagten Verhaltensweisen Vorrang vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen einzuräumen. […] Gerät Art. 4 GG in Kollision mit einer anderen Verfassungsnorm, so ist eine Abwägung erforderlich (vgl. u.a. BVerfG, Beschl. v. 19.10.1971 – 1 BvR 387/65 – BVerfGE 32, 98 <108>; Beschl. v. 16.10.1979 – 1 BvR 697/70 u.a. – BVerfGE 52, 223 <246 f.>; BVerwG, Urt. v. 21.12.2000 – 3 C 20.00 – BVerwGE 112, 314 <318>). Die danach vorzunehmende Abwägung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der von der Gehsteigberatung betroffenen Frauen führt zu einem Überwiegen der Grundrechte letzterer. Insoweit gilt das unter aa) Ausgeführte entsprechend.

e) Das Einschreiten der Beklagten ist auch im öffentlichen Interesse geboten (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbs. PolG). Die Funktion dieser Beschränkung besteht darin, aus dem Aufgabenbereich der Polizei den Schutz bestimmter Rechtsgüter und Rechte des Einzelnen auszuscheiden, vor allem wenn er nur sich selbst gefährdet oder wenn es um den Schutz (nur) privater Rechte geht, der gegebenenfalls auf gerichtlichem Weg möglich ist (vgl. Wolf/Stephan/Deger, a.a.O., § 1 Rn. 79). Die hier mit der streitgegenständlichen Gehsteigberatung einhergehenden Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einer unbestimmten Vielzahl schwangerer Frauen sind jedoch selbst öffentlich-rechtlich relevant. Die Bedrohung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einer unbestimmten Zahl von Personen folgt zwangsläufig aus der erklärten Absicht des Klägers, mit der Gehsteigberatung möglichst viele schwangere Frauen zu erreichen. […]
Zwar steht im Ausgangspunkt die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der im Einzelfall im Rahmen der Gehsteigberatung angesprochenen Frau in Rede, so dass in erster Linie die ordentlichen Gerichte zur Gewährung von Rechtsschutz berufen sind. […] Bei den hier in Rede stehenden Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist jedoch typischerweise wirkungsvoller Rechtsschutz vor den ordentlichen Gerichten für viele der betroffenen Frauen schon deshalb nicht zu erlangen, weil sie die Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle nur einmal aufsuchen und es wegen der Einmaligkeit der Rechtsgutbeeinträchtigung am Rechtsschutzinteresse fehlt. […] Des weiteren ist der jeweils betroffenen Frau jedenfalls dann, wenn sie sich tatsächlich in einer Schwangerschaftskonfliktsituation befindet, die Rechtsverfolgung vor den ordentlichen Gerichten nicht zumutbar, weil ihr dies einen Verzicht auf die durch § 6 Abs. 2 SchKG gesetzlich gewährleistete Anonymität abverlangen würde. […]
Schließlich ist das öffentliche Interesse am polizeilichen Einschreiten auch deshalb zu bejahen, weil – angesichts der bei der aufgezeigten Sachlage eingeschränkten und wenig effektiven Rechtsschutzmöglichkeiten vor den ordentlichen Gerichten – die Staatsorgane im Hinblick darauf, dass die Grundrechte zugleich Ausdruck einer objektiven Wertordnung sind, eine objektivrechtliche Pflicht zum Schutz der grundrechtlich gesicherten Individualgüter – hier des allgemeinen Persönlichkeitsrechts – trifft (in diesem Sinne Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., D 30). Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – die Individualgüter einer unbestimmten Vielzahl von Grundrechtsträgerinnen bedroht werden (vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl., Rn. 56). […]

5. Das Verbot beachtet auch den in § 5 PolG einfachgesetzlich normierten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
a) Die Maßnahme ist geeignet, gerade die Ansprache der zu schützenden Frauen erheblich zu erschweren, auch wenn möglicherweise von den räumlichen Grenzen des Verbotsbereichs aus noch einzelne Frauen, die das Gebäude der Beratungsstelle verlassen, individualisiert und gezielt angesprochen werden können.
b) Das Verbot ist auch erforderlich. Mildere Maßnahmen in Form eines weniger weitreichenden Verbots wären weniger effektiv. Dies gilt zunächst mit Blick auf den räumlichen Umfang des Verbots. Je näher die Gehsteigberatung an die Beratungsstelle heranrückt, desto eher ist es möglich, gezielt Frauen, die die Beratungsstelle verlassen, anzusprechen. Damit wäre jedes weniger weit reichende Verbot auch dem Schutzzweck weniger dienlich. […]
c) Das Verbot ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Der Vorrang des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der betroffenen Frauen vor der Glaubens- und Meinungsfreiheit des Klägers wurde im Rahmen der Abwägung der betroffenen Grundrechte bereits begründet (3. d) aa)). […]