STREIT 1/2019

S. 41-42

EGMR, §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 BGB, Art. 10 EMRK

Zulässige Unterlassungsverfügung gegen „Gehsteigberatungen“

Die von einem Arzt erwirkte Unterlassungsanordnung gegen einen Abtreibungsgegner greift nicht unzulässig in dessen Recht auf Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK ein, wenn durch Flugblätter der Eindruck erweckt wurde, der Arzt begehe, indem er Abtreibungen vornehme, strafbare Handlungen, wenn der Arzt als Einzelner angegriffen und gewissermaßen an den Pranger gestellt wurde und wenn durch eine direkte Ansprache der die Praxis aufsuchenden Patientinnen in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin eingegriffen wird.
(Leitsatz der Redaktion)

Urteil des EGMR vom 20.09.2018, 9765/10 (Annen/Deutschland – Nr. 4)

Aus den Gründen:
Am 12. und 13. April 2005 verteilte der Beschwerdeführer Flugblätter in der Nähe der Arztpraxis von Dr. Y., in der dieser Abtreibungen vornahm. […] Der Beschwerdeführer sprach auch Passanten und mutmaßliche Patientinnen des Arztes an und versuchte, sie in Gespräche über Abtreibungen zu verwickeln.
Dr. Y. stellte einen Antrag auf Erlass einer Unterlassungsanordnung gegen den Beschwerdeführer, dem das Landgericht am 25. Oktober 2005 stattgab. Es verurteilte den Beschwerdeführer, es zu unterlassen, Passanten in unmittelbarer Nähe der Arztpraxis in Gespräche zu verwickeln und die vom Kläger durchgeführten Abtreibungen als rechtswidrig zu bezeichnen, um so Patientinnen zu irritieren und sie von dem Besuch der Praxis von Dr. Y. abzuhalten […].
Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht verwiesen auf eine vorangegangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs, mit der er eine Unterlassungsanordnung wegen ähnlichen Verhaltens des Beschwerdeführers bestätigt hatte. […] Am 29. Mai 2007 wies der Bundesgerichtshof einen Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers ab, weil seine beabsichtigte Revision keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Am 20. Juli 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 1670/07). […]
Am 7. Dezember 2004 bestätigte der Bundesgerichtshof zudem eine Unterlassungsanordnung, mit der dem Beschwerdeführer untersagt wurde, Patientinnen sowie Passanten innerhalb eines bestimmtes Gebietes vor einer Arztpraxis anzusprechen und darauf hinzuweisen, dass in der Praxis Abtreibungen vorgenommen würden (VI ZR 308/03). Die Tätigkeit des Arztes sei legal und genieße den Schutz des verfassungsmäßigen Rechts auf Berufsfreiheit. Der Bundesgerichtshof betonte die wichtige Rolle, die der Gesetzgeber Gynäkologen im Zusammenhang mit dem Schutz ungeborenen Lebens und dem Schutz der Gesundheit der betroffenen Frauen gegeben habe. Es sei erforderlich, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin nicht durch das Dazwischentreten außenstehender Dritter belastet werde. Das Vorgehen des Beschwerdeführers stelle eine nicht hinzunehmende Behinderung der Tätigkeit des Klägers dar und habe diesen grundlos als Einzelperson herausgegriffen. Daher kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass unter den Umständen dieses konkreten Falls die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers hinter die Persönlichkeitsrechte des Arztes zurückzutreten habe. Eine gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

Behauptete Verletzung von Artikel 10 der Konvention
[…] Zunächst stellt der Gerichtshof fest – und dies ist zwischen den Parteien unstrittig –, dass die Unterlassungsanordnung in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingriff, eine Rechtsgrundlage hatte und das rechtmäßige Ziel des Schutzes der Rechte und des guten Rufs von Dr. Y. sowie der Rechte von Patientinnen auf ärztliche Beratung verfolgte. Es bleibt daher noch festzustellen, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war und ob die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien stand. […]
Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Unterlassungsanordnung im Wesentlichen mit drei Punkten rechtfertigten, die einen Eingriff in das Privat- und Berufsleben des Arztes dargestellt hätten und zusammengenommen über das hinausgegangen seien, was Dr. Y. hinnehmen müsse. Erstens habe der Beschwerdeführer Dr. Y. herabgewürdigt, indem er den Eindruck erweckt habe, dass dieser Straftaten begangen habe; zweitens habe er Dr. Y. aus allen Ärzten, die Abtreibungen vorgenommen hätten, als Einzelperson herausgegriffen und damit eine „Prangerwirkung“ erzeugt; schließlich habe der Beschwerdeführer in das besonders geschützte Vertrauensverhältnis zwischen Dr. Y. und seinen Patientinnen eingegriffen.
In Bezug auf den ersten Aspekt erinnert der Gerichtshof an seine Feststellung in einer vorangegangenen Entscheidung (siehe A. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 2373/07, 2396/07, 30. März 2010), dass
„[...] das deutsche Recht in § 218a StGB eine feine Unterscheidung trifft zwischen Schwangerschaftsabbrüchen, die zwar als „rechtswidrig“ gelten, aber von der Strafandrohung ausgenommen sind, und solchen, die als gerechtfertigt und somit „rechtmäßig“ angesehen werden. Daraus folgt, dass die Äußerung des Beschwerdeführers, der Arzt führe u. a. „rechtswidrige Abtreibungen“ durch, aus streng juristischer Sicht zutreffend war. Allerdings erkennt der Gerichtshof im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer sich mit seinen Äußerungen vorrangig an juristische Laien gewandt hat, an, dass die innerstaatlichen Gerichte auch die Sichtweise einer vernünftigen, durchschnittlich einsichtigen Person berücksichtigt haben, die davon ausgehen würde, dass die „rechtswidrigen“ Abtreibungen im engeren Sinne verboten und strafbar seien.“
Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das Urteil des Gerichtshof in der Rechtssache A. (a. a. O.) in Frage gestellt, denn in jenem Fall enthielt das betreffende Flugblatt eine hinreichend klare Erläuterung, dass die Abtreibungen nicht strafbar seien. Der Gerichtshof stimmt daher mit der Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte in Bezug auf den ersten Aspekt überein.[…]
Was die Frage angeht, ob der Beschwerdeführer in das Vertrauensverhältnis zwischen Dr. Y. und seinen Patientinnen eingegriffen hat, erinnert der Gerichtshof daran, dass er in einer vorangegangenen Sache bereits akzeptiert hat, dass eine Unterlassungsanordnung insbesondere darauf gestützt wurde, dass der Beschwerdeführer die Patientinnen des Arztes in unmittelbarer Nähe seiner Praxis ansprach und damit die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit erheblich störte (siehe A. ./. Deutschland (Entsch.), a. a. O.). Der Gerichtshof stellt fest, dass diese „Gehsteigberatung“ durch den Beschwerdeführer, die das Landgericht als „Spießrutenlauf“ beschrieb, nicht nur in die legale berufliche Tätigkeit von Dr. Y. eingriff, sondern es den Patientinnen auch erschwerte, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Gerichtshof sieht daher keine Veranlassung, in der vorliegenden Rechtssache von seinen früheren Feststellungen abzuweichen. […]
Ferner stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nicht wegen Verleumdung strafrechtlich verurteilt oder zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt wurde (im Gegensatz dazu Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark [GK], Individualbeschwerde Nr. 49017/99, Rdnr. 93, ECHR 2004-XI), sondern lediglich davon abgehalten wurde, Passanten in unmittelbarer Nähe der Praxis von Dr. Y. anzusprechen und die vom Kläger vorgenommenen Abtreibungen als rechtswidrig zu bezeichnen. Daher war die Unterlassungsanordnung in räumlicher Hinsicht und von ihrem Umfang her beschränkt. Hinsichtlich ihres Umfangs stellt der Gerichtshof fest, dass dem Beschwerdeführer nicht per se verboten wurde, sich gegen Abtreibungen zu engagieren, Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, zu kritisieren oder Flugblätter zu verteilen. Insgesamt gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Intensität des Eingriffs in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers relativ gering und „in Bezug auf die verfolgten rechtmäßigen Ziele verhältnismäßig war“. […]
Folglich ist Artikel 10 der Konvention nicht verletzt worden. […]