STREIT 4/2018
S. 169-172
Qualitätssicherung in Kindschaftsverfahren
Stellungnahme der Kinderkommission des Deutschen Bundestages zum Thema „Qualitätssicherung in Kindschaftsverfahren: Qualifizierung von Familienrichterinnen und -richtern, Gutachtern und Verfahrensbeiständen“ vom 09.11.2018, Kommissionsdrucksache 19/04
Ausgangspunkt
Im Jahr 2017 gab es über 340.000 Kindschaftsverfahren1
vor deutschen Familiengerichten. In der Familiengerichtsbarkeit werden Entscheidungen getroffen, die oft erhebliche Auswirkungen auf die Biografien von Kindern und ihre Familien haben. Häufig handelt es sich um hochkonflikthafte Sorge- und Umgangsstreitigkeiten sowie komplexe Kinderschutzverfahren.
Familiengerichtliche Verfahren und Entscheidungen sollen sich am Primat des Kindeswohls und der Verhältnismäßigkeit orientieren. Doch werden die Rechte von Kindern nicht immer ausreichend gewahrt. Das staatliche Wächteramt erfordert einerseits, jedes Kind vor Gefährdung und Schaden zu schützen, und andererseits garantiert die Verfassung, die Integrität und das Erziehungsrecht von Familien zu achten. Diese Gratwanderung sowie die meist große Emotionalität, Hochstrittigkeit, Belastung, Vulnerabilität und oft eingeschränkte Ressourcenstärke vieler Betroffener stellen höchste Anforderungen an die Qualifikationen aller beteiligten Professionen. Diese müssen nicht nur die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, das Familienrecht, Familienverfahrensrecht, Kinder- und Jugendhilferecht und die Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention beherrschen, sondern auch über Einfühlungsvermögen und Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen verfügen. Ebenso wichtig sind grundlegende Kenntnisse in Psychologie und Anhörungstechniken, gerade wenn es sich um kleine Kinder handelt, sowie ein klares Aufgaben- und Rollenverständnis in Abgrenzung zur anderen Profession.
In der 18. Legislaturperiode wurde eine Reform des Sachverständigenrechts verabschiedet. Sie schreibt unter anderem vor, dass nur noch bestimmte Berufsgruppen als Sachverständige im Familienrecht zugelassen sind. Zudem wurden Mindeststandards für Gutachten entwickelt, auf die die Gesetzesbegründung verweist. Dies können allerdings nur erste Schritte im Bemühen um eine umfassende Qualifizierung aller Akteure im Kontext der Familiengerichtsbarkeit sein.
Wichtig ist, eine offene Debatte über die Herausforderungen in der Praxis der Familiengerichte zu führen und über die besonderen Anforderungen an die Qualifikationen aller beteiligten professionellen Akteure zu diskutieren. Dazu möchte die Kinderkommission beitragen.
Bearbeitung
Die Kinderkommission hat sich in drei Expertenanhörungen mit den Herausforderungen beschäftigt, die sich den genannten Professionen stellen. Zusätzlich wurden betroffene Kinder und Jugendliche zu ihren Erfahrungen befragt.
Folgende Sachverständige wurden angehört und um schriftliche Stellungnahmen gebeten: Joachim Lüblinghoff, stv. Vorsitzender des Deutschen Richterbunds, Vors. Richter am OLG Hamm; Prof. Dr. Ludwig Salgo, Goethe-Universität Frankfurt a. M.; Carola Wilcke, Verfahrensbeistand, Görlitz; Dr. Anja Kannegießer, Vorsitzende der Sektion Rechtspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen; Prof. Dr. habil. Friedhelm Meier, Psychologischer Psychotherapeut, Dortmund; Annemarie Graf-van Kesteren, Autorin der Studie „Kindgerechte Justiz“, Tübingen; Claudia Kittel, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin. Außerdem führte die Vorsitzende in Düsseldorf 15 Kurzinterviews mit Kindern und Jugendlichen über ihre Erfahrungen mit Familiengerichten. Fünf Tonaufnahmen dieser Interviews wurden zu Beginn der 4. Sitzung der Kinderkommission in den Sitzungsraum eingespielt.
1. Von den Experten benannter Handlungsbedarf und Verbesserungspotentiale
Die Kinderkommission musste zur Kenntnis nehmen, dass die angehörten Experten Mängel bei der Qualifikation, dem Aufgabenverständnis und den Verfahrensabläufen benannten. Auch wurden strukturelle Defizite festgestellt.
1.1. Gruppe der Richter und Richterinnen
Anforderungen
Die Amtsermittlung des Kindeswohls ist für den einzelnen Fall oft sehr aufwändig.
Die Anhörungen von Kindern, insbesondere von kleinen Kindern, setzen Fachkunde und Einfühlungsvermögen voraus. Auch sollten geeignete Räumlichkeiten genutzt werden.
Neben fundierten Kenntnissen des Kinder- und Jugendhilferechts und weiterer sozialrechtlicher Unterstützungsmöglichkeiten muss das Gericht die Angebote der regionalen Jugendhilfe kennen und in ihrer Passgenauigkeit im Einzelfall bewerten können (L. Salgo).
Das Gericht muss für seine eigene Beantwortung der rechtlichen Fragestellung die hierfür relevanten psychologischen Fragestellungen und den oder die passenden Sachverständige(n) auswählen.
Die Experten berichteten auch von Nichteinhaltung der Verfahrensregeln. So wurden Kinder nicht angehört oder Gutachter bzw. Verfahrensbeistände nicht bestellt. Auch die Art und Weise der Bestellung durch das Gericht wurde kritisiert, da sie keine uneingeschränkte Unabhängigkeit der bestellten Gutachter und Verfahrensbeistände garantiert.
Ausbildung und Eingangsvoraussetzungen
Familienrecht wird in der Ausbildung der Juristen nicht oder nur in geringem Maße vermittelt, und zwar weder im Studium noch im Referendariat (L. Salgo).
Die formalen Anforderungen wurden im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung reduziert, so dass anstelle von drei Jahren nunmehr ein einziges Jahr Berufserfahrung für eine Bestellung zum Familienrichter ausreicht.
Weitere formale Voraussetzungen für die Eingangsbestellung, wie sie etwa für das Insolvenzrecht gelten, bestehen nicht.
Die Zahl der offenen Stellen überschreitet die Nachfrage (J. Lüblinghoff).
1.2. Gruppe der psychologischen Sachverständigen bzw. Gutachter und Gutachterinnen
Anforderungen
Gutachten können eine hohe Bedeutung für die richterliche Entscheidung erlangen, deshalb sind sowohl die passende richterliche Fragestellung für das Gutachten als auch seine Qualität zentral; dies erfordert eine bestmögliche Qualifikation der Gutachter und ein bestmögliches Handwerkszeug.
Ausbildung
Es gibt zu wenige qualifizierte Gutachter (A. Kannegießer).
An den 50 universitären Psychologischen Instituten in Deutschland gibt es keine Professur für Rechtspsychologie. Daher fehlt es auch an Forschung etwa zur Wirkung von Gutachten.
Verfahren
Der Richter oder die Richterin bestellt den/die Sachverständigen nach eigenem Ermessen. Seit der Reform des Sachverständigenrechts müssen Beteiligte dazu angehört werden. Eine Beschwerde gegen einen Gutachter oder eine Gutachterin ist aber erst nach Abschluss des Verfahrens möglich.
Einige Experten nannten außerdem Mängel in der Abfassung von Gutachten, so werde beispielsweise nicht immer die Tatsachenbeschreibung von ihrer Interpretation getrennt.
1.3. Gruppe der Verfahrensbeistände
Die Einführung der Verfahrensbeistände als „Anwälte des Kindes“ wurde allgemein begrüßt. Dennoch wurden Verbesserungspotentiale genannt:
Die gesetzliche Anforderung sei lediglich „geeignete Person“. Dies sei aber zu unspezifisch.
Verfahrensbeistände benötigten Kenntnisse in Entwicklungspsychologie und Pädagogik sowie in der Kommunikation mit Kindern und ihren Eltern, ebenso benötigten sie profunde Kenntnisse des Familienrechts und seiner verfassungsrechtlichen Voraussetzungen sowie des Kinder- und Jugendhilferechts.
So wurde beispielsweise bemängelt, dass Verfahrensbeistände ihre Aufgaben diffus wahrnähmen, ihre Rolle nicht klar von anderen professionellen Akteuren abgrenzten, z. B. zur psychologischen Begutachtung, und nicht immer zwischen Kindeswillen und Kindeswohl unterscheiden könnten (C. Wilcke).
Verfahrensbeistände müssten gegenüber den anderen Verfahrensbeteiligten strikte Neutralität wahren und ihre Aufgabe, Beistand des Kindes zu sein, von einer Mediatoren- oder Beratungsfunktion trennen, die sie nicht haben (L. Salgo).
2. Handlungsempfehlungen
2.1. Richterinnen und Richter
Die Kinderkommission fordert eine verbindliche Qualifizierung von Familienrichterinnen und -richtern. Es müssen sowohl Eingangsvoraussetzungen für Familienrichterinnen und -richter (wie etwa bei Insolvenzrichtern) etabliert als auch verbindliche Fortbildungspflichten eingeführt werden. Für die Teilnahme an den Fortbildungen sind die Richterinnen und Richter zeitlich freizustellen.
In der Qualifizierung sollen nicht nur das Familienrecht, das Familienverfahrensrecht sowie das Kinder- und Jugendhilferecht, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und die UN-Kinderrechtskonvention vermittelt werden. Familienrichterinnen und Familienrichter brauchen Querschnittskompetenzen im kommunikativen und analytisch-diagnostischen Bereich. Darüber hinaus sind weitere Fachkunde unter anderem zum Thema Bindungs- und Entwicklungspsychologie, Kindeswohlgefährdung und sexualisierte Gewalt erforderlich. Entsprechend soll das Familienrecht in der universitären Ausbildung gestärkt werden.
2.2. Gutachterinnen und Gutachter
Die Kinderkommission fordert die Weiterführung des Prozesses zur Qualifizierung von psychologischen Sachverständigen. Dazu gehören die verpflichtende Fort- und Weiterbildung von Sachverständigen und der Ausbau der dazugehörigen Strukturen. Wichtig ist darüber hinaus, die Rechtspsychologie an den Universitäten zu stärken, um die Qualitätssicherung über Forschung in dem Bereich voranzutreiben. Zitat Dr. Kannegießer: „Gutachten können nur so gut sein, wie Gutachter für ihre Empfehlungen auf fundierte Forschungsergebnisse zurückgreifen können.“
An die Erstellung der Gutachten sind besondere Anforderungen zu stellen, die die besondere Verletzlichkeit des Kindes und das Machtgefälle zwischen der zu begutachtenden Person / Familie und dem Gutachter berücksichtigen.
Bei der geplanten Novellierung des Psychotherapeutengesetzes sollte deshalb nicht länger davon ausgegangen werden, dass Psychotherapeuten grundsätzlich die Befähigung zur Erstellung psychologischer Gutachten im Familienrecht besitzen. Denn Gutachterinnen und Gutachter brauchen vertiefte Kenntnisse über die Rechte aller Beteiligten und des Familienrechts.
2.3. Verfahrensbeistände
Die Kinderkommission fordert verbindliche Qualitätsstandards für Verfahrensbeistände. Diese sollen von der Bundesregierung zusammen mit den Berufsverbänden entwickelt werden. Konkrete Kriterien sind als Voraussetzung für die Bestellung eines Verfahrensbeistandes gesetzlich festzulegen, u. a. der Nachweis einer Aus- oder Fortbildung zum Verfahrensbeistand, der Nachweis eines geeigneten Hauptberufs bzw. eine langjährige Berufserfahrung an einem Familiengericht. Dazu gehören auch die klare Kompetenzabgrenzung zu anderen Berufsgruppen und gute Kenntnisse über die Rechte aller Beteiligten, über das Kinder- und Jugendhilferecht, Familienrecht, Familienverfahrensrecht und die UN-Kinderrechtskonvention. Verfahrensbeistände sollten Rechtsberatung in Anspruch nehmen können, wenn sie dies für erforderlich halten. Wichtig ist zudem, dass das Bestellungsverfahren der Verfahrensbeistände deren Unabhängigkeit garantiert. Es muss sichergestellt werden, dass die Auswahl der Verfahrensbeistände transparent und unter Einbeziehung der betroffenen Kinder erfolgt. Diese sollten ihren Verfahrensbeistand ablehnen können.
Die Kinderkommission hält vertiefte Forschung dazu für notwendig, wie Kinder selbst ihre Interessenvertretung vor Gericht erleben. Ebenso ist zu prüfen, ob Kinder einen Anspruch auf einen Verfahrensbeistand und Interessenvertretung auch in solchen Verfahren haben sollten, in denen die Sorgeberechtigten in stationäre Hilfen zur Erziehung einwilligen.
2.4. Verfahren aus Sicht von Kindern und Jugendlichen
Die Kinderkommission fordert verbindliche Standards bei der Anhörung von Kindern. Die Rechte der Kinder müssen in den Verfahren berücksichtigt werden.
Die von der Vorsitzenden befragten Kinder und Jugendlichen sowie die Ergebnisse der Untersuchung des Deutschen Instituts für Menschenrechte (Kindgerechte Justiz, 2015) vermitteln den starken Wunsch der Betroffenen, deutlich mehr als bisher ernst genommen, beteiligt und auch während des Verfahrens transparent informiert zu werden. Die Kinderkommission unterstützt dies.
Die befragten Kinder vermissen die Transparenz des sie betreffenden Verfahrens. Sie verstehen nicht, warum etwas geschieht. Alle beteiligten Akteure sind dazu angehalten, Kindern und Jugendlichen gegenüber transparent zu agieren und das Verfahren kindgerecht zu erklären. Die Würde des Kindes ist zu jedem Zeitpunkt zu wahren und zu schützen.
Kinder brauchen einen geschützten Raum für die Beteiligung im Verfahren. So kann Überforderung vermieden werden.
Beschwerdemöglichkeit während des Verfahrens: Kinder und Jugendliche müssen während des Verfahrens nachfragen und sich beschweren können. Dabei sollten sie von einer unabhängigen Ombuds- oder Beschwerdestelle beraten werden können, die während des Verfahrens als Anlaufstelle dient.
Kinder und Jugendliche möchten auf eine Rechtsberatung zurückgreifen können. Diese sollte unabhängig, vertraulich und niedrigschwellig sein. (Der Verfahrensbeistand eignet sich dafür nur eingeschränkt, da er vom Gericht nur für das jeweilige Verfahren bestellt ist und dem Gericht gegenüber alle relevanten Informationen offen zu legen hat. Ist das Verfahren beendet, endet auch der Auftrag des Verfahrensbeistandes. Das bedeutet, dass dieser dem Kind den Ausgang des Verfahrens nicht erklärt.)
Kinder und Jugendliche möchten den vom Gericht bestellten Verfahrensbeistand ablehnen oder wechseln können.
3. Zusammenfassung
Die Kinderkommission fordert den Bundestag, die Bundesregierung und die Länder auf, in ihren Zuständigkeitsbereichen
gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen einen Ratgeber für familienrechtliche Verfahren zu erarbeiten, der sich an Kinder und Jugendliche richtet;
eine Handreichung zu Kindesanhörungen in Familiengerichten zu erarbeiten, damit Kindesanhörungen kindgerechter gestaltet werden;
die Qualität der Arbeit und die verbindliche Qualifizierung der verschiedenen Akteure (Familienrichter/-innen, Verfahrensbeistände, Sachverständige und weitere Professionen) in den familiengerichtlichen Verfahren voranzutreiben;
Eingangsvoraussetzungen für Familienrichter/-innen entsprechend der Insolvenzrichter festzulegen;
die Fortbildungspflicht für Familienrichter/-innen einzuführen und sie dafür zeitlich freizustellen;
die Ausbildungs- und Fortbildungsstrukturen für die verschiedenen Akteure in familiengerichtlichen Verfahren entsprechend zu stärken;
Best-Practice-Modelle für Qualifizierungsmaßnahmen innerhalb der Berufsgruppen zu fördern, z. B. Peer-Reviews der Gutachter;
die Forschung voranzutreiben sowie die Einrichtung von Lehrstühlen im Fach Familienrecht und im Fach Rechtspsychologie an Universitäten zu fördern;
die organisierte Interessensvertretung von Gruppen zu unterstützen, die aufgrund struktureller Defizite Schwierigkeiten haben, ihre Interessen gesellschaftlich zu vermitteln und durchzusetzen, z. B. Kinder- und Jugendliche in Obhut der Jugendhilfe, Herkunftseltern, denen das Sorgerecht entzogen wurde und/oder deren Kinder fremduntergebracht sind;
Strukturen für Beschwerdemöglichkeiten und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen sowie Herkunftseltern und Pflegeeltern zu schaffen, z. B. unabhängige Ombudsstellen in den Kommunen;
die Qualität des Rechts systematisch weiterzuentwickeln, z. B. durch den Austausch mit Betroffenen und Beteiligten. Im Rahmen von strukturierten Feedbackformaten, wissenschaftlichen Studien o. ä. sollten Richterinnen und Richter die Möglichkeit erhalten zu erfahren, was mittel- und langfristig aus „ihren Entscheidungen“ geworden ist und ob sich ihre Annahmen bestätigt haben. Denn gutes Recht bedarf der ständigen Pflege, um dem friedlichen Zusammenleben in unserer freiheitlichen Gesellschaft verlässlich zu dienen.
gez. Bettina M. Wiesmann, MdB
- Familiengerichtliche Verfahren ohne Scheidung und Ehesachen an Amtsgerichten und Oberlandesgerichten. ↩