STREIT 4/2021

S. 147-151

Schutz vor digitaler Gewalt – Bestandsaufnahme und Ausblick

Die Verfasserin leitet die Rechtsabteilung der NGO HateAid, https://hateaid.org/. Siehe dort auch ihre Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Digitale Agenda am 24. März 2021 zu digitaler Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

Maßnahmen zur Bekämpfung digitaler Gewalt haben das politische Geschehen in den vergangenen zwei Jahren maßgeblich mitbestimmt. Man kann sagen: Der Gesetzgeber hat die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von „Hass im Netz“ und anderen Ausprägungen digitaler Gewalt in den Grundzügen erkannt. Auch Erkenntnisse über die enge Verknüpfung mit dem Rechtsextremismus wurden hinreichend gewürdigt. Dies führte zur Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes vor sogenannten Feindeslisten und zur effektiveren Bekämpfung von Cyberstalking, die allesamt kürzlich in Kraft traten.
Aus Sicht der Betroffenen von digitaler Gewalt sind all diese Maßnahmen begrüßenswert. Und dennoch muss sich der Gesetzgeber nicht unerhebliche Versäumnisse vorwerfen lassen.

Evidenz schaffen für die Betroffenheit von Frauen

So wurde es weitgehend versäumt, die besondere Betroffenheit von Frauen zu adressieren, die sich mittlerweile in diversen Studien abzeichnet und dem Gesetzgeber nicht entgangen sein kann. Immerhin wurde erst im Frühjahr 2021 eine rege mediale Debatte über die bessere statistische Erfassung von Frauenhass im Netz z.B. über die Kriminalstatistiken geführt, die bis in die höchsten Regierungskreise reichte. Trotzdem spiegelt sie sich im Gesetz nach wie vor kaum wider. Lediglich bei der neu geschaffenen Strafbarkeit der Bedrohung mit einer rechtswidrigen Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§ 241 Abs. 1 StGB), also von Vergewaltigungsdrohungen, und der Umgestaltung der Nachstellung durch Einbeziehung der wiederholten Verbreitung von Abbildungen einer Person (§ 238 Abs. 6 StGB), der einige Formen der bildbasierten sexualisieren Gewalt umfassen wird, sind kaum frauenspezifische Verbesserungen festzustellen. Im Fall des neu geschaffenen Straftatbestandes der verhetzenden Beleidigung (§ 192a StGB), der u.a. die Beschimpfung anderer wegen ihrer sexuellen Orientierung durch Verbreiten von Inhalten gesondert unter Strafe stellt, wurde das Merkmal Geschlecht beinahe mutwillig außenvorgelassen.
Aus Sicht der Verfasserin sollte diese Debatte über die Erfassung frauenfeindlicher Straftaten im Netz dringend intensiv weitergeführt werden, um Evidenz für handfeste Maßnahmen zu schaffen und Bedarfe abzuleiten. Denn es besteht aller Anlass zur Besorgnis darüber, dass digitale Gewalt gegen Frauen längst Ausmaße angenommen hat, die ein solches erforderlich machen. Seit der Gründung wurden bei HateAid, welche Beratung und Prozesskostenfinanzierung für Betroffene digitaler Gewalt anbietet, mehr als 1400 Menschen beraten, wovon 62 % als Frauen gelesen werden. Frauen sind im Beratungsalltag von HateAid nicht nur die größte, sondern auch die mit am schwersten von digitaler Gewalt betroffene Gruppe. In ca. 2/3 der Fälle digitaler Gewalt, mit denen sich Frauen an HateAid wendeten, richtete sich diese allein gegen ihr Geschlecht oder ihr Aussehen, meistens sind die Angriffe sexualisiert.
Hier zeichnet sich ein struktureller Unterschied zu der digitalen Gewalt ab, die zumindest heterosexuelle weiße Männer erfahren. Denn es gibt kaum je einen Sachbezug, dafür überdurchschnittlich häufig Vergewaltigungs- und Verstümmelungsfantasien und sexualisierte Beleidigungen. Männer hingegen erleben auch digitale Gewalt – jedoch handelt es sich hier häufiger um Sachkritik z.B. an politischen Ansichten. Diese Beobachtung deckt sich auch mit einer jüngeren Umfrage unter deutschen Internetnutzenden.1 Diese ergab, dass bereits jede dritte Frau zwischen 18 und 34 Jahren im Netz sexuell belästigt wurde. Bei den 18 bis 34-jährigen Männern war es nur jeder zehnte. Eine Studie von Plan International unter jungen Frauen und Mädchen kam zu ähnlich erschreckenden Ergebnissen:2 70 % haben bereits digitale Gewalt erlebt, 55 % gaben an, schon im Netz sexuell belästigt worden zu sein. Verschiedene Studien belegen, dass die Betroffenheit unter jungen Erwachsenen stets am höchsten ist. Man kann sagen, dass digitale Gewalt für junge Menschen längst Alltag ist. Intersektionalität spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle: Eine Klima- oder Tierschutzaktivistin, eine Journalistin, die zugleich PoC ist, eine Lokalpolitikerin, die sich zu Migration äußert, oder eine Frau, die sich zu feministischen Themen äußert, wird mit nahezu an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Netz dafür angegriffen und im schlimmsten Fall mundtot gemacht.
Dass eine bessere statistische Erfassung frauenfeindlich motivierter Delikte im Netz stärkeren Handlungsdruck nach sich ziehen würde, lehrt die Erfahrung aus dem Bereich des Rechtsextremismus. Zweifelsohne wird die Erfassung rechtsextremistisch motivierter Hasspostings im Netz in der Statistik des Bundeskriminalamts, die im Jahr 2019 einen Anteil von 73 % ergab, die genannten Gesetzespakete begünstigt haben. Die Verfasserin ist aus eigener Anschauung davon überzeugt, dass eine solche Evidenz auch in Bezug auf frauenfeindlich motivierte Hasskriminalität im Netz leicht herzustellen ist.

Rechtsdurchsetzung von Beleidigungsdelikten fördern

Ebenfalls weitgehend außer Acht gelassen wurde die dringend notwendige Förderung der Rechtsdurchsetzung im Netz, vor allem im Hinblick auf die Verfolgung der Beleidigungsdelikte (§ 185 ff. StGB). Dies gilt für das Straf- und Zivilrecht gleichermaßen.
Betroffene, die Opfer von Beleidigungsdelikten im Netz wurden, fühlen sich nach wie vor alleingelassen – von den Diensteanbietern, die zu oft untätig bleiben und unerreichbar scheinen, aber auch von staatlichen Institutionen. Diese blieben nämlich auch viele Jahre untätig und waren nicht willens oder in der Lage, Betroffenen Schutz zu bieten. Betroffene wurden bei der Anzeigeerstattung nicht ernstgenommen, manchmal abgewiesen oder erlebten gar victimshaming. Kam es zu einem Ermittlungsverfahren, konnten Täter*innen nicht ermittelt werden, Ermittlungsansätze wie z.B. Anfragen bei Diensteanbietern wurden „wegen mangelnder Erfolgsaussichten“ nicht ausgeschöpft, Verfahren gemäß § 374 StPO auf den Privatklageweg verwiesen oder wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Besonders besorgniserregend hierbei sollte nicht nur für Politik und Justiz, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt sein: Mit der Frustration hierüber gehen nicht nur auf Seiten der Täter*innen sondern auch auf Seiten der Opfer grundlegende Zweifel an der Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats und Funktionsfähigkeit staatlicher Institutionen im Netz einher. Folge ist häufig eine Apathie und seltsame Akzeptanz der Zustände „online“, was letztendlich zu einem weiteren Rückgang der Strafanzeigen führt. Ein Rückgang der Strafverfolgung bedeutet zugleich, dass die Fallzahlen gering bleiben und die Justiz die wenigen angezeigten Fälle nicht nur als bedauerliche Einzelfälle deklariert, sondern auch kaum mit ihnen in Berührung kommt. Rechtsfortbildung bleibt somit ebenso aus wie eine Abschreckung der Täter*innen.
Gerade im Fall von Frauen, die überdurchschnittlich häufig sexualisierten Beleidigungen und Inhalten ausgesetzt sind, ist dies bedenklich. Es ist davon auszugehen, dass das Dunkelfeld in Bezug auf diese Delikte groß ist. Aus Sicht der betroffenen Frauen muss man sich unter der Prämisse latent mangelnder Strafverfolgung nämlich fragen: Möchten Frauen wirklich die Vergewaltigungsandrohung oder Verunglimpfung ihres Aussehens mit dem männlichen Polizeibeamten auf dem Revier um die Ecke besprechen, wenn es nichts bringt? Möchten sie wirklich ihre Privatanschrift zur Akte reichen, damit der bisher anonyme Täter oder zuweilen auch die Täterin danach weiß, wo sie wohnen, wenn das Verfahren sowieso eingestellt wird?
Etwas anderes bleibt den Frauen kaum, denn in den meisten Bundesländern kann man über eine Onlinewache, sofern vorhanden, nicht einmal einen Screenshot hochladen und Zeug*innenschutz, den § 68 StPO grundsätzlich ermöglicht, ist auf den meisten Polizeirevieren ein Fremdwort. Hinzu tritt, dass die §§ 185 ff. StGB allesamt absolute Antragsdelikte sind und daher einen schriftlichen Strafantrag der*des Verletzten erfordern.
Alldem liegt die überholte Auffassung zugrunde, dass die Verfolgung von geschlechtsspezifischen und sexualisierten Beleidigungen Privatsache ist. Dies mag gerade noch vertretbar sein, wenn es um einen Nachbarschaftsstreit geht. Nicht jedoch, unter den Bedingungen sozialer Netzwerke. Denn es bedeutet in der überwiegenden Zahl der Fälle, dass die Frau (bewusst) anonym agierenden Täter*innen gegenübersteht, die fraglichen Inhalte stets einer unbestimmbaren Anzahl von Personen angezeigt werden und eine zeitnahe und dauerhafte Entfernung unmöglich ist. Spätestens seit man um die gesamtgesellschaftlichen Folgen von digitaler Gewalt weiß, ist es auch kaum mehr vertretbar, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung abzulehnen. Denn die Wirkung derartiger Inhalte erstreckt sich auch auf die Mitlesenden. Bereits rund die Hälfte der Internetnutzenden bekennt sich seltener zu ihrer politischen Meinung und beteiligt sich seltener an politischen Diskussionen im Netz.3 Unter ihnen sind mehr Frauen als Männer.
Es wäre daher ohnehin wünschenswert, den Begriff des öffentlichen Interesses zu vereinheitlichen. Ein Versuch findet sich bereits in Nr. 86 Abs. 2 der RiStBV. Diese Verwaltungsvorschrift gibt einen Anhaltspunkt für den Bereich der Hasskriminalität, wonach das öffentliche Interesse stets dann zu bejahen sein soll, wenn der Tat „menschenverachtende Beweggründe“ zugrundeliegenden. Auch wenn es nicht streitig sein sollte, dass frauenfeindlich hierunter zu subsumieren ist, entspricht dies nach der Erfahrung der Verfasserin leider nicht der gängigen Praxis der Strafverfolgung. Hier müssen u.a. auch Fortbildungsangebote der Justiz ansetzen, die glücklicherweise bereits anlaufen.
Um den Beleidigungsdelikten häufiger überhaupt zur Anzeige zu verhelfen und somit auf Seiten der Strafverfolgung einen Handlungsdruck zu generieren, sollten die §§ 185 ff. aus dem Katalog der Privatklagedelikte (§ 374 Abs. 1 Nr. 2 StPO) ausgenommen werden, wenn diese öffentlich oder durch das Verbreiten von Schriften begangen werden. Außerdem sollten die §§ 185 ff. StGB künftig als relative Antragsdelikte ausgestaltet werden, damit die Möglichkeit besteht, auch ohne persönlichen, aktenkundigen Strafantrag der Verletzten Strafverfolgung aufzunehmen. Dies gilt im Übrigen auch für den § 33 KUG, dem im Bereich der digitalen Gewalt eine hohe Relevanz zukommt und der kaum verfolgt wird.

Zeug*innenschutz

Ebenfalls jüngst reformiert wurde der Zeug*innenschutz, d.h. der Schutz davor, bei einer Vernehmung persönliche Informationen preiszugeben, die dann Teil der Ermittlungsakte werden und u.a. im Wege der Akteneinsicht bekannt werden können (§ 68 StPO). Durch die Reform wird u.a. im Wortlaut deutlich gemacht, dass unter bestimmten Umständen auch eine c/o Anschrift, z.B. vom Arbeitgeber oder einer NGO, angegeben werden kann. Die Reform geht jedoch nicht weit genug. Aus dem Gesichtspunkt des Zeug*innenschutzes ist es unbedingt erforderlich, dass in allen Fällen der potenziellen Hasskriminalität proaktiv eine Belehrung hierüber erfolgt, die aktenkundig zu machen ist. Aus der Erfahrung der Verfasserin ist es ein weit verbreiteter felsenfester Glaube auf den Polizeidienststellen landesweit, dass eine Anzeigeerstattung ohne Angabe des Geburtsdatums und der Privatanschrift nicht möglich ist – unabhängig davon, ob es sich um ein Antragsdelikt handelt oder nicht.

Zivilrechtliche Rechtsdurchsetzung

Nach wie vor bestehen bei der zivilrechtlichen Rechtsdurchsetzung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen im digitalen Raum gravierende Defizite. Man könnte sogar etwas zynisch konstatieren, dass der Zugang zum Recht auf diesem Gebiet schlicht nicht gewährleistet ist. Die Gründe hierfür liegen teilweise auf der Hand. Aufgrund der hohen Streitwerte im Persönlichkeitsrecht liegt das Kostenrisiko einer Klage auf Unterlassung nahezu immer bei mehreren tausend Euro – pro Äußerung. Diese haben die Nutzer*innen sozialer Netzwerke nur selten übrig, selbst wenn sie durchschnittlich gut verdienen. Auch hier könnte man eine strukturelle Benachteiligung von Frauen diskutieren, die bekanntlich im bundesweiten Durchschnitt weniger verdienen und häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Diese sehen sich aufgrund der Dynamik in sozialen Netzwerken auch in den seltensten Fällen mit nur einer justiziablen Äußerung konfrontiert, sodass sich dieses Kostenrisiko hier schnell ins Unendliche summieren würde. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die Beklagten häufig ebenso gewöhnliche Nutzer*innen sozialer Netzwerke und entsprechend Erstattungsansprüche für Gerichts- und Anwaltskosten kaum vollstreckbar sind. Dies bringt es mit sich, dass die Betroffenen selbst in einem „wasserdichten“ Fall ein erhebliches Solvenzrisiko tragen. Ein weiterer Grund sind die langen Verfahrenszeiten. Bis zum rechtskräftigen Abschluss eines solchen Rechtsstreits können bis zu zwei Jahre vergehen. Zwei Jahre in der analogen Welt entsprechen aus Sicht der Betroffenen etwa 20 Jahren im Internet. Das erscheint den meisten unverhältnismäßig.
Weitere Gründe, die den Zugang zu den Gerichten erschweren, sind weniger offensichtlich. Zunächst einmal braucht es eine*n Beklagte*n. Dies ist häufig schon die erste und oft unüberwindbare Hürde. In dieser Hinsicht hat man bereits versucht nachzubessern, indem man § 14 Abs. 3, 4 TMG geändert hat. Dieser soll es ermögliche, u.a. bei Beleidigungsdelikten Auskunft für die Bestandsdaten der*des ­Accountinhaber*in zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche zu erhalten. Durch das Gesetz zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes wurde aus dem vormaligen Gestattungsanspruch nunmehr ein Verpflichtungsanspruch, der die jeweilige Plattform unmittelbar, d.h. ohne nachgelagertes Verfahren, zur Herausgabe von Daten verpflichten soll. Die Kosten sind noch immer allein von dem*der Verletzten zu tragen (§ 14 Abs. 4 S. 7 TMG).
Diese Änderung greift zu kurz, um effektiv zu sein. Denn sie verkennt, dass in einer Vielzahl der Fälle, die hierbei zu erlangenden Daten für die Betroffenen nicht brauchbar sein werden. Denn es ist mangels gesetzlicher Vorschriften nicht nachprüfbar, ob die Angaben der Plattformen vollständig und richtig sind, und es mangelt zudem an nachgelagerten Auskunftsansprüchen. Praktisch bedeutet dies: Die Auskunft eines Diensteanbieters, dass lediglich eine E-Mailadresse und/oder Telefonnummer des Accountinhabers, nicht jedoch ein Name vorlägen, muss akzeptiert werden. Denn er ist weder verpflichtet, ein Minimum an Daten zu erheben, noch müssen diese verifiziert werden. Dies führt dazu, dass auf allen großen sozialen Netzwerken unzählige Accounts mit wertlosen, pseudonymisierten Daten angelegt werden. Auch eine E-Mailadresse oder Telefonnummer sind für die Antragstellenden nur von geringem Nutzen, da sie weder einen Auskunftsanspruch gegen den E-Mailprovider noch den Telefonanbieter haben. Mit etwas Glück können diese Daten zur Strafanzeige nachgereicht werden und über die Staatsanwaltschaft so eine Identifizierung erfolgen, die dann im Wege der Akteneinsicht nutzbringend sein kann. Diese bedarf jedoch wiederum anwaltlicher Vertretung, deren Kosten erneut von der betroffenen Person zu tragen ist.
Nicht zu verkennen ist auch, dass bei der Durchsetzung von Persönlichkeitsrechten per se erhebliche Rechtsunsicherheiten bestehen und es daher einen „wasserdichten“ Fall kaum geben kann. Die durch die Gerichte zu treffende „Abwägungsentscheidung“ führt regelmäßig zu schwer nachvollziehbaren und höchst unterschiedlichen Entscheidungen, die sich Betroffenen oft nur schwer vermitteln lassen. Es ist daher aus anwaltlicher Sicht nur schwer möglich, Erfolgsaussichten und somit auch Kostenrisiken seriös zu schätzen. Dies gilt auch für die Aussichten in Bezug auf die Geltendmachung einer Geldentschädigung, also einen Geldersatz für die erlittene Persönlichkeitsrechtsverletzung. Dieser ist gesetzlich nicht geregelt und wird aufgrund langjähriger BGH-Rechtsprechung aus dem Grundgesetz abgeleitet. Die Gerichte kommen mit derartigen Sachverhalten meist nur in einem presserechtlichen Kontext in Berührung, wo wirtschaftliche Interessen Rechtsstreitigkeiten zuhauf produzieren. Hier werden regelmäßig hohe Geldentschädigungen zugesprochen, was u.a. daran liegt, dass der Aspekt der „Gewinnabschöpfung“ neben der Schwere der Persönlichkeitsrechtsverletzung einfließt. Außerhalb dieser presserechtlichen Sachverhalte gibt es kaum Rechtsprechung zu diesem Thema und die Gerichte wirken bei der Bemessung von Entschädigungsbeträgen zuweilen unbeholfen. Dies führt zu absurden Zuständen, in denen bei nahezu identischen Sachverhalten ein Gericht eine Geldentschädigung in Höhe von 500 EUR für die Beleidigung als „dumme Kuh“ zuspricht und anderswo eine Betroffene, die als „Fotze“ beschimpft wurde, leer ausgeht.
Diesen Hürden der Rechtsdurchsetzung könnte wenigstens teilweise dahingehend Abhilfe geschaffen werden, dass ein solcher Entschädigungsanspruch gesetzlich geregelt und somit verlässlicher gemacht wird. Außerdem wäre die Einführung der Möglichkeit einer Prozessstandschaft z.B. für Beratungsorganisationen wie HateAid wünschenswert. Auf diese Weise würde die (finanzielle) Unterstützung von Betroffenen digitaler Gewalt niedrigschwelliger ausgestaltet, was allen Beteiligten zugutekäme.

Diensteanbieter verpflichten

Langfristig wird es nicht ausreichen Betroffene zu stärken. Man muss auch die Onlineplattformen mitdenken. In Deutschland geschieht dies schon seit 2017 durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Dieses ist mitnichten perfekt, aber dennoch ein guter Anfang. Durch die jüngst in Kraft getretenen Änderungen wird künftig durch die Einführung eines Widerspruchsverfahrens bei Löschung von Inhalten ein Geburtsfehler des Gesetzes behoben und ein Korrektiv für unberechtigte Löschung geschaffen. Auch wenn sich die Befürchtung eines massenhaften Overblocking nach den bisherigen Evaluationen des Gesetzes nicht bewahrheitet hat, ist die Gefahr dennoch ernst zu nehmen.
Nicht gewagt hat man den Schritt, dem NetzDG uneingeschränkten Vorrang vor der Anwendung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu verschaffen. Es ist nach wie vor so, dass der weit überwiegende Großteil der Löschentscheidungen nicht aufgrund des Gesetzes, sondern der internen Richtlinien getroffen wird. Mit der Folge, dass diese gerichtlich nur schwer überprüfbar sind und auch die weiteren Pflichten des NetzDG nicht greifen. Dies ist bedauerlich und könnte durch eine gesetzlich vorgeschriebene, vorgezogene Prüfung des Verstoßes gegen gesetzliche Vorschriften unterbunden werden.
Nach wie vor unverständlich ist die strikte Beschränkung des Anwendungsbereichs des NetzDG auf Plattformen, die dem Austausch „beliebiger Inhalte“ dienen, § 1 Abs. 1 NetzDG. Dies hat zur Folge, dass zwar soziale Netzwerke hierunter fallen, Gamingplattformen, Berufsportale und pornographische Plattformen jedoch nicht. Faktisch unterscheiden sich diese kaum, da sie den Nutzer*innen längst zum Austausch aller denkbaren Inhalte dienen. Vor allem auf pornografischen Plattformen, die weitgehend unreguliert sind, kommt es immer wieder zu Fällen der bildbasierten sexualisierten Gewalt, die Frauen beinahe exklusiv vorbehalten sind. Hier offenbaren sich zugleich die größten Schutzlücken, wenn z.B. Nacktbilder ungewollt im Netz landen. In diesem Fall sind die Betroffenen darauf angewiesen, dass die jeweilige Plattform ein Kontaktformular zur Verfügung stellt, auf Anfragen überhaupt reagiert und im Fall einer gerichtlichen Auseinandersetzung eine Zustellung im Ausland gelingt. Diese Situation ist zutiefst unbefriedigend, vor allem weil das größte Problem der Frauen in diesem Fall ist, dass die Bilder immer wieder erneut hochgeladen werden. Das bedeutet, dass Finden und Melden der Inhalte wird zur Lebensaufgabe und die Nichterreichbarkeit von Plattformen zum dauerhaften Hindernis.

Gesamteuropäische Lösungen anstreben

Im digitalen Raum haben wir es bereits aufgrund der Tatsache, dass die meisten Onlineplattformen ihren Hauptsitz im Ausland haben, fast immer mit internationalen Bezügen zu tun. Dies bringt verschiedenste Probleme mit sich, z.B. bei der Identifizierung der Täter*innen durch die Strafverfolgung. Die Behörden sind hierfür auf die sporadische freiwillige Mitwirkung der Plattformen oder auch ein fast immer aussichtsloses Rechtshilfeersuchen angewiesen. Strafverfolgung endet so häufig an der Landesgrenze. Für diese und andere Probleme muss auf eine gesamteuropäische Lösung hingearbeitet werden. In Bezug auf die Regulierung der Diensteanbieter ist dies bereits angestoßen worden. Derzeit wird der Digital Services Act verhandelt, der den Regelungsbereich des NetzDG umfasst. Leider liegt bisher der europäische Fokus kaum auf der Beseitigung von Hasskommentaren und Stärkung der Betroffenen. Stattdessen läuft es darauf hinaus, dass man durch ein kompliziertes Aufsichtsregime und Compliancepflichten Risiken vorbeugen will. Zu glauben, dass dies digitale Gewalt gänzlich eliminieren wird, ist nach Überzeugung der Verfasserin naiv. Hier ist es auch die deutsche Verantwortung sich dafür einzusetzen, dass Betroffene gegenüber den übermächtigen Plattformen gestärkt werden und wir zudem nicht riskieren, hinter das Schutzniveau des NetzDG zurückzufallen.

  1. Reset. Internet for Democracy / Pollytix – strategic research: Hass in Sozialen Medien. Bundesweite repräsentative Befragung von wahlberechtigten Internetnutzer:innen im Juli 2021, https://pollytix.de/veranstaltung/umfrage-zu-hass-im-netz/.
  2. Plan International Deutschland e.V.: „Free to be online? Erfahrungen von Mädchen und jungen Frauen mit digitaler Gewalt“, Mädchenbericht 2020, www.plan.de.
  3. Anja Klaßen, Daniel Geschke, hrsg. vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ): #Hass im Netz: Wahrnehmung, Betroffenheit und Folgen von Hate Speech im Internet aus Sicht der Thüringer Bevölkerung,: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung, Berlin 2019, https://www.idz-jena.de/forschung/hass-im-netz-eine-bundesweite-repraesentative-untersuchung-2019/.