STREIT 4/2018
S. 160
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Bericht)
Schwere Gewalt und Mord als Folge staatlicher Untätigkeit
Bericht zum Urteil im Fall Talpis versus Italy (EGMR 41237/14 vom 02.03.2017)1
Am 2. Marz 2017 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Urteil, dass die italienischen Behörden das Leben und die Gesundheit von Elisaveta Talpis und ihrem Sohn nicht ausreichend geschützt hätten, und verurteilte das Land zu einer Schadenersatzzahlung.
Die Vorgeschichte: Am frühen Morgen des 26. November 2013 wurde Elisaveta Talpis, rumänische Staatsangehörige, in ihrer Wohnung in Italien vom Ehemann durch mehrere Messerstiche in die Brust schwer verletzt. Der gemeinsame Sohn, der seine Mutter schützen wollte, wurde dabei vom Vater erstochen. Dies, obwohl vorangegangene Gewalttätigkeiten des Mannes den Behörden im italienischen Remanzaccio bekannt waren, da sich Frau Talpis mehrmals Hilfe suchend an die Polizei gewandt hatte (siehe EGMR: 2017b).
Im Juni 2012 ging Frau Talpis das erste Mal zur Polizei und brachte vor, dass der Ehemann sie und die gemeinsame Tochter geschlagen habe. Der Vorfall und ein Bericht über die Verletzungen von Frau Talpis wurden in den polizeilichen Tagesbericht aufgenommen, ohne dass weitere Maßnahmen getroffen wurden. Am 19. August 2012 wurde Frau Talpis vom Ehemann mit einem Messer attackiert und gezwungen, ihm zu folgen, um Geschlechtsverkehr mit seinen Freunden zu haben. Frau Talpis bat einen Polizisten auf der Straße um Hilfe. Herr Talpis erhielt eine Geldstrafe wegen unerlaubten Waffenbesitzes und Frau Talpis den Rat, nach Hause zu gehen. Sie ging stattdessen in ein Spital, wo eine Verletzung am Kopf und mehrere Hämatome am Körper festgestellt wurden. Die darauf folgenden Monate verbrachte Frau Talpis in einem Frauenhaus, das sie aus Platz- und Ressourcenmangel jedoch nach drei Monaten wieder verlassen musste. Nach einiger Zeit auf der Straße und bei Freunden fand sie schließlich eine Arbeit und mietete sich eine eigene Wohnung. Der Ehemann übte weiterhin psychischen Druck auf sie aus.
Am 25. November 2013 rief Elisaveta Talpis nach einem Streit mit dem Ehemann erneut die Polizei. Gegen fünf Uhr früh des 26. November 2013 drang er – mit einem Messer bewaffnet – in die Wohnung von Frau Talpis ein, verletzte sie schwer und ermordete den gemeinsamen Sohn. Der Täter wurde im Januar 2015 von einem italienischen Gericht wegen Mordes an seinem Sohn und versuchten Mordes an seiner Frau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Im Mai 2014 brachte Elisaveta Talpis, vertreten durch eine Anwältin, eine Beschwerde beim EGMR in Straßburg ein. […]
In seinem Urteil vom 2. März 2017 stellte der EGMR eine Verletzung der Artikel 2, 3 und 14 in Verbindung mit Artikel 2 und 3 der Konvention fest (siehe EGMR: 2017b). Das Nicht-Ergreifen von sofortigen Maßnahmen nach Anzeigeerstattung führte laut dem Gerichtshof zu einer Situation völliger Straflosigkeit, was in wiederholter Gewalt und schlussendlich in Mord und Mordversuch endete. Es wurde keine Schutzverfügung gegen den gewalttätigen Ehemann erlassen, eine Gefährlichkeitseinschätzung des wiederholt gewalttätigen Mannes wurde verabsäumt und von der Anzeigeerstattung im September 2012 bis zur polizeilichen Einvernahme von Frau Talpis vergingen ganze sieben Monate. Auch als Frau Talpis in der Nacht des 25. November 2013 die Polizei verständigte, wurden seitens dieser keinerlei Maßnahmen zum Schutz der Frau getroffen, obwohl die Gewalttätigkeiten des Mannes bereits polizeibekannt waren.
Das gewalttätige Verhalten des Ehemannes gegenüber Frau Talpis qualifizierte der EGMR als „unmenschliche Behandlung“ im Sinne des Artikel 3 der Konvention und beurteilte die Passivität der italienischen Justiz im Hinblick auf das Strafverfahren als unvereinbar mit diesem Konventionsrecht. Diese Inaktivität der Behörden wurde von den Richtern außerdem als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot gewertet, da es sich in dem Fall um geschlechtsbasierte Gewalt gegen Frau Talpis handelte.
Der Gerichtshof betonte in diesem Zusammenhang das Versäumnis des Staates, Frauen angemessen vor häuslicher Gewalt zu schützen. Italien wurde zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 30.000 Euro an immateriellem Schaden und 10.000 Euro an Kosten und Ausgaben, die dem überlebenden Opfer erwachsen waren, verurteilt.
Das Urteil im Fall von Elisaveta Talpis und ihrem Sohn ist das jüngste Urteil, das der Gerichtshof im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt fällte.
- Auszug aus dem Tätigkeitsbericht der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie, Wien 2017, S. 32 ff., Verfasserin: Verena Tadler. ↩