STREIT 2/2024
S. 96-98
Stellungnahme zu Eckpunkten für eine Kindschaftsrechtsreform
Die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF) begrüßt grundsätzlich eine Reformierung und Modernisierung des Kindschaftsrechts und insbesondere, dass mit der Reform gewaltbetroffene Eltern und ihre Kinder besser vor Gewalt geschützt werden sollen.
Besonders erfreulich ist, dass Familiengerichte künftig im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht in Umgangsverfahren eine umfassende und systematische Ermittlung von Anhaltspunkten für häusliche Gewalt gegenüber dem Kind und dem anderen Elternteil sowie eine Risikoanalyse vornehmen sollen. Wir befürworten zudem die Klarstellung, dass ein gemeinsames Sorgerecht bei Gewalt gegenüber dem Kind regelmäßig nicht in Betracht kommt. Ebenso halten wir die vorgeschlagenen Mitentscheidungsbefugnisse im Sorge- und Umgangsrecht für Kinder ab dem 14. Lebensjahr für wichtig und sinnvoll.
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als eigene Gewaltform
Wir freuen uns, dass der Gesetzgeber mit dieser Gesetzesreform den Gewaltschutz in den Fokus nimmt. Dabei darf jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass Kinder nicht nur Mitbetroffene von häuslicher Gewalt gegen ein Elternteil sein können, sondern häufig auch selber von (sexualisierter) Gewalt im familiären Kontext betroffen sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexualisierte Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren und es ist davon auszugehen, dass ca. 25 % dieser Gewalt innerhalb der engsten Familie stattfindet.1
Der Staat ist verpflichtet, Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt, die immer eine Gefährdung des Kindeswohls darstellt, zu schützen. Aus der Praxis der Fachberatungsstellen, die auf sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend spezialisiert sind, wissen wir jedoch, dass es in Fällen innerfamiliärer sexualisierter Gewalt eine große Diskrepanz zwischen den gesetzlichen Vorgaben und der familiengerichtlichen Praxis gibt. Häufig werden Verdachtsfälle innerfamiliärer sexualisierter Gewalt nicht umfassend ermittelt, vorschnell verworfen oder nicht als Gefahr für das Kindeswohl eingestuft, etwa wenn es keine strafrechtliche Verurteilung gibt oder Gewaltvorwürfe in der negativen Beziehungsdynamik verortet werden. Insbesondere Mütter, die einen entsprechenden Verdacht äußern oder daran festhalten, werden in dieser Logik oftmals vorschnell als bindungsintolerant oder sogar selbst kindeswohlgefährdend eingeordnet. Teilweise wird sogar in Fällen nachgewiesener sexualisierter Gewalt weiterhin (begleiteter) Umgang mit Täter*innen angeordnet. Den zuständigen Fachkräften im Kinderschutz fehlt häufig die erforderliche Sensibilisierung und spezifisches Wissen zu sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend.
Wir sehen daher großen Reformbedarf im Sorge- und Umgangsrecht. Die Eckpunkte des Bundesjustizministeriums weisen diesbezüglich noch einige Lücken auf.
Reformbedarf im Sorge- und Umgangsrecht
Um Kinder, die innerhalb der Familie sexualisierte Gewalt erleben, wirksam zu schützen, erachten wir folgende Punkte für besonders wichtig:
Kindeswohl vor Umgangsrecht: Es muss klargestellt werden, dass bei der Ermittlung des Kindeswohls und der Aufklärung von Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt andere Maßstäbe als im Strafrecht gelten. Auch wenn kein eindeutiger Nachweis der Gewalt erbracht werden kann, sind beim Vorliegen begründeter bzw. erhärteter Verdachtsmomente für sexualisierte Gewalt gegen ein Kind Schutzmaßnahmen wie die Einschränkung oder der Ausschluss des Umgangs geboten, wenn und solange eine Gefährdung des Kindeswohls nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann. Das Kindeswohl und der Schutz vor möglicher Gewalt muss dabei stets Vorrang vor dem elterlichen Recht auf Umgang haben. Es sollte klargestellt werden, dass in Fällen sexualisierter Gewalt ein (auch begleiteter) Umgang in der Regel nicht dem Kindeswohl entspricht und dass die Gefahr sexualisierter Gewalt stets eine schwerwiegendere Kindeswohlgefährdung darstellt als der (zeitweise) Kontaktabbruch zu einem Elternteil.
Anpassung der Wohlverhaltensklausel: Die Verpflichtung zur Förderung des Verhältnisses des Kindes zum jeweils anderen Elternteil, § 1684 Abs. 2 BGB, darf in Fällen innerfamiliärer sexualisierter Gewalt keine Anwendung finden. Die Äußerung eines Verdachts auf sexualisierte Gewalt gegen ein Kind durch das andere Elternteil führt aktuell häufig dazu, dass dem verdachtsäußernden Elternteil die Beeinträchtigung der Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil und somit ein Verstoß gegen die sog. Wohlverhaltensklausel vorgeworfen wird. Insbesondere wenn Kinder in diesem Kontext den Umgang mit dem beschuldigten Elternteil ablehnen, wird oftmals dem verdachtsäußernden Elternteil Bindungsintoleranz oder Manipulation des Kindes vorgeworfen. Um Kinder wirksam vor sexualisierter Gewalt zu schützen, darf jedoch die Äußerung eines solchen Verdachts nicht nachteilig ausgelegt werden. Es muss klargestellt werden, dass beim Vorliegen begründeter bzw. erhärteter Verdachtsmomente für innerfamiliäre sexualisierte Gewalt keine Verpflichtung zur Förderung des Verhältnisses des Kindes zum anderen Elternteil besteht und dass wissenschaftlich nicht belegte Konzepte wie „Bindungsintoleranz“ und die sog. Eltern-Kind-Entfremdung in familiengerichtlichen Verfahren keine Anwendung finden dürfen.2
Fortbildungspflicht: Spezialisierte Fachberatungsstellen berichten aus ihrer Praxiserfahrung seit langem, dass es an den Gerichten sowohl an spezifischem Wissen zu sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend (Täterstrategien, Mütter als Täterinnen, sexualisierte Gewalt durch Geschwister etc.), als auch an den besonderen Anforderungen einer Vernehmung mit einem gewaltbetroffenen Kind fehlt. Für alle am familiengerichtlichen Verfahren Beteiligten (Richterinnen, Verfahrensbeistände, Sachverständige, Jugendamtsmitarbeiterinnen) müssen daher verbindliche Aus- und Fortbildungen zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder gesetzlich verankert werden.3 Zur Umsetzung dieser Verpflichtung muss die Bereitstellung eines umfassenden und flächendeckenden Fortbildungsangebots sichergestellt werden. In die Qualitätsanforderungen und Eignungskriterien für Verfahrensbeistände müssen Kenntnisse über sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt aufgenommen werden.
Bessere Ausstattung: Für eine sorgfältige und am Kindeswohl ausgerichtete Durchführung familienrechtlicher Verfahren muss Familienrichterinnen mehr Zeit zur Bearbeitung der Verfahren eingeräumt werden und die Vergütung von Verfahrensbeiständen sowie von Rechtsanwältinnen im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe muss erhöht werden. Damit die Jugendämter ihre Wächterrolle über das Kindeswohl wahrnehmen können, sind sie mit ausreichenden personellen Ressourcen auszustatten.
Risiken der vorgeschlagenen Neuerungen
Das Anliegen des Gesetzgebers, die Autonomie und Gestaltungsmöglichkeiten von Eltern zu stärken, teilen wir grundsätzlich. Bei einigen der geplanten Regelungen sehen wir jedoch das Risiko, dass der Schutz vor häuslicher und sexualisierter Gewalt nicht ausreichend berücksichtigt wird.
Kein angeordnetes Wechselmodell: Das Wechselmodell kann für viele Familien eine dem Kindeswohl entsprechende und gut funktionierende Betreuungsform darstellen. In konflikthaften Elternbeziehungen und insbesondere in Fällen häuslicher oder sexualisierter Gewalt ist aber eine gute Kommunikation und Kooperation, die für die Umsetzung des Wechselmodells unabdingbar ist, oftmals nicht möglich und nicht zumutbar. Eine richterliche Anordnung des Wechselmodells gegen den Willen eines Elternteils kann daher dem Kindeswohl nicht dienen.
Kindeswohlgefährdungen ausschließen: Für viele Familien kann die Ausweitung und Entbürokratisierung von Sorge- und Umgangsvereinbarungen eine Entlastung bieten. Es muss jedoch sichergestellt sein, dass die geplanten Änderungen stets in erster Linie am Kindeswohl ausgerichtet sind, mit einem besonderen Fokus auf die Risiken bei sexualisierter Gewalt.
Sowohl die Möglichkeit einer vollstreckbaren Umgangsrechtsvereinbarung durch Beurkundung als auch die Vereinbarung der Alleinsorge eines Elternteils beim Jugendamt lehnen wir ab. Die Möglichkeit, solche Vereinbarungen ohne Einbeziehung des Familiengerichts zu schließen, birgt die Gefahr, dass vor dem Hintergrund ungleicher Machtverhältnisse in der Beziehung und unter Druckausübung durch ein Elternteil vorschnell Vereinbarungen geschlossen werden, die nicht dem Kindeswohl entsprechen. Insbesondere Kinder, die in der Familie sexualisierte Gewalt erleben, können so nicht ausreichend geschützt werden.
Weiterhin birgt aus unserer Sicht die Ausweitung von sorge- und umgangsrechtlichen Befugnissen für Dritte das Risiko, dass gewaltausübende Personen engeren Kontakt zum Kind herstellen können. So kann ein eigenes Recht von Kindern auf Umgang mit Großeltern und Geschwistern in Fällen innerfamiliärer sexualisierter Gewalt ein Einfallstor für fortlaufenden Kontakt mit der gewaltausübenden Person darstellen – etwa, wenn durch den Umgang mit Großeltern der Kontakt zum gewaltausübenden Elternteil wieder ermöglicht wird, oder wenn sexualisierte Gewalt durch Großeltern oder Geschwister ausgeübt wird und einem Elternteil, das den Umgang mit diesen gewaltausübenden Personen verhindern will, diese Verweigerung nachteilig ausgelegt wird. Eine ähnliche Gefahr sehen wir auch bei der geplanten Einführung eines „kleinen Sorgerechts“, wenn etwa durch Stiefeltern sexualisierte Gewalt ausgeübt wird. Gleichzeitig wissen wir, dass Großeltern, Geschwister oder Stiefeltern wichtige Unterstützungspersonen für gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche sein können. Wichtig ist daher vor allem, dass Verdachtsanzeigen umfassend nachgegangen wird, um Kindeswohlgefährdungen ausschließen zu können. Dafür ist die verpflichtende Einbeziehung von Jugendamtsmitarbeiter*innen und Verfahrensbeiständen, die spezialisiert zum Kinderschutz arbeiten und zu Dynamiken sexualisierter Gewalt geschult sind, erforderlich. Zur Abklärung von Verdachtsmomenten sexualisierter Gewalt sollte zudem die Expertise einer spezialisierten Fachberatungsstelle herangezogen werden.
Fazit
Kein ausreichender Schutz von Kindern vor innerfamiliärer sexualisierter Gewalt
Insgesamt werden die vom Bundesjustizministerium vorgelegten Eckpunkte den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt im familiären Kontext erfahren mussten und erfahren, nicht gerecht. Daher plädiert die BKSF dafür, die Reform des Kindschaftsrechts noch einmal einer genauen Prüfung mit einem Fokus auf innerfamiliäre sexualisierte Gewalt zu unterziehen. Das Kindeswohl und der Schutz vor Gewalt muss dabei stärker im Mittelpunkt stehen. Gerne stellen wir unser Fachwissen allen Beteiligten in dem Gesetzgebungsverfahren jederzeit zur Verfügung.
Berlin, 15.02.2024
Download unter: www.bundeskoordinierung.de
* BKSF – Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend, in Trägerschaft von: Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e.V., in Kooperation mit: bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe Frauen gegen Gewalt e.V. sowie BAG FORSA – Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen e.V., gefördert vom BMFSFJ.
- Vgl. Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2023): Zahlen und Fakten. Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. ↩
- Vgl. Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 17. November 2023 – 1 BvR 1076/23, Rn. 34 – zur sog. Eltern-Kind-Entfremdung (Parental Alienation Syndrom). ↩
- Auch Artikel 5 der Lanzarote-Konvention, die Deutschland am 18.11.2015 ratifiziert hat, verpflichtet Vertragsparteien dazu, die Sensibilisierung von Personen, die im Kinder- und Jugendschutz sowie der Justiz arbeiten, zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern sicherzustellen. ↩