STREIT 2/2024

S. 84-85

VG Magdeburg, §§ 4, 3e AsylG

Subsidiärer Schutz für alleinstehende Inderin mit zwei kleinen Kindern

1. Eine alleinstehende Frau mit zwei kleinen Kindern erhält in Indien landesweit keinen wirksamen staatlichen Schutz vor Gewalt und sexuellen Übergriffen.
2. Von der Möglichkeit einer selbständigen Existenzsicherung einer alleinstehenden Frau mit zwei Kindern ist aufgrund der Vielfalt von Diskriminierungen, sozialen Stigmatisierungen und Stereotypen ihr gegenüber nicht auszugehen.
(Leitsätze der Redaktion)
Urteil des VG Magdeburg vom 09.10.2023, 5 A 40/22 MD

Zum Sachverhalt:
Bei den Klägerinnen handelt es sich um eine indische Staatsangehörige (Klägerin zu 1) und zwei Kinder, die 2012 und 2018 geboren sind. Die Klägerin zu 1) hat von ihrem drogen- und spielsüchtigen Ehemann und Vater der beiden Kinder Gewalt erfahren und es kam zur Trennung. Mutter und Schwester der Klägerin zu 1) leben mittlerweile nicht mehr in Indien, der in Indien lebende Bruder des Ehemanns hat den Kontakt zu den Klägerinnen abgebrochen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Beklagte) lehnte den Asylantrag der Kläger*innen vollumfänglich ab.

Aus den Gründen:
Die zulässige Klage […] hat in der Sache Erfolg […]. Den Klägern droht im Falle der Rückkehr nach Indien eine erniedrigende Behandlung.
Die Klägerin zu 1) hat ihren in Italien lebenden Ehemann verlassen. Sie hat deshalb im Falle der Rückkehr nach Indien damit zu rechnen, dass sie von den Familienangehörigen ihres Ehemannes verfolgt wird, weil die Trennung der Klägerin zu 1) von ihrem Ehemann von dessen Familienangehörigen als eine Verletzung der Familienehre angesehen wird. Schutz vor Übergriffen durch die Familienangehörigen des Ehemannes der Klägerin zu 1) hat sie nicht zu erwarten.
Aufgrund tief verwurzelter sozialer Traditionen bleibt die soziale Realität von Frauen in Indien von systematischer Benachteiligung und Diskriminierung bestimmt. Materielle Benachteiligung, Ausbeutung, Unterdrückung und fehlende sexuelle Selbstbestimmung prägen häufig den Alltag von Frauen. Gewalt, Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gegen Frauen sind in Indien in nahezu allen Landesteilen und quer durch alle gesellschaftlichen Schichten weiterhin ein großes Problem (zum Vorstehenden: Auswärtiges Amt, Lagebericht Indien vom 05.06.2023 Seite 12 ff.). Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund hat die Klägerin zu 1) als alleinstehende Frau mit zwei kleinen Kindern keinen wirksamen Schutz vor Übergriffen durch die Polizei oder andere staatliche Stellen zu erwarten.
Soweit die Beklagte im angefochtenen Bescheid mit ihren Ausführungen zum Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG annehmen wollte, die Klägerin zu 1) könne auf den Beistand ihrer Verwandten in Indien zurückgreifen, geht dies fehl. Der Vater der Klägerin zu 1) ist bereits 2015 verstorben. Die Mutter der Klägerin lebt ebenso wie ihre Schwester seit […] 2021 in […] [außerhalb von Indien] [und] ihr in Indien lebender Bruder hat den Kontakt zur Klägerin zu 1) abgebrochen, als er erfahren hatte, dass sich die Klägerin zu 1) von ihrem Ehemann getrennt hatte.

Die Kläger haben auch nicht die Möglichkeit, der Verfolgung an ihrem Heimatort zu entgehen, indem sie sich in einen anderen Landesteil Indiens außerhalb ihrer Herkunftsregion begeben. Zwar wird nach den §§ 3e Abs. 1, 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG dem Ausländer subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Heimatlandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann. Dies setzt aber daneben auch voraus, dass er dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin nicht vor. Vernünftigerweise kann man von der Klägerin zu 1) nur erwarten, dass sie sich in einem anderen Landesteil Indiens niederlässt, wenn sie dort nicht nur vor Gefahren sicher ist, sondern dort auch die Möglichkeit hat, auf der Grundlage eigenen Erwerbseinkommens für sich und ihre Kinder, die Kläger zu 2) und 3), eine wenn auch bescheidene Existenz aufzubauen. Diese Möglichkeit haben die Kläger nicht.
Wie oben ausgeführt, sind alleinstehende Frauen in Indien aufgrund tief verwurzelter sozialer Traditionen in vielfältiger Weise von systematischer Benachteiligung und Diskriminie[rungen] betroffen. Zwar gibt es auch Berichte über Beispiele von Frauen, die eigene Unternehmen in verschiedenen Sektoren, wie der Luftfahrt oder der Abfallwirtschaft oder im Bankensektor gegründet haben (zitiert nach ACCORD, Anfragebeantwortung zu Indien v. 03.11.2022, S. 1). Dabei indes handelt es sich um Ausnahmeerscheinungen, die mit den gemeingewöhnlichen Lebensverhältnissen in Indien nichts zu tun haben. Bei der Wiederansiedlung alleinstehender Frauen mit Kindern stoßen diese in Indien auf vielfältige Schwierigkeiten wegen der Notwendigkeit Details über ihre Ehemänner oder Väter preiszugeben, um Zugang zu staatlichen Leistungen oder Wohnraum zu bekommen (UK Home Office, zitiert nach ACCORD, a.a.O., S. 2). Alleinstehende Frauen sind vielfältigen Hindernissen und Vorurteilen in jeder Facette ihres persönlichen und beruflichen Lebens ausgesetzt.
Unverheiratete, geschiedene oder verwitwete Frauen werden gedemütigt, belästigt, über ihr Leben befragt. In ihre Privatsphäre wird beständig eingedrungen. Sie sind mehr oder weniger Objekte des Interesses, des Bedauerns oder des Klatsches. Alleinstehend zu bleiben ist in der indischen Gesellschaft und Kultur ein Tabu. Alleinstehende Frauen sind einer Vielfalt von Diskriminierungen, sozialen Stigmatisierungen und Stereotypen [ausgesetzt] und werden sozial an den Rand gedrängt (vgl. ACCORD, a.a.O. S. 2).
Vor diesem Hintergrund ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 1) nach ihrer Rückkehr nach Indien in der Lage sein würde, sich zu integrieren und am indischen Arbeitsmarkt zu behaupten. Hinzukommt, dass von ihr als alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern im Alter von 11 und 5 Jahren die Aufnahme einer Vollzeitarbeitsstelle kaum erwartet werden kann, weil die Klägerin zu 1) auch nicht über die finanziellen Mittel verfügt, für die Zeit, in der sie einer Arbeit nachzugehen hätte, eine Kraft zu beschäftigen, um eine angemessene Betreuung der Kinder sicherstellen zu können. [...]